Als alter Idealist halte ich Schillers Briefe «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» von 1795 im Kern immer noch für aktuell. Kunst macht keine besseren Menschen, gewiss nicht, auch Schiller hegt da keine Illusionen, aber sie kann Voraussetzungen schaffen für politische und gesellschaftliche Besserungen. Bin immer wieder überrascht, dass Schiller seine Zeit ähnlich scharfkritisch beschreibt wie wir die unsere. Natürlich hört es sich heute ziemlich schräg an, wenn einer vorschlägt, politische Probleme durch Ästhetik zu lösen, «weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert».
Denn die Aufklärung des Verstandes reiche nicht, meint Schiller, «weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muss geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zur Verbesserung der Einsicht erweckt.» Die Kultivierung der Sinne in jedem einzelnen Menschen ist das Programm.
Das moderne Subjekt liege mit sich selbst im Widerspruch. Allein die Kunst könne die im Widerstreit stehenden geistigen und sinnlichen Kräfte des Menschen harmonisieren. Anders als die Wissenschaft, die an die Vernunft gerichtet ist, spreche die Kunst Vernunft und Sinnlichkeit nicht gesondert an, sondern beide zugleich. Warum die Kunst? Weil das Kunstwerk keinen Zweck hat, weil es autonom ist, «lebende Gestalt», weil es seine ästhetische Struktur mit sinnlichen Qualitäten vereinigt und so den Betrachter, den Leser, den Hörer erfahren lässt, dass jener harmonische Ausgleich von Vernunft und Sinnlichkeit möglich ist. Weil die Kunst aus der Verbindung von Phantasie, des «Möglichen», und Vernunft, des «Notwendigen», ein Ideal des selbstbestimmten Menschen erzeugt, der in der Entfaltung seiner Anlagen und Fähigkeiten immer auch die Sache der Gesellschaft befördert. (Aus der Vorlesung zur Kasseler Grimm-Professur 2004, «Deutschland, ein Schlaraffenland – oder warum Friedrich Schiller Joschka Fischer einen Barbaren nennen würde».)