In Abbas Khiders Roman «Ohrfeige», den ich 2017 in der Laudatio für den > ADELBERT-VON-CHAMISSO-PREIS besonders hervorgehoben habe, wird eine Frau Schulz, die für uns alle steht, Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde, in ihrem Büro vom Erzähler gefesselt, mit einem Klebeband zum Schweigen gebracht und zum Zuhören gezwungen, weil dieser sich «einfach mal von Mensch zu Mensch in Ruhe unterhalten» will. Die Frechheit dieses Einfalls scheint produktiver als die üblichen, nützlichen Reportagen über Asylsuchende und Flüchtlinge, hier ist ein Dichter am Werk. Ein formbewusster Autor, der dank dieses Einfalls die uralte europäische Form des Schelmenromans wiederbelebt.
Ob Frau Schulz wirklich eine Ohrfeige bekommt, bleibt offen. Sicher ist nur, dieser Roman ist nicht für feige deutsche Ohren geschrieben. Er verrät, dass es ohne Lügen und Betrügen, ohne das riesige Netzwerk versteckter Helfer kein Durchkommen, kein Überleben, kein Bleiben gibt. Zu den Risiken und Nebenwirkungen der Literatur gehört das Aufdecken von Verlogenheiten. Abbas Khider deckt hier, mit rücksichtslosem Witz, die große Verlogenheit auf, dass die Bundesrepublik seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland ist, aber kein Einwanderungsland sein will. Seit Helmut Kohl verfügt hat, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, obwohl sie längst eines war, seit die CSU Frau Merkel gezwungen hat, das von ihr zuerst begrüßte, allgemein als vernünftig erachtete Einwanderungsgesetz der rot-grünen Koalition von 2002 im Bundesrat ablehnen zu lassen, ist diese Verlogenheit gigantisch gewachsen.
Deutschland braucht Einwanderer, bietet aber nur das Nadelöhr politischen Asyls. Statt eines Einwanderungsgesetzes mit einladenden, begrenzenden und oberbegrenzenden Regeln wird jeder Zufluchtsuchende grundsätzlich unter Verdacht gestellt, oft zum Lügen genötigt oder gezwungen, seine Leidensgeschichten so zu erzählen, dass sie zu den Asylparagraphen passen. Khider erzählt, wie Schlawiner sich das zunutze machen und wie ehrliche Leute daran scheitern. Wie viel Glück oder Pech da mitspielen, meistens Pech. Wie kompliziert es ist, seine jugendliche Energie und Intelligenz produktiv in dieses Land einzubringen. Wie entmutigend, dass bester Wille, Ehrlichkeit, Arbeitslust, Lernlust, ja, auch Deutschlernlust und Hunger auf Demokratie nicht helfen. Wie schmerzhaft es ist, stattdessen ein, zwei, drei oder mehr Jahre in einem Milieu des Verdachts und der Angst zu leben.
Seit den frühen neunziger Jahren die Frage: Wie lange wird es noch dauern, bis die Mehrheit der Deutschen merkt, wie dumm Helmut Kohl (und Angela Merkel) und die Mehrheit der Deutschen in der Einwanderungsfrage gewesen sind?