Ausreichend

Er war vierzehn und konnte nichts. Ein schlechter Schüler, am Gymnasium Bad Hersfeld (> ALTE KLOSTERSCHULE) zweimal knapp dem Sitzenbleiben entronnen, nun der Versuch an einer neuen Schule, Melanchthon-Schule in Steinatal, Kreis Ziegenhain, ein Internat. Schnell war klar, auch hier lag er weit unter dem Klassendurchschnitt. Vor allem in den Hauptfächern Latein, Griechisch, Mathematik

Die ersten Monate im Steinatal, sie hätten eine Katastrophe für ihn werden können – aber das Gegenteil geschah, er empfand sie als Befreiung. Er fühlte sich trotz seiner hundert Schwächen akzeptiert und vielleicht auch mit diesen Schwächen akzeptiert, als stiller Sonderling, der weder positiv noch extrem negativ auffiel. Viele erkannten seine Hilflosigkeit deutlicher als er und ermunterten ihn: die meisten Lehrer, die Erzieher, die Mitschüler, die Mitbewohner und sogar der Direktor. Häme und Hänseln hat es allenfalls spielerisch gegeben. Sadistische Rituale der Demütigung, die seit dem «Törleß» in allen Internatsromanen beschrieben werden, fanden zu seiner Steinataler Zeit und in seiner Altersgruppe nicht statt – er jedenfalls hat nichts davon mitbekommen. Und wegen dieser vielen Ermunterungen und trotz seiner schlechten Leistungen hat er diese Zeit als Befreiung erlebt – eine Befreiung vom strengen Elternhaus.

Überall «ausreichend» mit Minuszeichen, darum wurde er nicht versetzt, aber das war keine Schande. Der Beschluss, ihn die Obertertia noch einmal wiederholen zu lassen, war einvernehmlich zwischen den Lehrern und den Eltern und ihm gefasst worden. Jedenfalls wurde ihm die Sache so dargestellt, als hinge die Nichtversetzung auch von seiner Zustimmung ab. Man hätte ihn mit Ach und Krach versetzen können, aber es schien besser, ihm den Schulalltag durch die Wiederholung des Stoffes zu erleichtern. Eine vernünftige Entscheidung, fand auch er. Im Internat stand außerdem der Aufstieg von Gruppe oder Stube «Helgoland» mit etwa zwanzig Schülern in die Stube «Atlantis» mit nur acht

Ein Vierteljahr zuvor waren seine Eltern mit den drei Geschwistern von Wehrda umgezogen nach Korbach in Waldeck in der nordwestlichen Ecke Hessens. Hier gab es ein altsprachliches Gymnasium, und am liebsten hätten ihn seine Eltern sofort dahin wechseln lassen – vor allem der Kosten wegen. Er sträubte sich mit allen Kräften, wehrte sich in heftigen Briefen, er wollte im Steinatal bleiben. Nichts zog ihn in die häusliche Enge zurück, und er spürte, wie er immer mehr profitierte von den Anregungen und Gesprächen im Internat und von den relativ freundlichen, engagierten Lehrern in der Schule. Es kam zum Kompromiss: Ein halbes Jahr durfte er noch bleiben, ein halbes Jahr mit der Erleichterung der Wiederholung des Obertertia-Stoffs, ein halbes Jahr in «Atlantis».

Der Sitzenbleiber war also nicht unglücklich, als er mit dem Fahrrad, das Nicht-versetzt-Zeugnis im Gepäck, am Beginn der Osterferien Richtung Korbach startete. Beim Verabschieden sagte ihm ein Mitschüler: «Take it easy!» Die drei Wörter machten ihn fröhlich, er rief sie immer wieder laut vor sich hin auf den Landstraßen und Bundesstraßen, auf der langen Strecke über Ziegenhain, Jesberg, Zwesten, Bad Wildungen, Waldeck, Sachsenhausen. Je näher er Korbach kam, desto weniger leicht ging ihm dies Motto von den Lippen.

Das halbe Jahr nutzte er wie ein ganzes. Die Schulleistungen wurden besser, immer noch nicht gut, aber doch so, dass sie ihm den Alpdruck des ewigen Versagers nahmen. Aus dem Schüler mit dem schlechten Ausreichend war immerhin ein Schüler mit einem ordentlichen Ausreichend geworden. Dank dieser Erleichterung konnten sich die

Gegen seinen Willen hatte er das Internat zu verlassen, wie der Kompromiss mit den Eltern es befahl, im Herbst 1958. Jungen weinen nicht, hatte er gelernt. Aber getrauert hat er lange. Auch am neuen Ort gab es kein Feld, auf dem er besser war als andere und sich etwas Anerkennung holen konnte. Er spielte immer noch kein Instrument, war im Sport bei den Schwachen und auch sonst nach wie vor weder stark noch klug, noch schnell. Also blieb er an den Wörtern hängen, ihm blieben nur die Wörter, das Lesen, die Sprache, das Schreiben. Auf dem Gymnasium (> ALTE LANDESSCHULE) wurden die Noten etwas besser, aber nachdem er sich entschieden hatte, möglichst viel seiner Freizeit für das Schreiben und die Arbeit an der Schülerzeitung (> AUTOGRAPHEN) herzugeben, tat er für die Schule nur noch das Nötigste. Auf die Noten oder gar den Notendurchschnitt kam es anno 1963 nicht an, nur auf das Bestehen des Abiturs, so begnügte er sich mit einem Ausreichend in den meisten Fächern.