An einem freien Abend in Warschau ging ich kurzentschlossen in die Oper. Puccinis «Turandot», nun ja, warum nicht mal eine alte chinesische Geschichte in italienischer Sprache von Polen gesungen zum Preis einer Kinokarte. Die Warschauer Oper ist die größte oder eine der größten Europas. Nachdem deutsche Soldaten auch die Oper zu Schutt geschossen hatten, wurde in den fünfziger Jahren ein prachtvoller Prestigebau errichtet, der gemessen an den architektonischen Schauerlichkeiten jener Epoche noch ganz erträglich wirkt. Nach der Kartenkontrolle, in der zweiten Vorhalle, von der mächtige Treppen zu weiteren Wandelhallen vor dem Zuschauerraum hinaufführen, stießen die Besucher auf zwei nagelneue Autos. Zwei silberhelle Volvo S 80, die symmetrisch rechts und links vor den Treppengeländern geparkt waren und mit offenen Türen zur Besichtigung einluden.
Ist das nun, schoss es mir durch den Kopf, ein Gipfel an Obszönität, oder bin ich hier bereits im nächsten Jahrtausend? Ist so etwas nur in den einst sozialistisch genannten, nun unverblümt rohkapitalistischen Ländern möglich? Ist hier eine neue Schamschwelle überschritten, oder regen sich bei mir wieder nur die Reste eines altmodischen Protestantismus? Sponsoren hin, Sponsoren her, das ist auf den ersten Blick ein alter Hut. Es regt vielleicht noch manchen auf, wenn am Turm der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, um dessen Reparatur zu finanzieren, ein Pariser Haarwaschmittelhersteller Werbung treibt. Aber schon nicht mehr, wenn die Deutsche Bank für ihre Kunden und Angestellten Exklusivkonzerte der Berliner Philharmoniker ausrichtet.
Wie das weitergehen wird, ist klar. Die Konzerne, die ja immer weniger oder fast gar keine Steuern mehr zahlen, jedenfalls nicht in den westlichen Kulturländern, geben einen Teil dieser Ersparnisse weiter und werden sich immer mehr als Sponsoren in den Vordergrund drängen. Sparkassen, die an der Verschuldung der Gemeinden reich werden, stellen heute in vielen Städten schon mehr Geld für Kultur zur Verfügung als die Kulturämter. Die Frage ist: Wann kippt die mehr oder minder großzügige Förderung von Kulturereignissen in PR-Aktionen mit Kulturrahmen um? Wann steht der erste Volvo auf der Opernbühne? Ab wann treten die Berliner Philharmoniker nur noch unter dem Logo der Deutschen Bank auf? Oder, da die Berliner Philharmoniker verdientermaßen zu den Besserverdienenden in der Musikwelt gehören, wie weit würden die Orchester in Kaiserslautern oder Rostock, denen Schritt für Schritt die Mittel gekürzt werden, sich den ästhetischen Normen der örtlichen Sparkasse anpassen? Wann wird, um das Dach einer Kirche zu retten, die Parfümwerbung neben dem Altar installiert sein? Kurzum: Wo verlaufen die Schamgrenzen? Falls es solche noch gibt angesichts der Globalisierung der Schamlosigkeit. Früher, sagen die ganz Schlauen, war das doch auch nicht anders: Musik, Theater, Malerei, Bildhauerei und Literatur wurden jahrhundertelang von Königen, Päpsten, Bischöfen und Fürsten gesponsert und gefördert. Es sei also nur die Entwicklung zurück in einen neuen Feudalismus. Das Firmenlogo der Lufthansa im Katalog einer Max-Ernst-Ausstellung entspreche dem Fürstenpaar auf dem Altarbild. So wie die Herrscher von einst brauchten die Herrscher von heute die Künste als Schmuck, Unterhaltung, Anregung, Imagepflege.
Die Freiheiten der Künste sind mit den bürgerlichen Freiheiten gewachsen. Müssen wir also unken, dass die Künste im Feudalkapitalismus ihre Freiheiten verlieren und ihr Publikum dazu? Nein, keine Bange. Denn die Künste werden – sehr kurz gesagt – angeregt und belebt vom Wechselspiel zwischen Marktanpassung und Widerspruch, zwischen Kommerzialisierung und Rebellion. Die Attraktion der Künste wird sogar wachsen, nur die Formen werden sich verändern. Vielleicht aber werden die Opernhäuser Filialen der Autohäuser werden. Und die Autohäuser brauchen nur gute Lautsprecheranlagen für Sopranarien, um Filialen der Opernhäuser zu werden. Kunstwelt und Warenwelt rücken immer mehr zusammen. Und die Kritik daran gehört zu dieser Annäherung wie der Beifall.