Die Geschichte meines Unglaubens beginnt mit einem Engel. Ungefähr sechs Jahre muss ich gewesen sein, als meine Mutter eines Morgens aufgeregt erzählte, ein Engel habe uns alle gerettet. Am Abend habe der Vater noch lange in seinem Amtszimmer gearbeitet, ganz versunken in eine Predigt sei er gewesen, da sei plötzlich ein Engel im Zimmer erschienen und habe ihm gesagt, er solle sich bitte umdrehen. Da habe er entdeckt, wie das Ofenrohr glühte, wie die Tapete daneben angekokelt war, da habe er sofort einen Eimer Wasser geholt und gelöscht, im letzten Moment ein Feuer verhindert. Ja, wenn der Engel nicht gekommen wäre, hätte das Zimmer, vielleicht das ganze Haus gebrannt, wären wir alle in Gefahr gewesen, der Engel habe uns gerettet. Ich war schwer beeindruckt und dankbar, dass Gott extra einen Engel ins Pfarrhaus von Wehrda, Kreis Hünfeld in Hessen, geschickt hatte, um uns vor dem Feuertod zu beschützen.
Am späteren Vormittag spielte ich mit einem Freund aus der Nachbarschaft und erzählte bei erster Gelegenheit die Geschichte, auch weil ich angeben wollte mit der Sensation: ein Engel bei uns, bei meinem Vater! Der Freund hörte sich das an, und dann lachte er auf: Ein Engel, das ist doch ein Märchen! Er machte mir mit wenigen Worten klar, dass man ein heißes Ofenrohr auch ohne Engel bemerke, wenn man nah am Ofen sitze und es zu heiß werde, drehe man sich um, das sei normal, dafür brauche man keinen Engel. Er verhöhnte mich für meinen Glauben, meinen Kinderglauben, obwohl er auch ein Kind war, so alt wie ich, aber nach seiner schlichten Beweisführung musste ich mich geschlagen geben und war blamiert. An Bibelgeschichten und Engelmärchen war ich gewohnt und hörte sie gerne, doch diesen von meinen Eltern erfundenen Engel empfand ich nun als Lüge, als Betrug. Und sie hatten mich nicht nur belogen, sie hatten auch meinen kleinen, kindlichen, noch nicht entwickelten Verstand beleidigt. Das beschämte mich und beschämte mich doppelt, da dieser Freund, der Flüchtlingsjunge Helge Thieme, sonst nicht als der Schlauste, Schnellste, Beliebteste galt. Er zählte im Dorf weniger als ich – und hatte mir gezeigt, was ich für ein Dummköpfchen, ein Kleinkind war. Kurz, ich spürte den Bruch, auch mit sechs Jahren spürt man solche Einschnitte: nicht mehr die Märchen der Eltern hören, nicht mehr ihren Engelglauben, ihren christlichen Glauben teilen zu können und zu wollen. Seitdem konnte ich nie mehr an Engel glauben, wollte von ihnen auch in der Lyrik, selbst bei Rilke, nichts wissen. Dem sechsjährigen Helge, der meinen nachgeplapperten Glauben verhöhnte und mich anstachelte, mich meines eigenen Verstandes zu bedienen, habe ich wahrscheinlich zu verdanken, dass nun allmählich die lebenslange Zweifelsbereitschaft, ja Zweifelsfreude begann.
Und später: In der Kindheit eine gutgemeinte Überdosis an Religion abzubekommen, das kann einen leicht zum Atheisten machen. Doch die Mühen des Atheismus kann man sich sparen – ich sehe mich eher als heiteren Agnostiker. Habe mich als Jugendlicher genug geplagt mit dem Gedanken: Ich kann nicht glauben, was geglaubt werden soll. Ich kann den Glauben nicht einmal spielen, wenn mein bisschen Verstand vergewaltigt werden soll (> ABRAHAM-ISAAK). Noch später habe ich aus der Kirchengeschichte gelernt, dass alle Glaubenssätze auch Machtsätze sind, sie wurden in eher finsteren Zeiten, oft aus finsteren Interessen, von Menschen durchgesetzt – gegen andere Glaubenssätze, die eine schwächere Lobby unter den Kirchenfürsten hatten.
So halte ich es mit dem katholischen Historiker, > AUGUSTINUS-Spezialisten und Philosophen Kurt Flasch, der 2013 das Buch «Warum ich kein Christ bin» veröffentlichte. Er hat keine üblen Erfahrungen mit der Kirche oder Priestern gemacht, im Gegenteil. Er kann, gerade im Alter, die zahlreichen Widersprüche, die sich in der biblischen Botschaft und der kirchlichen Dogmatik auftun, einfach nicht mehr mitmachen und will sie nicht mehr ignorieren. Mit zunehmendem Wissen, Denken, Altern ist er Agnostiker geworden. Aber er fühlt sich so vom Katholizismus geprägt, dass er sich als Kulturkatholiken bezeichnet. In diesem Sinn würde ich mich, geprägt, wie ich nun einmal bin, als Kulturprotestanten betrachten. Vom Glauben und Zwang zum Glauben befreit, muss ich das Protestantische in mir nicht wegleugnen.