Die alte Dame, wie sie 1995 im Berliner Literaturhaus ihre frühe «Rede unter dem Galgen» liest, wieder ein Beispiel für die Stärke der Fünfziger-Jahre-Literatur. Sie konnte das noch: in einem Satz alles sagen. «Sprache ist, wo sie da ist, für mich das Engagement selbst, weil sie kontern muss, die bestehende Sprache kontern muss.»
Was hätten, dachte ich 2009 beim Wiederlesen des Romans «Die größere Hoffnung» (1948), was hätten sich alles für törichte literarische Debatten, Vorurteile und Aversionen in den letzten fünfzig Jahren vermeiden lassen, wenn dieser Roman besser bekannt und besser verstanden worden wäre. Oder wenn Literaturkritiker ihr Handwerk an diesem Buch geschult und entfaltet hätten. Der Roman widerlegt gleich mehrere gängige Ansichten, wie Romane zu sein hätten. Eine davon: Man könne auf zeitgeschichtliche, auf politische Ereignisse nicht unmittelbar, nicht sofort literarisch reagieren, man brauche Abstand, man nehme sich ein Beispiel an Tolstois «Krieg und Frieden». Ilse Aichinger konnte mitten im nationalsozialistischen Terror, im Krieg und unmittelbar danach große Literatur schreiben. Nicht der Zeitpunkt des Schreibens ist das Kriterium, sondern die richtige Entscheidung über Ästhetik, Stil, Perspektive. Zweitens, man habe sich zu hüten vor der kindlichen Perspektive, sie verfälsche immer, entweder ins Altkluge oder ins Banale. «Die größere Hoffnung» beweist das Gegenteil. Drittens, man könne nicht gleichzeitig über den Massenmord und den Mond schreiben, nicht gleichzeitig dem Politischen und dem Poetischen dienen, siehe > ADORNOS Verdikt über Gedichte nach > AUSCHWITZ. Ilse Aichinger zeigt, wie sich beides bedingt, beeinflusst, befruchtet – wenn einmal eine, man darf hier sagen: geniale ästhetische Lösung gefunden ist.