10. Gala-Abend mit Konsequenzen

Die nächsten zwei, drei Wochen verhielt ich mich wie ein waidwundes Tier, wenn Nicki mir näherkommen wollte. Er merkte bald, dass meine Verstimmung ziemlich ernst zu nehmen war, und ließ immer mehr von mir ab. Er kam auch nicht mehr so oft zu uns, höchstens noch ein, zwei Mal in der Woche. Daran war natürlich auch sein nun recht volles Programm schuld. Er hatte fast jeden Tag irgendeinen Termin, ob das nun seine wöchentliche Sitzung bei Herrn Bahlke betraf, seinen Job, seine Therapiegruppe, seine zwei Stunden mit Bianca jeden Mittwoch, Gruppenunternehmungen im Heim oder den ihm auferlegten regelmäßigen Pflichtbesuch beim Psychiater.

Er hatte sich zwar für sein Verhalten an Biancas Geburtstag entschuldigt, doch ich merkte, dass eine Entschuldigung nicht mehr ausreichte, um meine verletzten Gefühle wiederherzustellen. Ich hatte einfach schon zu viel runtergeschluckt und zurechtgebogen. Ich hatte auf viele Antworten verzichtet, die ich gebraucht und auf die ich als Nickis Freundin vielleicht sogar Anspruch gehabt hätte, damit ich ihn besser verstehen konnte.

Ich hatte mich damit begnügt, immer nur Bruchteile kennen zu dürfen und den Rest einfach stehenlassen zu müssen. Ich war mittlerweile geübt darin, fast jedes Mal, wenn ich behutsam versuchte, zu seiner Innenwelt vorzudringen, mitten in eine blutige Wunde zu fassen. Seit so langer Zeit – ja, seit ich ihn kannte! – wurde mein Herz ständig durch den Schleudergang gedreht und war nie zur Ruhe gekommen. Ob wir nun zusammen waren oder nicht, spielte dabei fast keine Rolle mehr. Eins stand jedenfalls fest: Nicki war manchmal wirklich schwer auszuhalten.

So kam es, dass Nicki mehr die Nähe von Mama suchte als meine, wenn er bei uns war. Und dass Mama natürlich ziemlich bald merkte, dass zwischen uns etwas klemmte. Aber sie mischte sich nicht ein.

Und dann, am Gala-Abend des Ärzteverbandes, der pünktlich zum Sommeranfang stattfand, platzte die Bombe. Ich hatte mich da leider nicht rausreden können. Nicht mal der Vorwand, dass ich zu viel für die Schule zu lernen hatte – was sonst immer ein gutes Argument war –, konnte Paps davon abbringen, mich mitzunehmen.

«Immerhin bist du jetzt sechzehn», meinte er. «Und einige meiner Kollegen sind sehr interessiert an deinen Plänen als zukünftige Ärztin.»

Boar! Mit all diesen Leuten kluge Reden schwingen zu müssen war der blanke Horror für mich. Aber was mir am allermeisten Magenkneifen verursachte, war die Tatsache, dass ich unweigerlich Leon begegnen würde. Diesmal würde ich ihm nicht ausweichen können. Er würde mich auspressen wie eine Zitrone und bald herausfinden, dass ich meine erste Krise mit Domenico hatte. Er würde wissend nicken und mich für den Rest des Abends nicht mehr aus den Augen lassen.

Der ganze Raum war wie ein riesiger Ballsaal geschmückt. Zwei lange Tafeln waren mit weißen Leinentischtüchern, Silberbesteck und echten Kristallgläsern gedeckt. An der Decke hingen pompöse Kronleuchter. Die hatten sich ja mächtig ins Zeug gelegt! Eine lange Fensterfront gab die Aussicht über die ganze Stadt frei. Wir waren hier im Panorama-Restaurant des teuersten Hotels der Stadt. Selbst ein paar Leute von der Presse waren anwesend. Mein Vater war sogar für ein Interview angefragt worden. Eigentlich war es das erste Mal in meinem Leben, dass mir so wirklich klar wurde, dass wir zur oberen Gesellschaftsschicht gehörten. Ich hatte es immer gewusst, aber mich nie groß darum geschert. Meine Eltern waren in der Hinsicht ja auch immer so normal gewesen!

Doch jetzt fühlte ich mich fast wie eine Prinzessin, als ich in meinem langen dunkelgrünen Abendkleid über das Parkett schwebte. Nur, dass mein Prinz fehlte! … Mama hatte mir sogar die Haare gemacht, aber es war ihr nicht ganz so gut gelungen wie Nicki.

Ich hielt mich dicht hinter meinen Eltern, doch das war keine gute Idee, denn Paps steuerte sofort auf die Thielemanns zu. Leon war allerdings zu meiner Erleichterung nicht zu sehen, dafür aber Frauke, Leons kleine Schwester. Ich mochte sie gern; wir waren richtig gute Freundinnen gewesen, obwohl sie ganze drei Jahre jünger war als ich. Aber jetzt war die Situation natürlich ziemlich vertrackt geworden. Ihre Augen leuchteten wie zwei tiefblaue Saphire, als sie mich erblickte. Sie kam sofort zu mir und hängte sich mir traurig in den Arm. Wie hübsch sie geworden war! Genau wie ihr Bruder hatte sie diese intensiv blauen Augen und die strohblonden Haare von ihrer ostfriesischen Mutter geerbt.

«Hey Maya, warum kommst du nicht mehr zu uns?», fragte sie betrübt. «Hast du jetzt einen anderen Freund?»

«Ja», sagte ich bedauernd. «Es tut mir so leid, Frauke!»

«Magst du Leon nicht mehr gern?»

Das war diese verfängliche Frage, die hatte kommen müssen. Aber Frauke sah mich so durchdringend und treuherzig an, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihr etwas vorzumachen.

«Weißt du, eigentlich war ich nie wirklich in deinen Bruder verliebt», gestand ich beschämt. «Ich habe ihn gern gehabt, aber da existierte immer noch dieser andere Junge aus Sizilien. Doch ich wollte ihn vergessen, weil er so weit weg war. Aber dann ist er unerwartet wieder zurückgekommen … und ich konnte Leon nicht länger was vormachen.»

«Ja, ich weiß. Mein Bruder hat mir die Geschichte erzählt. Aber er hat mir auch erzählt, dass der Junge sehr viel Probleme hat mit Drogen und auch sonst. Stimmt das?»

«Also, nicht mit harten Drogen und so, aber … Weißt du, er hatte eine ziemlich schwere Kindheit. Und sein geliebter Zwillingsbruder ist vor kurzem an einer Überdosis Heroin gestorben. Er leidet schwer darunter.» Ich wollte ihr nicht sagen, wie angespannt die Beziehung zwischen Domenico und mir zurzeit war.

«Leon ist sehr traurig», sagte Frauke. «Er hat immer noch ein Foto von dir auf seinem Nachtschränkchen. Einmal, als ich in sein Zimmer gekommen bin, hat er sogar geweint.»

Es zerfetzte mir innerlich fast das Herz. Ich wusste ja, dass ich Leon nicht fair behandelt hatte. Und ich hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen deswegen. Ich hatte mich auf eine tiefere Beziehung mit ihm eingelassen, obwohl ich insgeheim immer Domenico geliebt hatte. Klar, ich hatte es damals wirklich ernst gemeint mit dieser Freundschaft. Ich hatte ja nicht im Traum daran gedacht, dass Domenico je wieder auftauchen würde, und noch viel weniger, dass aus Nicki und mir was werden würde. Trotzdem. Die ganze Sache war so ungerecht, denn einer war nun der Leidtragende, der «Verlierer». Doch was konnte ich tun? Was konnte ich an der Sache ändern? Ich hätte ja nicht in einer Lüge weiterleben können.

Und da kam auch schon Leon auf mich zu. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Er sah seinem Vater von Tag zu Tag ähnlicher, nicht zuletzt durch die Brille, die er noch nicht so lange hatte. Seine Kinnpartie war richtig hart und kantig geworden, und sein Haar hatte er kurz gestutzt, so dass man seinen hohen Stirnansatz sah. Er war ein Typ, der wahrscheinlich früh eine Glatze bekommen würde. Schade, mit längerem Haar hatte er meiner Meinung nach viel verspielter ausgesehen. Damals war er sogar so hübsch gewesen, dass einige Mädchen ein Auge auf ihn geworfen hatten. Aber ich hegte den Verdacht, dass Leon sich je länger je mehr um ein seriöses Auftreten bemühte, um besonders seinem Vater zu gefallen.

«Hallo Maya», sagte Leon gefasst.

«Hi Leon.»

«Und, wie geht es dir?»

«Danke, gut. Und dir?»

«Danke, auch gut. Hör zu, ich muss dich unbedingt sprechen! Magst du rasch mit rauskommen?» Er zeigte auf die Terrasse. «Es ist sehr wichtig.»

Wichtig? Das konnte nichts Gutes verheißen. Ich folgte ihm zögernd. Frauke blieb zurück. Wir gingen an dem Tisch vorbei, an dem Sekt, Orangensaft und kleine Häppchen angeboten wurden. Leon schnappte sich zwei Gläser Orangensaft und drückte mir eines davon in die Hand.

«Hier. Ich will dich ja nicht zum Alkohol verführen!»

Der spitze Unterton in seiner Stimme gefiel mir gar nicht. Wir traten auf die Terrasse und suchten uns ein geeignetes Plätzchen zum Reden. Mama, die sich etwas weiter hinten mit Frau Thielemann unterhielt, nickte mir zu.

Leon hob das Glas und prostete mir freundlich zu. «Nun, zuerst möchte ich sagen: Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich an deinem Geburtstag nicht geblieben bin. Aber ich konnte das einfach nicht, weil ich mich nicht in deine neue Beziehung einmischen wollte. Es ist dein Weg und deine Entscheidung, und eigentlich geht es mich nichts an. Aber nach dem, was ich da alles mitbekommen habe, kann ich doch nicht länger schweigen!»

Meine Hände zitterten wie Espenlaub, so dass ich mein Glas kaum noch halten konnte. Was kam jetzt wohl für ein Hammer?

«Nun, ich frage mich einfach, ob dir wirklich klar ist, was das für ein Typ ist?»

«Ja, natürlich!», sagte ich leicht trotzig. «Ich kenne seine Vergangenheit. Ich weiß, worauf ich mich einlasse.»

«Wirklich? Ex-Bandenführer, bereits einmal im Knast gewesen, kriminelle Delikte, Drogenprobleme, Suizidversuch, dauernd andere Freundinnen, manchmal sogar mehrere gleichzeitig, und keine einzige Beziehung, die länger als einen Monat gedauert hat …»

«Das weiß ich alles», sagte ich.

«Nun, dann überrascht es mich umso mehr, weil ich dich für ein sehr geradliniges Mädchen halte. Und noch mehr erstaunt es mich, dass deine Eltern so eine Beziehung zulassen. Aber das geht mich ja wirklich nichts an. Nur, dass auch noch Frau Galiani Ja dazu sagt, ist mir echt zu hoch.»

Ich wollte nichts erwidern. Ich konnte nicht. Meine Zunge war taub wie nach einer Spritze beim Zahnarzt. Was wollte Leon mir mitteilen? Noch so ein pikantes Detail aus Domenicos wilder Vergangenheit?

«Wie gesagt, es geht mich nichts an, aber es tut halt immer noch sehr weh, Maya. Nun ja, ich kann nicht leugnen, dass du mir nach wie vor am Herzen liegst. Darum hab ich mich ein bisschen umgehört.» Er beugte sich etwas zu mir vor. «Ist dir klar, dass er dich bereits betrügt?»

Er hatte dies mit so einer Gewissheit gesagt, dass ich nur schockiert die Augen aufreißen konnte.

«Du wusstest das nicht, was?» Leon wiegte bedächtig den Kopf. «Das habe ich mir schon gedacht. Deshalb bin ich ja zu dem Schluss gekommen, dass ich mich einmischen muss. Ich musste das Ganze einfach im Auge behalten, damit ich zur Stelle sein kann, falls er dir wehtut.»

«Willst du dich etwa als Lebensretter aufspielen?», entschlüpfte es mir. Doch gleich darauf hätte ich mir am liebsten auf den Mund gehauen. Ich wollte Leon nicht verletzen. Aber irgendwie stellte er mich mit seiner Aussage wie ein dummes, naives Kind hin. Glaubte er etwa, ich hätte mir nicht mehr als genug Gedanken über Domenico gemacht? Ich hatte mich ja regelrecht zermürbt mit meiner Grübelei!

«Du hast dich so verändert, Maya», sagte Leon traurig. «Und nicht gerade zum Positiven. Wo ist die Maya, die ich mal geliebt habe? Die aufrichtige, ehrliche Maya, die Lügen so gut durchschauen konnte?»

Ich wusste nicht, was er für eine Antwort von mir erwartete. Mein Herz pochte heftig. Leon sah mir freimütig in die Augen, und in dem Moment nervte mich das. Es kam mir vor, als würde ich im Schatten stehen und er im Licht.

«Guck dir doch nur mal seine Augen an, dann weißt du genau, dass er eine Menge zu verbergen hat», fuhr Leon fort. «Er versteckt sie doch dauernd hinter seinen Haaren. Das ist mir sofort aufgefallen. Aber um es kurz zu machen: Ich habe herausgefunden, dass er sich mit einer anderen herumtreibt.»

Meine Finger versagten endgültig ihren Dienst und schafften es nicht mehr, das Glas festzuhalten. Der Saft und die Glassplitter verteilten sich klirrend über meinen Schuhen. Leon eilte in den Saal, um die Bescherung zu melden, während ich dastand wie eine vereiste Statue. Eine freundliche Service-Angestellte kam mit ihm zurück und nahm sich der Bescherung an. Wir stellten uns ein paar Meter weiter weg, um ihr Platz zu machen.

«Tut mir leid, dass ich dich so erschreckt habe, aber die Wahrheit ist manchmal hart. Willst du wissen, wo ich ihn gesehen habe, oder soll ich dir das lieber ersparen?»

Ich zwang mich, Atem zu schöpfen. «Erzähl es mir.»

«Nun, ich habe letzthin mit meiner Cousine telefoniert. Du weißt ja, Janet Bonaventura. Sie hat natürlich die ganze Story mitbekommen und mir gesagt, dass ich vielleicht doch wieder Chancen hätte, da Nic, wie sie ihn nennt, sich mit einer anderen herumtreibe. Da ich meiner Cousine natürlich auch nicht immer alles abnehme, habe ich mich selber schlaugemacht. Sie hat mir gesagt, dass er jeden Tag nach der Schule ein Mädchen abholt und mit ihr ein paar Runden auf einem Motorrad dreht. Also bin ich zu dieser Schule geradelt, um mir das anzusehen, und da kommt er tatsächlich angebraust und hat hintendrauf eine gestylte schwarzhaarige Schönheit sitzen. Na, da war ich ja schon erst mal baff!»

Baff – ja, genau, das war ich auch! Ich schämte mich, dass ich Leon mit offenem Mund anstarrte. Aber er hatte mir damit so vollends die Fassung geraubt, dass ich nicht anders konnte. Bis mir der rettende Gedanke kam: «Aber Domenico hat doch gar kein Motorrad!»

«Er war es aber, Maya. Hundertprozentig! Ich bin ihnen mit dem Fahrrad gefolgt. Er hatte genau diese keltische Tätowierung am Oberarm. Er hat das Mädchen irgendwohin gebracht. Und seine Haare vergisst man ja nun echt nicht so leicht! Ach ja, und als er vom Motorrad stieg, hat er gleich zwei Mädchen um Zigaretten angehauen. Ich dachte, das interessiert dich vielleicht auch. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass er nach seinem Lungenkollaps vernünftiger geworden wäre.»

Ich schaute Leon stumm an, kurz davor, endgültig loszuschreien. Aber Leon war noch nicht fertig.

«Ich meine, wie lange seid ihr zusammen?»

«Seit drei Monaten …» Ich erkannte meine Stimme kaum noch.

«Na also. Das passt ja. Hey, wach auf! Der Typ will sich doch nur von dir seine Wunden pflegen lassen und geht dann zur nächsten. Glaubst du wirklich, der ist zu einer richtigen Beziehung fähig?»

«Wie sah das Mädchen aus?», fragte ich mit gepresster Stimme. Das war das Einzige, was mich im Moment noch interessierte.

«So richtig aufgestylt. Ich habe sie nur von hinten gesehen, doch sie hatte langes, schwarzes Haar und war ziemlich klein. Aber wenn du mehr wissen willst, frag lieber meine Cousine Janet. Sie kann dir das bestimmt genauer sagen. Sie kennt ja die Leute, mit denen er verkehrt.»

«Janet Bonaventura? Ist die hier?» Meine Stimme kippte vor Entsetzen.

«Doktor Bonaventura hat sie mitgebracht.»

«Ich dachte, sie verstehe sich überhaupt nicht mit ihrem Vater?»

«Na ja, wir haben in letzter Zeit wieder mehr miteinander geredet. Ich hatte mit ihr ja auch nie viel am Hut, aber ich konnte ihr seit dem Vorfall mit deiner Erpressung doch ein paar vernünftige Gedanken in den Kopf hämmern. Da sind dann echt ein paar ganz gute Gespräche zustande gekommen. Sie kann schon kooperieren, wenn sie will.»

Ich folgte Leon zurück in den Saal und fühlte mich, als hätte man mich bei einem Ringkampf k.o. niedergemetzelt. In dem Moment kam Janet herangepirscht. Ich erkannte sie kaum in der festlichen Aufmachung. Sie trug ein schwarzes Samtkleid und hatte ihre widerspenstigen Locken mit einem Haarreif aus dem Gesicht gestrichen. Frauke, die alles aus der Ferne beobachtet hatte, kam auf leisen Sohlen angeschlichen. Da legte Janet schon los.

«Sieh mal einer an! Nics niedliche kleine Freundin. Na, ist er dir immer noch treu?» Janet blieb vor mir stehen und betrachtete mich herablassend von oben bis unten. Ich rang darum, das letzte bisschen Fassung zu bewahren. Diesen Triumph wollte ich ihr nicht gönnen!

«Sei nicht so gemein!», schimpfte Frauke und hängte sich bei mir ein, ehe ich etwas erwidern konnte.

Janet pfiff durch die Zähne. «Ach ja, hab übrigens gehört, dass Nics beknackter Junkie-Bruder die liebe Carmen vor seinem Tod noch geschwängert haben soll. Noch so ein armes, armes Geschöpf, das drogensüchtig zur Welt kommen wird, mit einer durchgeknallten Mutter, einem toten Vater und einem Onkel, der mehr als nur ein Rad abhat!»

«Janet, es reicht jetzt, ja?», sagte Leon. «Wir sind nicht hier, um über Domenico herzuziehen. Ich persönlich möchte nur die Fakten auf den Tisch legen.»

«Nun ja, aber dass Nic bereits fremdgegangen ist, hast du ihr ja hoffentlich jetzt gesteckt, oder?», provozierte sie. «Ich finde, das muss sie wissen.»

Sie wandte sich mit einem fiesen Grinsen wieder an mich.

«Na, und hältst du seine Launen aus? Seine absurden Schwankungen, die eh keiner versteht?»

Meine Brust wurde immer enger. Janets lauernder Blick wartete nur darauf, dass ich klein beigeben und sie nach dem Mädchen fragen würde, mit dem Domenico zusammen gewesen war. Frauke drückte sich an mich.

«Janet, wie hieß das Mädchen, mit dem Domenico zusammen auf dem Motorrad war?», fragte Leon an meiner Stelle.

«Die Beschreibung trifft ziemlich genau auf Suleika Curato zu», sagte sie. Ihre Zunge schlang sich regelrecht um den Namen, wohl wissend, dass sie mich damit quälen konnte. «Oder ‹La Duchessa›, wie Nic sie immer genannt hat!» Janet verdrehte die Augen. «La bella Duchessa. Sicher auch schon von ihr gehört, oder?»

Ich hielt den Atem an, als hätte man mir eine Maulschelle verpasst. Janet, die mich genau beobachtete, fügte hinzu: «Sie hat Nic jedes Mal aufgefangen, wenn er wieder eine Beziehung beendet hat. Auch als er mich verließ, ist er zu ihr zurückgekehrt. Wenn du mich fragst, bleibt der eines Tages sowieso bei ihr hängen. Ich meine, sorry, aber was will so ein Typ mit so einer wie dir?»

Ich öffnete den Mund, um irgendwas gegen diese Beleidigung zu kontern, doch sie kam mir zuvor: «Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber Nic ist mit Frauen zusammen gewesen, die fünf Jahre älter waren als er. Denen kannst du doch gar nicht das Wasser reichen.» Ihre Stimme hatte den spöttischen Unterton verloren und klang nun ziemlich nüchtern, wie wenn man eine Aussage abwägt, die nun mal einfach Fakt ist. Aber genau das war es, was mich noch mehr verwirrte.

«Er ist nicht beziehungsfähig, Mädchen, verstehst du das? Komm, wach auf und sieh der Realität ins Auge. Wir haben dich alle gewarnt. Wenn du willst, kann ich auch gern die Karten für dich befragen», bot sie an. «Du weißt ja, ich beherrsche Tarot und Pendeln. Ich kann einiges.»

«Nein, danke. Solchen Kram brauche ich nicht!» Ich drehte mich schnell weg und stürmte fluchtartig hinaus auf die Terrasse, bevor meine Augen in Tränen schwimmen würden. Frauke kam mir hinterher.

«Maya, sie ist fies. Ich mag sie auch nicht!»

Ich schüttelte den Kopf und zerrieb mir beinahe die Augen. Die Lichter der Stadt funkelten mir entgegen, als wollten sie mir etwas aus dem wahren Leben mitteilen, das dort unten vor sich ging. Hass. Betrug. Lügen. Der Platz bei der Laterne war nur ein schöner Traum gewesen … ein Luftschloss, ein Märchen, das es in Wahrheit nicht gab und niemals geben würde.

«Nicht weinen.» Ich spürte Fraukes weiche Hand, die tröstend über meine nasse Wange strich. Ich hatte fast vergessen, dass sie neben mir stand. «Hast du ein Foto von ihm? Er soll sehr hübsch sein, hab ich gehört.»

«Ach, Frauke …»

«Komm. Bitte!»

Ich nestelte in meinem Täschchen und zog meinen Geldbeutel raus. «Hier. Es ist nicht mehr ganz neu, aber es ist das einzige, das ich habe. Er gibt mir ja kein anderes.»

Frauke nahm es in die Hand und schaute es an. «Woah, ist der hübsch!», rief sie sehnsüchtig. «Ich glaube, ich würde mich auch in ihn verlieben. Ich kann dich voll verstehen.»

«Echt?» Ich schaute das drei Jahre jüngere Mädchen an.

«Ja, und wie! Weißt du, ich finde es ja schon schade, dass du nicht mehr mit meinem Bruder zusammen bist. Aber wir können ja trotzdem Freundinnen bleiben. Und …» Sie wurde rot. «Also, ich … ich kann schon verstehen, dass du ihn süßer findest als meinen Bruder. Und Domenico ist auch so ein schöner Name, das hab ich gleich gedacht, als Leon das erste Mal von ihm erzählt hat.»

«Ach, Frauke, ich glaub … Meinst du, dass das wahr ist, was die mir da erzählt haben?»

Sie runzelte die Stirn. «Na ja, der Janet glaube ich nicht alles, was sie sagt. Aber mein Bruder … also, der würde niemals lügen, das weiß ich. Er ist zwar manchmal ein richtiger Besserwisser, aber er würde niemals von seinen Prinzipien abweichen. Und er mag dich wirklich.»

«Was soll ich jetzt bloß machen?», seufzte ich.

«Ich würde einfach mit Domenico reden», sagte Frauke schlicht. «Und ihn zur Rechenschaft ziehen.»

Nicki zur Rechenschaft ziehen … Manchmal hörte sich Frauke echt an wie eine Erwachsene. Das lag wohl daran, dass sie Unmengen von Büchern verschlang. Mit Nicki reden … Sie hatte ja keine Ahnung, wie schwierig das manchmal war! Doch im Grunde hatte sie Recht. Es blieb mir keine andere Wahl. Na toll, jetzt musste eine Dreizehnjährige mir sogar so was sagen! Der andere Gedanke, der kurz durch meinen Kopf flitzte, war, Suleika anzurufen. Ich hatte ja ihre Nummer. Doch diese Demütigung wollte ich mir lieber nicht antun.

Frauke zog an meinem Ärmel. «Komm, sie rufen zum Essen!»

Stimmt, das Essen … Die Feier ging ja erst jetzt richtig los. Für mich war sie schon längst vorbei …

Zum Glück saß ich während des Essens bei meinen Eltern am Tisch, ziemlich weit weg von den Thielemanns und den Bonaventuras.

Doch Leon zeigte für den Rest des Abends sowieso keine weiteren Ambitionen mehr, mir ins Gewissen zu reden. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich mit sämtlichen namhaften Ärzten zu unterhalten. Janet, die ihre Rolle als Arzttochter perfekt spielte, fand ebenfalls ein paar Interessenten. Auch ich war beschäftigt und musste mich zusammenreißen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen: Nach dem Essen stellte mein Vater mich nämlich seinen Kollegen vor, die mich über meine Zukunftspläne ausfragten.

«Eine Praxis für drogenabhängige Jugendliche? Nicht schlecht!», bemerkte ein älterer Arzt. «Aber das ist sicher sehr schwierig.»

«Meine Tochter hat halt viel mit Drogenabhängigen erlebt», brummte Paps, der meine Pläne mittlerweile einigermaßen akzeptiert hatte. «Einer ihrer Freunde ist vor kurzem an einer Überdosis Heroin gestorben, und vielleicht könnte man schon mehr dagegen unternehmen, wenn man die Leute rechtzeitig betreuen würde.»

All die Träume und Pläne … Doch wie viele davon würden je wahr werden? Wenn mein Herz nur nicht vorher schon absterben würde …

Was blieb, war die Tatsache, dass Nicki mich anlog und mit einem fremden Mädchen auf irgendeinem Motorrad herumfuhr, das ihm nicht gehören konnte und für das er auch keinen Führerschein hatte. Denn Frauke hatte Recht: Leon war nicht der Typ, der mir eine Unwahrheit erzählen würde. Er war einer der verlässlichsten Typen, die ich kannte.

Im Gegensatz zu Domenico …