14. Nasse Versöhnung

Ich blickte zum Himmel empor. Die Wolken hatten sich ziemlich aufgetürmt, und in der Ferne zuckten Blitze. Ich seufzte in regelmäßigen Abständen, während Carrie sich eine Zigarette anzündete und ebenfalls zum Himmel starrte.

«Carrie, sag mal ehrlich: Bin ich wirklich so eine zickige, blöde, zimperliche, eifersüchtige Spießerin?», fragte ich schließlich leise.

«Ey nee, quatsch, sonst wärste ja wohl nich in Nic verliebt, oder?», meinte sie mit schiefem Grinsen. «Ich mein, dann würdest du dir doch lieber 'nen anderen Kerl suchen. Und wenn du 'n Spießer wärst, würd ich bestimmt nich mit dir rumhängen, und du erst recht nich mit mir.»

Diese Aussage entlockte mir ein kleines Lächeln. «Danke, Carrie!»

Ach, Nicki … Es tut mir so leid, Nicki!

Grobe Hände packten mich auf einmal am Oberarm und rissen mich ruckartig herum.

«Da! Das ist sie! Die Tussi vom Tiger!»

Ich blickte in ein hämisches Mädchengesicht mit groben Zügen, das ich schon mal gesehen hatte. Aber ich musste erst in meinen Gehirnwindungen suchen, bis mir ihr Name wieder einfiel. Mila … Hinter ihr tauchten drei weitere Mädchen auf, alle mit Bierflaschen in der Hand.

«Hey Süße, willst du mal tauchen?» Milas eiserner Griff zwang mich auf die Beine. Sie war unheimlich stark. Kein Wunder, so wie die gebaut war! Ihr Atem roch scharf nach Alkohol.

«Höhö!» Die anderen Mädchen stellten sich im Halbkreis um uns herum auf. «Gib ihr Saures, Mila!»

«Ey, haut gefälligst ab!», verteidigte mich Carrie. Sie rappelte sich mühsam auf die Beine, währenddem sie wieder ihren Bauch festhielt.

Mila gab ein betrunkenes Lachen von sich. «Höhö, Heul-Punky ist auch da! Und hochschwanger. Höhö!»

Sie schwang triumphierend ihre Flasche. Dabei gelang es mir, mich aus Milas Klauen zu befreien, doch sofort wurde ich von den anderen Mädchen festgehalten.

«Komm Mila, wir schicken sie baden!»

«Ja, komm, Tiger ist auf Bewährung, der kann dich nicht vermöbeln! Sonst zeigen wir ihn an.»

«Hö!» Und ehe ich mich's versah, knallte Mila mir ihre Faust ins Gesicht. Für einen Moment sah ich nur noch Sternchen um mich herumtanzen. Doch der Schmerz war nicht das einzig Bedenkliche. Langsam kroch die Panik in mir hoch. Das hier sah nicht so aus, als ob sie mich so schnell wieder in Ruhe lassen würden. Bevor ich schreien konnte, presste Mila mir ihre große Pranke auf den Mund.

«Okay, Girls … Katy, Trash, ab ins Wasser mit ihr! Aber vorher …» Sie riss mir meine Handtasche von der Schulter und warf sie ihren Kumpaninnen vor die Füße. Carrie bückte sich schwerfällig, um ihr zuvorzukommen, doch da boxte ihr eines der Mädchen frontal in den Bauch. Carrie landete mit einem leisen Aufschrei auf dem harten Kai.

«Nein!!!», schrie ich aus Leibeskräften. Bis zur letzten Sekunde hoffte ich, diese besoffenen Mädchen würden irgendwie zur Vernunft kommen, aber das taten sie nicht. Sie stießen mich gnadenlos zum Rand des Kais. Unter mir rauschte der Fluss vorbei, doch es sah nicht allzu gefährlich aus … jedenfalls nicht so, als ob ich ertrinken würde. Um das zu registrieren, hatte ich genau eine Sekunde Zeit, denn danach hatte ich keine Power mehr, um mich gegen die Schubkraft dieser Mädchen zu stemmen, die fest entschlossen waren, mich baden zu schicken. Und der Sprung ins Wasser war letztendlich die einzige Möglichkeit, ihnen zu entrinnen. Ich schloss fest die Augen und hielt die Luft an. Mitten im Fall hörte ich jemanden brüllen.

«Weg mit euch, elendes Pack!»

Das Wasser schlug über mir zusammen, kräftiger, als ich vermutet hatte. Eine Strömung im Untergrund zog mir beinahe die Beine weg. Zuerst sah ich nur Dunkelheit und wurde von einem jähen Anflug von Panik überrollt, als ich die Oberfläche nicht mehr fand. Ich zappelte und paddelte verzweifelt in alle Richtungen, bis ich spürte, dass meine Hand aus dem Wasser ragte. Und im nächsten Augenblick befand sich mein Kopf wieder oben. Ich wollte kräftig nach Luft schnappen, doch stattdessen gurgelte ich Wasser in meine Lungen.

Der wilde Husten raubte mir erneut die Orientierung. Eine Stimme … hatte ich nicht vorhin Nickis Stimme gehört? Oder war das nur Einbildung gewesen? Ich merkte, wie meine Beine von einem mächtigen Sog nach unten gesaugt wurden, als hätte der Fluss vor, mich zu verschlingen. Wieder kämpfte ich mich mit verzweifelter Kraft nach oben. Ich schaffte es nicht, die verschwommenen Umrisse des Ufers einzuordnen.

«Maya!!!», brüllte dieselbe Stimme wie vorher. «Halt durch! Ich komme!»

«N…» Ich wollte seinen Namen rufen, doch stattdessen verschluckte ich erneut den halben Fluss. Und im nächsten Moment umschlangen mich zwei kräftige Arme.

«Halt dich an mir fest!», keuchte Domenicos Stimme in mein Ohr. Sein Atem roch stark nach Alkohol und Zigaretten, und ich schaute in sein Gesicht, das mir so nah war, so vertraut und gleichzeitig doch so unergründlich. Er nahm meinen Arm und legte ihn um seine Schultern. Und ich ließ mich einfach schlaff hängen. Mit außergewöhnlich kräftigen Schwimmzügen kämpfte er sich zum Ufer durch, wo ich in der Dunkelheit die Umrisse eines kleinen Ausstiegs erkennen konnte.

Meine Knie versagten ihren Dienst, als Domenico mich an Land zog. Meine Knochen fühlten sich grün und blau an. Er schleppte mich ein paar Meter weiter, wo wir uns auf eine kleine Rasenfläche fallen lassen konnten.

Domenico hielt mich fest im Arm, während mein Körper vor Kälte und Aufregung nur noch schlotterte. Nicki hatte seine Augen geschlossen und sein Kinn fest an meine Schultern gedrückt. Das gleichmäßige Rauschen des Flusses und der Schwindel in meinem Kopf machten meine Glieder schwer und schläfrig. Ich hätte für immer hier liegen bleiben und schlummern können, wenn nicht das Wasser, das in meinen Lungen war, sich mit Hilfe von würgenden Hustenstößen den Weg aus meinem Körper gebahnt hätte.

Und Nicki hielt mich einfach fest.

Lass mich nie wieder los, Maya. Bitte lass mich niemals wieder los, sonst werde ich mein Herz für immer in der Tiefe des Flusses versenken.

Ich hielt keuchend die Luft an, um den Husten für ein paar Sekunden zu unterbrechen, während ich die Worte aus Nickis Herzen tief in mich aufnahm. Noch nie war mir in einem einzigen Moment so klar geworden, dass es unmöglich war für mich. Zu groß. Nicht nur, weil ich unfähig war, sondern weil es Dinge gibt, die ein Mensch allein nicht heil machen kann. Die jemand tun musste, der größer war als ich. Ich konnte nur ein Teil davon sein. Und auch meine Mutter konnte nur ein Teil sein. Ein Puzzle-Stück. Aber der, der das Puzzle zusammensetzte, war jemand anders.

Ich konnte nur mein Ja und meine Hingabe dazu beisteuern.

Ich weinte ein bisschen, und auch Nicki weinte vor sich hin. Wir lagen da und klammerten uns aneinander fest, als müssten wir verhindern, dass uns je wieder jemand trennte.

Auf einmal stand eine ganze Truppe Leute neben uns.

«Hey, seid ihr okay?»

Wir richteten uns vorsichtig auf. Suleika und Gina waren da, außerdem noch einige andere Typen.

«Alles klar mit euch?» Suleika sah uns besorgt an. Domenico nickte und schüttelte sich das nasse Haar aus der Stirn.

«Wir haben gesehen, wie Mila und die anderen davongerannt sind und wie du ins Wasser gesprungen bist.» Suleika streckte Domenico meine Handtasche entgegen. «Das haben sie fallen gelassen.»

«Meine Tasche!», hauchte ich. Domenico nahm sie an sich und reichte sie mir.

«Schau besser, ob noch alles drin ist, Maya», empfahl Suleika. «Diese Weiber klauen wie die Elstern!»

Ich kramte in der Tasche und stellte mit Entsetzen fest, dass mein Geldbeutel fehlte. Ich hielt für einen Moment die Luft an.

«Süße, zeig dich mal her!» Domenico legte seinen Zeigefinger unter mein Kinn und hob mein Gesicht sanft zu sich empor. «Dein Auge sieht total geschwollen aus.»

«Mila hat mir die Faust ins Gesicht geschlagen.»

«Was hat sie?», fragte er entgeistert. Und mit einem Mal hatte ich die vage Eingebung, dass noch etwas fehlte. Ich legte meine Hand an meinen Hals … und ich spürte, dass das rote Herz weg war! Verloren, für immer auf dem Grund des Flusses. Als ich diese Endgültigkeit realisierte, überkam mich das heulende Elend. Nicki sah mich aufmerksam an. Ich vergrub mein weinendes Gesicht an seiner Brust.

Er legte zärtlich den Arm um mich. «Hey …»

«Tut … tut mir leid, Nicki … es ist meine Schuld …»

«Heul dich aus.» Er drückte mich an sich.

«Es … es ist bescheuert …»

«Du musst nichts erklären. Heul einfach.»

Er wiegte mich in seinen Armen, während ganz weit entfernt leichtes Donnergrollen zu hören war.

«Wir sollten besser irgendwo reingehen», sagte Suleika. «Und ihr beide solltet was Trockenes anziehen.»

Da erst wurde mir bewusst, dass wir bis auf die Haut nass waren und meine Zähne vor Kälte bereits klapperten.

«Lasst uns zu mir gehen», schlug einer von den Typen vor, die mit Suleika und Gina gekommen waren. Ich erkannte ihn erst auf den zweiten Blick, da seine legendäre Glatze unter einer Mütze verborgen war. Aber die vielen Tattoos auf seinen Oberarmen waren einzigartig genug. Mike Castello, Domenicos zwielichtiger Kumpel, den ich bis jetzt weder auf die gute noch auf die schlechte Seite hatte einordnen können. Ich blickte auch schon längst nicht mehr durch, wie er und Nicki zueinander standen.

«Sind nur fünf Minuten bis zu mir. Kann euch sogar trockene Sachen geben. Sind noch Dinge von deinem Bruder da, die er vergessen hat. Und 'n paar Frauenklamotten für deine Puppe. Müssten eigentlich passen.» Mike kratzte sich an seiner Stirn. Er zog eine Schachtel Zigaretten hervor und ließ sie reihum gehen.

Domenico half mir auf die Beine, dann nahm er die Zigarettenschachtel an sich und bediente sich. Als er sich die Fluppe anzündete, trafen sich unsere stummen Blicke. Ich nickte langsam. Mir war jetzt klar, dass für dieses Problem im Moment einfach keine Lösung in Sicht war. Dass weder Nikotinentzug noch ein strenges Programm etwas halfen. Vielleicht nur unermüdliche Liebe und Geduld … und Gottes Hilfe. Ich wusste die große, alles erhellende Antwort im Moment auch nicht.

«Andiamo!» Domenico legte den Arm um mich und nickte seinen Leuten zu. Er war jetzt wieder ganz der coole Tiger-X. Alle gehorchten ihm, als wäre das ganz selbstverständlich. Sein Blick blieb an Carrie haften, die uns nur mühsam folgen konnte. Sie umklammerte ihren Bauch und war ganz außer Atem. Domenico blieb mit mir stehen und wartete, bis sie uns eingeholt hatte.

«Carrie, alles klar mit dir?» Er hielt vorsorglich seine qualmende Kippe von ihr weg. «Mann, was ist passiert?»

«Ham mir in den Bauch getreten …», murmelte Carrie mit leidendem Gesicht. «Ich kotz fast …»

Domenico schüttelte den Kopf und feuerte ein paar zorngeladene Blicke Richtung Brücke ab. «Das werden sie mir büßen!», knurrte er. «Ich mach die einzeln fertig, das schwör ich!»

«Lass das besser, Nicki», warnte Suleika. «Vergiss nicht, du bist nur auf Bewährung frei. Wenn du wegen 'ner Prügelei in den Knast wanderst, freuen die sich nur.»

«Das ist mir egal. Wenn dem Kind was passiert ist, kenn ich keine Gnade.» Er zog sich fast die halbe Zigarette in einem Zug rein und schnippte sie weg.

«Das übernehmen besser wir», sagte Suleika.

«Sollten wir Carrie nicht lieber ins Krankenhaus bringen, Nicki?», bemerkte ich. «Wenn sie Schmerzen hat …»

«Geht schon wieder», stöhnte Carrie. «Is nix passiert. Muss mich nur mal hinlegen. Bin schon okay.»

«Wir sind gleich bei Mike», sagte Domenico.

Ich war überrascht, wie schnell wir uns in der Seitenstraße mit den quadratischen Wohnblöcken befanden, die ich noch so gut in Erinnerung hatte. Mike stellte keine Fragen, als wir ihm alle ausnahmslos folgten. Offenbar war das selbstverständlich. Die Jungs machten nicht mal ihre Zigaretten aus, als wir in das streng nach Salmiak riechende Treppenhaus traten. Domenico gab den anderen ein Zeichen, dass sie ihm den Lift überlassen sollten, und zwängte Carrie und mich hinein. Ich staunte, wie viel Respekt sie alle vor ihm hatten.

Im dritten Stock stiegen wir aus und warteten auf die anderen. Mike schloss die Tür auf und ließ uns rein. Die Jungs schmissen sich sofort im Wohnzimmer auf die Couch, während Mike aus der Küche einen Kasten Bier anschleppte. Ich schaute mich mit einer Mischung aus Neugier und Verwirrung in der Bude um.

Domenico ließ mich keine Sekunde aus den Augen, als wollte er meine Reaktion prüfen. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich so viele Schallplatten und CDs in einem einzigen Raum gesehen. Der hintere Teil des Wohnzimmers war komplett von einer Musikanlage und mehreren Plattenspielern belegt. Eine gigantische, aufwändig an die Decke montierte Spiegelkugel ließ das Licht in Form von Schneeflocken über die halbnackten Pin-up-Girls tanzen, die in großer Anzahl die Wände zierten.

«Guck dem seine beknackten Poster nicht an, Maya. Der ist voll schräg drauf, dieser Vogel», flüsterte Domenico mit einem Zorn in der Stimme, der sich gegen mehr als nur diese Poster richtete. Ich wusste sofort, was die Ursache war: Seine Mutter war so ein Pin-up-Girl gewesen.

«Diese vielen Schallplatten!», lenkte ich deshalb ab.

«Er ist DJ», erklärte Domenico. «Verdient einen Haufen Kohle damit. Aber es ist nicht alles legal, was er treibt.»

Mike tauchte wieder auf und warf uns ein paar Klamotten hin. Dann ging er zu der Musikanlage und legte eine Scheibe auf. Anscheinend ging die Party einfach weiter. Die Jungs bedienten sich mit Bier und Zigaretten. Auf einmal waren viel mehr Leute da, als vorhin mit uns vom Fluss gekommen waren. Ich hatte keine Ahnung, woher die alle so plötzlich aufgetaucht waren. Einer fing an, einen Joint zu drehen. Offensichtlich gingen diese Leute alle bei Mike einfach ein und aus.

Domenico hob ein hauchdünnes Oberteil auf, das Mike uns vor die Füße geschmissen hatte. Es stellte mehr einen BH als sonst was dar.

«Sag mal, spinnst du, Alter?», schimpfte er. «Hast du auch was Vernünftiges für meine Freundin?»

«Sorry! Sind die Klamotten von meiner Ex», meinte Mike und kam wieder hinter der Anlage hervor. «Sonst muss sie halt eins von diesen bekloppten Grufti-T-Shirts von deinem Bruder nehmen.»

Domenicos Augen wurden ganz schmal, als er mit bebenden Lippen eines der schwarzen T-Shirts in die Finger nahm.

«Tja, Maya … du kannst wählen zwischen einem Totenschädel oder einem grünen Skelett.» Ich hörte die Qual in seiner Stimme. Ich fröstelte mittlerweile so in den nassen Klamotten, dass ich mich ohne zu zögern für das grüne Skelett entschied. Domenico nahm das andere T-Shirt mit dem Totenkopf und vergrub einen Augenblick sein Gesicht darin, als wollte er die letzten Reste seines Bruders einatmen. Ich wühlte behutsam in dem Haufen und fand noch ein paar schwarze Leggins. Domenico zeigte mir das Bad, und ich schloss mich darin ein.

Selbst das Bad war mit Pin-up-Girls zugepflastert. Ich beeilte mich mit dem Umziehen und warf hinterher einen Blick in den Spiegel, um gleich darauf vor lauter Schock beinahe in Ohnmacht zu kippen. Ich sah wirklich aus, als wäre ich frisch einem Sarg entstiegen. Mein Auge war ziemlich geschwollen. Durch das unfreiwillige Bad im Fluss hatte sich zudem meine Schminke selbständig gemacht und sich in Form von schwarzen Farbklecksen um meine Augen herum verteilt, die ich mir schnell abwusch. Außerdem war meine Haut vom Frieren ganz blass und durchscheinend, so dass man überall rote Äderchen sah. Ich hätte bestimmt locker einen Job in der Geisterbahn bekommen.

Domenico konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als ich wieder zu ihm stieß. Er steckte sich seine frisch angezündete Zigarette in den Mundwinkel und verschwand im Bad.

Ich blieb unschlüssig im Türrahmen stehen. Gina winkte mich heran. «Komm zu uns, Maya!»

Ich folgte der Aufforderung und setzte mich zu ihr und Carrie auf den Boden. Carrie hatte ihren Kopf auf Ginas Schoß gelegt und versuchte, regelmäßig zu atmen.

«Geht's besser, Carrie?», fragte ich besorgt. «Vielleicht sollten wir doch lieber in die Notfall-Ambulanz.»

«Nee, geht schon …» Ihr Grinsen misslang ihr ziemlich. Gina beugte sich leicht zu mir rüber und raunte mir ins Ohr: «Nimm meine Schwester nicht allzu ernst. Sie kann manchmal ganz schön bissig sein. Aber sie meint es nicht so. Sie muss halt immer zu allem und jedem ihre Meinung sagen.»

«Schon okay», murmelte ich und fühlte mich immer noch wie ein Fremdkörper unter all diesen Leuten. Mike hantierte hinter seinem DJ-Pult und hatte einen riesigen Kopfhörer auf den Ohren plus einen mindestens genauso großen um den Hals. Die Musik war nun ziemlich laut.

«Weißt du, sie ist ziemlich beliebt», erklärte Gina. «Viel beliebter als ich. Darum hab ich auch Mingo immer so gut verstanden. Auch er stand dauernd im Schatten seines Bruders. Ich hatte immer Angst vor Domenico, viel mehr als vor Mingo. Er ist so unheimlich stark … Ich bewundere dich, dass du es so mit ihm aushältst.»

Das Lob tat mir richtig gut. Domenico kam wieder zurück und brachte einen Haarföhn mit. Mingos Klamotten passten ihm natürlich wie angegossen. Ich registrierte allerdings, dass er wieder ein wenig abgenommen hatte. Er drückte den Überrest seiner Zigarette im Aschenbecher aus und kam mit dem Föhn zu mir. Er sah mich zärtlich an.

«Soll ich dir das Haar trocknen?», fragte er.

«Oh, gern!»

Wir gingen rüber zum Fenster, etwas abseits von den anderen. Domenico suchte eine Steckdose und stellte sich dann hinter mich. Der wärmende Luftstrom des Föhns war eine Wohltat für meine unterkühlten Glieder. Aber noch viel angenehmer war es, Nickis sanfte Hände in meinem Haar zu spüren.

«Die darfst du nie abschneiden», flüsterte er. «Sie sind so wunderschön. Weich wie Seide …»

Noch mehr Leute betraten den Raum, und Mike schleppte noch mehr Kisten Bier in allen Sorten heran. «Ey Nic, wie lange biste jetzt mit ihr zusammen?», foppte er im Vorbeigehen. «Ist ja schon 'ne richtige Ewigkeit, was?»

«Ja», sagte Domenico nur. Er bürstete sorgfältig mein Haar und band es mit einem Haarband zusammen, das er irgendwo aufgetrieben hatte.

«Möchtest du was trinken?», fragte er leise. Ich nickte; meine Kehle brannte regelrecht vor Trockenheit. Domenico sah sich suchend um, aber außer tausend Sorten mit belgischem, französischem und deutschem Bier gab es hier offenbar nichts anderes. Mike packte eine Dose und warf sie ihm zu. Domenico fing sie lässig mit einer Hand auf und fragte dann: «Hast du eigentlich noch was ohne Alk da?»

«Ja, was denn? Babymilch vielleicht?»

Domenico verdrehte ungeduldig die Augen. Er nahm meine Hand und führte mich in die Küche. «Komm, Maya. Wir suchen uns selbst was.»

«Mir genügt auch Wasser», sagte ich. Domenico öffnete den Kühlschrank und suchte vergeblich nach Fanta oder Cola. Schließlich fischte er ein leeres Glas aus dem Schrank, füllte es mit Wasser und reichte es mir. Wir standen nebeneinander da und lehnten uns an den Kochherd, während ich das Wasser in langsamen Schlucken trank.

Domenico schaute mich unentwegt an. In dem hellen Küchenlicht sah ich, wie goldbraun seine Haut wieder geworden war. Seine italienischen Gene drangen im Sommer noch mehr durch. Meine blasse Haut konnte da nicht mithalten.

«Tut das da eigentlich sehr weh?», fragte er besorgt und berührte vorsichtig meine Wange mit seinem Finger.

«Es geht so», sagte ich.

«Du hast dir viel zu viel Schminke aufgetragen, Süße», meinte er lächelnd.

«Echt?»

«Ja. Das hast du gar nicht nötig. Außerdem ist schwarz viel zu hart für dich. Wenn schon, solltest du braunen Kajal nehmen. Und auch keine schwarzen Klamotten tragen. Sie machen dich blass.»

«Ist das so?»

Statt einer Antwort nahm er meine Hand und drehte meine Handfläche nach oben, so dass der Xenon-Stempel sichtbar war.

«Du warst im Xenon, was?», fragte er leise.

Ich nickte kleinlaut und machte mich auf seine Schelte gefasst. Doch er nahm wortlos einen Schwamm, tränkte ihn mit Wasser und Geschirrspülmittel und rieb mir die Handfläche wieder sauber.

«Wenn du unbedingt in 'ne Disco gehen möchtest, geh ich mit dir lieber an einen anderen Ort», sagte er. «Es gibt viel bessere Clubs.»

Ich nickte erneut. Er ließ meine Hand wieder los.

«Ich will nicht, dass du so Sachen machst», bat er mich. «Bitte versuch nicht, cool zu sein. Ich liebe dich doch, weil du eben genau so bist, wie du bist … irgendwie rein und unverdorben.»

«Suleika hat mich eine feige Memme genannt …», murmelte ich schlotternd. Ich fror immer noch. «Oh Nicki, ich bin so blöd gewesen …»

«Bist du nicht.» Seine Arme, die mich tröstend umschlangen, waren ganz warm. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und ließ mich von seinem Körper wärmen. Er glühte regelrecht, als trüge er eine Heizung in sich. Wir brauchten uns nichts mehr zu erklären. Wir brauchten nicht mehr über das zu reden, was gewesen war. In diesem Moment war alles klar zwischen uns.

Er küsste meinen Nacken, meine Wangen, und als ich meinen Kopf hob und ihn anschaute, küsste er mich zart auf die Lippen.

«Du bist die beste und schönste Frau, die ich je hatte, weißt du das?», flüsterte er zärtlich in mein Ohr.

Ich saugte seine Worte tief in mein Herz auf, um sie dort zu verwahren. Für den Fall, dass ich eines Tages doch wieder straucheln würde.

Wir küssten uns wieder, diesmal intensiver und inniger als je zuvor. Seine samtweichen Lippen schmeckten nach süßem Tabak. Seine Hand krallte sich an meinem Haar fest. Ich fühlte mein Herz rasen, und mein Blut rauschte heiß und wild durch meine Adern. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich ein impulsives Verlangen nach mehr. Ich wollte seinen Kuss überall spüren, an und in meinem ganzen Körper. Ich wollte glühen, ich wollte lichterloh brennen und lodern, wollte den Vulkan ausbrechen lassen. Nickis Hand rutschte langsam unter mein T-Shirt. Ich schnappte nach Luft, um seinen Kuss leidenschaftlich zu erwidern, und dann, als hätte ihn plötzlich etwas gestochen, löste sich Nicki abrupt von mir.

«Ey, lass uns aufhören!»

«Aber …»

«Lass. Es hat Zeit. Du bist zu wertvoll. Ich will nicht Dinge nehmen, die mir noch nicht gehören.»

«Aber …»

«Nein, Maya!» Er trat einen Schritt von mir weg und sah mir eindringlich in die Augen. «Bring mich nicht noch mehr in Versuchung. Bitte! Es hat Zeit. Wir müssen nichts überstürzen.»

Ich holte tief Luft.

«Wenigstens das hier will ich richtig machen», sagte er. «Ich trag die Verantwortung für dich. Und ich schlage vor, dass wir beide hier verduften. Ich bring dich nach Hause.»

Ich wollte gerade etwas erwidern, als Mike seinen Kopf zur Tür reinstreckte.

«Hey, was ist mit euch? Keine Lust mehr auf Party?»

«Alter, merkst du, dass du hier störst?», knurrte Domenico.

«Nicki!» Hinter Mike tauchte Suleikas Kopf auf. «Nicki! Bitte komm schnell!» Ihre Stimme schwamm in Panik.

«Komm», sagte Domenico und zog mich an der Hand aus der Küche.

Auf dem Boden im Wohnzimmer lag Carrie und stöhnte. Suleika kniete neben ihr und drückte ihre Hand. «Nicki, sie hat Wehen! Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen!»

«Wehen? Aber das Baby soll doch erst im August kommen!» Domenico starrte Carrie entsetzt an.

Als Antwort schrie Carrie schmerzerfüllt auf, doch ihr Schrei ging in der lauten Musik und den vielen Stimmen unter. Kaum einer von den anderen Partygästen scherte sich um das schwangere Mädchen. Die hatten alle schon zu viel Bier und Joints intus, um die Welt um sich herum noch wahrzunehmen.

«Ganz ruhig, Carrie. Tief durchatmen. Schön regelmäßig», sagte Suleika. «Nicki, jetzt organisier schon ein Taxi!»

Domenico suchte sein Handy, bis ihm einfiel, dass es in seiner nassen Jeans steckte. Ich rannte zwischen den ganzen Leuten herum, bis ich endlich meine Handtasche in einer Ecke fand. Doch außer ein paar Taschentüchern war nicht mehr viel drin. Auch das Handy hatten mir diese Biester also geklaut!

Domenico schnappte sich schließlich Mikes Telefon und verzog sich damit in die Küche. Etwas später kam er wieder zurück, kniete sich neben Carrie nieder und streichelte über ihr schweißnasses Gesicht, bis das Taxi kam.

Mike half Domenico, Carrie bis zum Fahrstuhl zu tragen. Die paar wenigen Meter von der Haustür bis zum Taxi schaffte sie mit Domenicos Unterstützung zu Fuß. Draußen hatte es mittlerweile angefangen zu regnen. Domenico half Carrie beim Einsteigen. Ohne ein weiteres Wort schlüpfte ich zu den beiden ins Taxi und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

«Gebt Bescheid, wie es gelaufen ist», sagte Suleika. «Ich kümmere mich um eure nassen Klamotten.»

Das Taxi fuhr los. Carrie wimmerte vor Schmerzen und hatte ihren Kopf auf Domenicos Schoß gelegt. Nicki, der genauso wenig wie ich wusste, was man mit einer Schwangeren anstellen musste, die in den Wehen lag, strich ihr immer wieder beruhigend über den Bauch und brüllte den armen Taxifahrer auf Italienisch an, schneller zu fahren.

Dass solche Dinge aber auch immer dann passieren mussten, wenn meine Eltern nicht da waren!