17. Aufbruch nach London

Domenico wollte an diesem Abend gar nicht mehr ins Heim zurückkehren. Mama rief Lukas an und sagte Bescheid. Paps gab schließlich seinen Segen dazu, dass Domenico einige Tage bei uns bleiben konnte.

«Ich meine, es hat ja keinen Zweck, wenn du nicht schlafen kannst», brummte er. «Wir müssen aber schon mit deinem Bewährungshelfer reden.»

Bereits am nächsten Tag besuchten wir Carrie und Manuel im Krankenhaus. Carrie war ziemlich deprimiert, weil der Arzt ihr unverblümt klargemacht hatte, dass Manuels Überlebenschancen nicht hundertprozentig gesichert waren. Aber da hatten wir nicht mit Domenico gerechnet!

«Er wird nicht sterben, Carrie», sagte er mit entschlossener Stimme. «Daran glaub ich fest. Ey, ich hab schließlich für ihn gebetet!»

«Na ja … ich glaub halt nich an so Zeug», murmelte Carrie. Die Geburt hatte sie ziemlich mitgenommen. Ihr Gesicht wirkte aufgeschwemmt, und die stachligen Haare standen in alle Richtungen ab. Aber im Großen und Ganzen war sie wohlauf. Wir durften auch ganz kurz nach Manuel sehen, aber immer noch unter strenger Aufsicht. Ich stellte mir vor, was Mingo wohl zu seinem Sohn gesagt hätte. Diese Frage stellte ich Nicki vorsichtig, als wir uns auf dem Heimweg befanden.

«Er hätte sich wahnsinnig gefreut, das weiß ich», sagte er leise. «Aber ich glaube, nicht mal das hätte ihn von den Drogen weggebracht. Er war zu tief drin … Er hat sich am Schluss ja sogar in den Hals gestochen, weil er an den Armen und Beinen keine heilen Venen mehr hatte …»

Herr Bahlke war einverstanden, dass Domenico bis zu den Sommerferien bei uns blieb, unter der Voraussetzung, dass er weiterhin in seine Therapiestunden ging, denn das war ja auch ein Teil der Bewährungsauflagen. Außerdem sollte er sich in den Ferien einen Aushilfsjob suchen und sich für einen Vorkurs zur Vorbereitung auf den Hauptschulabschluss anmelden.

Ich war überglücklich, dass Domenico bei uns bleiben durfte, und er war es auch. Die nächsten Tage wurden richtig schön. Seit dem Besuch bei Pfarrer Siebold hatten wir eine ganz neue Beziehung zueinander gewonnen. Ich musste zwar immer noch eine Menge für die Schule machen, denn wir hatten dieses Jahr erst spät Sommerferien, und es standen noch die Abschlussprüfungen an. Aber wenn ich mittags nach Hause kam, zauberten Domenico und Mama ein Menü auf den Tisch, und wenn Mama viel zu tun hatte, übernahm Nicki das Einkaufen und Kochen sogar allein. Und er machte seine Sache echt gut. Sogar mein Vater lobte ihn.

«Wirklich lecker», meinte Paps. «Fast wie in einem sizilianischen Restaurant.»

Ich mochte es, wenn bei solchen Gelegenheiten dieses verlegene Strahlen in Nickis Augen trat. Das Kochen machte ihm offensichtlich Spaß.

Wir hatten seine Malsachen aus dem Heim geholt, und wenn ich lernte, war er fast die ganze Zeit bei mir im Zimmer und zeichnete. Bei schönem Wetter machten wir es uns im Garten gemütlich. Ich besaß mittlerweile eine ganze Sammlung Zeichnungen, die Nicki von mir angefertigt hatte. Ob ich lernte, schlief, lachte, kochte, dasaß und grübelte oder las – es gab wohl keine Stellung, in der er mich nicht schon zu Papier gebracht hatte. Ich staunte jedes Mal über seine treffsicheren, professionellen Striche, mit denen er innerhalb weniger Minuten eine Skizze von mir entworfen hatte.

Er verbrachte auch sehr viel Zeit im Krankenhaus bei Manuel und Carrie. Leider konnte ich wegen der Schule nicht immer dabei sein. Er erzählte mir, dass Manuel wegen des Entzugs oft heftige Krämpfe hatte und viel weinte und dass er ihn jedes Mal ganz fest in die Arme nehmen musste.

Mit seinen Schlafproblemen wurde er nun wieder besser fertig. Er hustete auch nicht mehr so häufig in der Nacht. Allerdings hatte er nicht den Mumm, einen weiteren Nikotinentzug zu starten.

«Es klappt ja doch nicht!», klagte er. «Ich hab ja echt fast alles probiert. Sitzt viel zu tief bei mir. Krieg regelrecht Panikattacken, wenn ich nix zu rauchen hab.»

«Aber du hast es doch schon einmal geschafft», bohrte Paps, der sich immer noch nicht damit abfinden konnte. «Herrschaft nochmal, das kann doch nicht unmöglich sein!»

Domenico zuckte ratlos mit den Schultern.

Und ich zerbrach mir den Kopf, wie ich ihm helfen konnte.

Schließlich erfand ich ein Spiel für ihn. Ich fertigte eine Tabelle an, in die er jeden Abend eintragen musste, wie viele Kippen er an jenem Tag geraucht hatte. Wenn er weniger als sieben schaffte, musste ich mir eine Belohnung für ihn ausdenken. Er fand diese Idee richtig cool.

Ich bestand die Abschlussprüfungen mit Bravour, und Frau Galiani war stolz auf mich. Paps übrigens auch. Die Schulabgänger hatten das Privileg, Familie und Freunde zur Schulfete einzuladen. Domenico freute sich besonders auf die gefüllten Waffeln. Beim Schießbudenstand verblüffte er die kleineren Jungs inklusive mich, indem er alle Büchsen mit einem Wurf abschoss und den Hauptpreis abstaubte – einen Riesensack voller Süßigkeiten! Doch um jeden Fotoapparat machte Domenico einen großen Bogen, sehr zum Ärger von Paps, der gerne ein paar schöne Fotos von uns gemacht hätte.

Drei Tage vor der London-Reise rief mich Frau Galiani zu sich und teilte mir mit, dass ein Junge aus unserer Klasse, Oliver, an Pfeiffer'schem Drüsenfieber erkrankt sei.

«Hör zu, Maya, hat Domenico mittlerweile einen Pass?», fragte sie. Ich bejahte.

«Nun, ich habe mich gefragt, ob er vielleicht an Olivers Stelle mit nach London kommen möchte? Wir können den Flug jetzt nicht mehr annullieren, die Kosten wären zu hoch, und für Domenico wäre das doch bestimmt ein ganz besonderes Erlebnis. Und ein klein wenig gehört er ja immer noch zur Klasse.»

Ich war natürlich sofort Feuer und Flamme und hätte die ganze Welt inklusive Frau Galiani umarmen können. Mit Nicki nach London reisen! Ich konnte mir nichts vorstellen, was mir mehr Spaß machen würde!

«Er muss natürlich mit seinem Bewährungshelfer abklären, ob er so kurzfristig ins Ausland darf, aber du kannst ihm ja mal den Vorschlag unterbreiten.»

Doch als ich zuhause begeistert mit dieser Neuigkeit heraussprudelte, gab es zum ersten Mal seit Tagen wieder richtig Zoff zwischen uns. Nicki war nämlich ganz und gar nicht angetan von dieser Idee, und ich war maßlos frustriert.

«Nach London mitkommen? Nee, danke …» Er wandte sich mit zusammengekniffenen Augen ab.

«Aber warum denn nicht?», entrüstete ich mich über seine Reaktion.

«Es geht nicht!», knurrte er düster.

«Warum nicht?»

«Weil's eben nicht geht. Ich kann nicht. Basta.»

Mit so einer Antwort hatte ich nicht mal im Traum gerechnet, obwohl ich Domenicos Unberechenbarkeit ja kannte.

«Hey, komm schon, sei kein Spielverderber.» Ich berührte sachte seine Schultern.

«Ey, lass mich!» Er schüttelte meine Hand ab.

«Das verstehe ich jetzt echt nicht, Nicki! Gibt es einen Grund dafür?» Alle Behutsamkeit in Ehren, aber darauf brauchte ich einfach eine Antwort!

«Komm, lass mich doch in Ruhe! Ich will nix mehr davon hören!» Er ließ mich einfach stehen, stürmte die Treppen hoch in sein Zimmer und knallte die Tür zu, so dass das ganze Haus erbebte.

Ich war total perplex. Musste er mich jetzt schon wieder so anbrüllen? Ich setzte mich eine Weile in die Küche, bis meine Zähne nicht mehr vor Wut knirschten, dann stand ich auf und ging entschlossen nach oben.

Domenico stand draußen auf dem kleinen Balkon vor seinem Zimmer und beruhigte seine Nerven natürlich mit einer Kippe. Ich huschte lautlos neben ihn. Er blies gedankenverloren den Rauch in den Sommerhimmel und schaute mich nicht an. Ich wartete.

«Tut mir leid!», seufzte er schließlich, als er den Stummel im Aschenbecher ausdrückte. «Ich würde ja schon gern mitkommen. Nur … weißt du, Mingo hat sich's immer mega gewünscht, nach London zu reisen. Er hat so oft davon gefaselt. Immer wenn wir uns 'nen Film angeguckt hatten, der irgendwo in London gedreht wurde, hat er mich vollgelabert, dass er unbedingt dorthin will. Ich hab ihm dann versprochen, dass wir das machen, sobald wir achtzehn sind und die ganze Kacke hinter uns haben. Und nun bin ich bald achtzehn, aber Mingo wird nie achtzehn sein …» Er steckte sich die nächste Zigarette an. Ich legte schweigend den Arm um ihn und lehnte mich an seine Schulter.

«Und da ist noch was: Wie soll ich das mit dem Schlafen hinkriegen? Du weißt, ich hab nur zwei Möglichkeiten: Entweder die anderen mit meinen bescheuerten Träumen nerven oder mich so mit Pillen zudröhnen, dass ich am nächsten Morgen nicht mehr ansprechbar bin. Bin ja deswegen früher nie mitgegangen auf die Klassenfahrten.»

«Da finden wir doch bestimmt eine Lösung», sagte ich zuversichtlich. «Ich kann ja mal mit Frau Galiani reden. Vielleicht gibt es ja Einzelzimmer oder ein Zweierzimmer mit Patrik zusammen. Dem macht das bestimmt nichts aus.»

«Und was ist mit Manuel? Ich kann ihn doch nicht allein lassen.»

«Es sind ja nur vier Tage. Ich meine …» Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. «… schließlich hast du für Manuel gebetet. Und Carrie ist ja auch noch da. Sie gibt sich ja wirklich alle Mühe.»

«Ich werd's mir überlegen, okay?», sagte er heiser. «Vielleicht komm ich ja mit. Aber nun lass mich bitte 'nen Moment allein, hm? Ich mag jetzt nicht reden.»

Ich nickte und trollte mich.

Am nächsten Tag wartete Domenico in der großen Pause vor dem Schultor auf mich: Er hatte sich entschieden, nach London mitzukommen. Und weil unsere Handys ja seit dem unfreiwilligen Bad im Fluss futsch waren und er sowieso einen Termin bei Herrn Bahlke gehabt hatte – der ihm die Erlaubnis für die Reise erteilt hatte! –, war er gleich hinterher vorbeigekommen, um mir die frohe Botschaft zu verkünden. Ich umarmte ihn stürmisch und drückte ihm einen innigen Kuss auf die Wange. Er lächelte verlegen.

Frau Galiani freute sich auch. Auf meine Frage, ob man für Domenico vielleicht ein Einzelzimmer bekommen könnte, versprach sie, ihr Möglichstes zu tun.

Jetzt, wo er sich entschieden hatte, war Domenico auf einmal extrem aufgeregt. Er verdiente sich bei Mama hundertfünfzig Euro Zusatz-Taschengeld, indem er die Wäsche bügelte, die Einkäufe erledigte, die Küche auf Hochglanz brachte und ein paar abgerissene Knöpfe an Paps' Hemden annähte – ja, auch das konnte er! Überhaupt, seit Nicki bei uns wohnte, hatte ich mal wieder so gut wie nichts beizutragen im Haushalt.

Am Abend vor der Abreise stopfte er seine Klamotten wild durcheinander in die Reisetasche, die Paps ihm geliehen hatte. Ich packte sie ihm wieder aus und brachte ein wenig mehr Ordnung in die Sache. Er lag grinsend auf dem Bett und sah mir dabei zu.

«Du bist so was von chaotisch!», schimpfte ich zum Spaß.

«Und du bist süß!», brachte er seinen Lieblingsspruch. Er drehte sich auf den Rücken und starrte verträumt an die Decke.

Ich stellte drei Wecker in sein Zimmer, damit er morgen auch ja rechtzeitig aufwachen würde. Wir mussten nämlich unverschämt früh aufstehen.

«Ey, was soll das? Hast du vor, mich umzubringen?», kommentierte er, als ich die drei Wecker in Reih und Glied neben seinem Bett platzierte.

«Nein, das ist die Spezial-Weckmethode für verpennte Langschläfer», gab ich ernsthaft zurück. «Und wehe, du stellst sie in der Nacht ab! Dann lernst du mich kennen!»

«Hilfe!», grinste er. «Süße Gefahr im Anmarsch!» Er packte mich, hob mich mit Leichtigkeit hoch und warf mich aufs Bett, um mich kräftig durchzukitzeln. Ich kreischte ausgelassen. Ich liebte es unheimlich, mit ihm so herumzualbern.

Mama fuhr uns am nächsten Morgen in aller Frühe zum Flughafen. Um sieben Uhr war Treffpunkt vor der Check-in-Halle. Ich war froh, dass Nicki sich mit allen Kräften dafür eingesetzt hatte, mein Portemonnaie wiederzubeschaffen. Das restliche Geld war zwar weg, aber alle meine Ausweise waren zum Glück unversehrt. Das hatte mir eine Menge Ärger erspart.

Domenico hielt sich zuerst dicht hinter mir, als wir zu den anderen stießen, besonders weil Herr Biedermann ihn mit vernichtenden Blicken bedachte. Er hatte nicht vergessen, dass Domenico ihm einst eine Menge Geld aus der Wohnung geklaut hatte. Doch Nickis Schüchternheit legte sich, als Patrik auf uns zukam und ihn anstrahlte.

«Hey Nicki, d-das ist mega cool, dass du mitkommst!», sagte er stolz. «Jetzt wirst d-du zum ersten Mal fliegen!»

Auch Ronny und Delia kamen herangetrabt.

«Hi Alter!» Ronny klatschte Domenico seine Pranke auf die Schulter. Auf seiner Oberlippe spross mittlerweile der erste Flaum. Wieder mal prüfte er unauffällig, ob er Domenico immer noch die zwei Zentimeter Körpergröße voraushatte. Ich musste mich abwenden, um nicht loszukichern und damit Delias Zorn heraufzubeschwören, die es überhaupt nicht leiden konnte, wenn man sich über ihren Ronny lustig machte.

André gesellte sich ebenfalls zu uns. «Alter, hab ich Kohldampf, hoffentlich geht's bald los!», murrte er.

Frau Galiani zählte, ob alle da waren: Domenico, Patrik, Delia, Manuela, Ronny, André, Isabelle, Yasemin, Katharina, Evelyn, Sarah, Julius, Rolf, Jeremy, Marc und ich. Die Klasse war seit dem letzten Jahr um einen Drittel geschrumpft. Einige hatten das Soll nicht erreicht und mussten 'ne Ehrenrunde drehen, andere hatten die Schule vorzeitig mit dem Hauptschulabschluss verlassen oder waren umgezogen.

Als wir den Zoll passierten, wurde Domenico total von Patrik in Beschlag genommen, der ihm unzählige technische Details über das Fliegen verklickerte. Es kam nicht sehr häufig vor, dass Patrik so lebhaft redete. Domenico, immer noch etwas müde, schien froh zu sein, einfach nur zuhören zu dürfen. Ich ließ die beiden Jungs quatschen und gesellte mich zu Manuela, die ganz glücklich war, jemandem die Ohren über ihren schrecklichen Bruder vollheulen zu dürfen.

Als wir später durch die Sicherheitskontrolle mussten, geriet Domenico allerdings in eine unangenehme Situation. Weil der Metalldetektor anschlug, wurde er gebeten, seinen Gürtel und die Armbänder mit den Nieten abzulegen. Ich reagierte prompt und stellte mich schützend hinter ihn, so dass niemand die Gelegenheit bekam, einen Blick auf seine vernarbten Handgelenke zu werfen. Da er seine Reisetasche wie alle anderen beim Check-in aufgegeben hatte und kein Handgepäck bei sich trug, sondern sein Geld, seine Papiere und ein paar Nikotinkaugummis in meine Handtasche geschmissen hatte, wurde im Gegenzug dafür mir die Tasche von den Beamten komplett ausgeräumt. Auf Isabelles Lippen kräuselte sich ein schadenfrohes Lächeln. So eine dumme Kuh! Ich hätte ihr eine scheuern können.

Meine Laune hob sich erst wieder im Flieger. Ich saß mit Domenico und Patrik zusammen in einer Dreierreihe. Natürlich hatten wir Nicki den Platz am Fenster überlassen, damit er seinen ersten Flug richtig genießen konnte. Doch er war ziemlich schweigsam. Patrik, der dieses Schweigen falsch deutete, schien offenbar zu glauben, dass Nicki sich fürchtete.

«Keine Angst, N-nicki! S-sie machen eine Menge Sicherheitschecks vorher.» Im Grunde war es verwunderlich, dass Patrik sich vor dem Fliegen nicht fürchtete, wo doch sein Vater als Pilot bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Aber er wollte nun mal unbedingt in die Fußstapfen seines verstorbenen Vaters treten.

«Ich hab keine Angst vor 'nem Absturz oder so», versicherte Domenico leise. Mehr gab er nicht von sich, und wir ließen ihn in Ruhe. Die ganze Zeit starrte er unentwegt aus dem Fenster und beobachtete fasziniert, wie die Welt unter uns immer kleiner wurde, als der Flieger sich in die Lüfte hob. Zu gern hätte ich seine Gedanken mit ihm geteilt, die nun bestimmt darum kreisten, wie sehr Mingo ihm auf dieser Reise fehlte. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und döste ein wenig vor mich hin, während Patrik in einer Zeitung blätterte. In der Dreierreihe neben uns lag Delia, die eine regelrechte Neurose vor dem Fliegen hatte, in Ronnys Armen und klammerte sich an ihm fest, bis das Flugzeug wieder sicher auf der Erde stand.

Das Wetter in London zeigte sich bei unserer Ankunft gleich von seiner typisch englischen Seite: Wind, Wolken und ein bisschen Regen. Doch laut Frau Galiani hatten die Wetterprognosen für den nächsten Tag bereits eine Besserung versprochen. Nachdem wir bei der Gepäckausgabe unsere Reisetaschen abgeholt und uns am Ausgang eingefunden hatten, teilte uns Frau Galiani in drei Gruppen auf und drückte jedem Gruppenleiter eine Karte in die Hand.

«Wenn wir uns in dem Getümmel verlieren sollten, treffen wir uns am Piccadilly Circus. Dort ist auch unsere Jugendherberge», teilte sie mit.

«Ist das nicht der Platz mit den vielen Leuchtreklamen?», warf Domenico, der inzwischen wieder ansprechbar war, ganz überraschend ein. «Den hab ich schon in Filmen gesehen.»

«Ja, genau!», bestätigte Delia, die schon zweimal in London gewesen war, während Isabelle hinter vorgehaltener Hand etwas von Bildungslücke tuschelte.

Das U-Bahn-Netz zuhause war jedenfalls reichlich mickrig im Vergleich zur Underground hier in London. Vor allen Dingen ertranken wir regelrecht im Gewühl. Die ganze Fahrt verbrachten wir eingequetscht zwischen Menschenkörpern. Domenico, dessen Kreislauf in der stickigen Luft beinahe kollabierte, kaute nervös auf einem Kaugummi rum und hielt sich an mir fest.

Es war die Erleichterung des Tages, als wir endlich aussteigen konnten. Domenico, der sich schnell wieder erholte, war nun nicht mehr zu bremsen; er stürmte voraus und bahnte uns einen Weg durch die Menschenmassen. Schließlich erreichten wir den Ausgang und standen mitten auf dem berühmten Piccadilly Circus. Die riesigen Leuchtreklamen warben für Sanyo und TDK. Und für den neusten Kinofilm und weitere Attraktionen.

«Ey, das sieht ja echt aus wie im Film!», staunte Domenico und vergaß total, den coolen Typen zu markieren. Er war komplett aus dem Häuschen und packte mich am Ärmel. «Maya, guck mal, das sind die roten Busse! Ey, die sind ja voll echt! Ich dachte, die gäb's nur im Kino.»

«Willkommen in London, Nicki!», lächelte Delia, während uns Frau Galiani wieder mal zählte. Isabelle musterte uns und verdrehte verächtlich die Augen.

Domenico hatte nicht mal registriert, dass Delia ihn Nicki genannt hatte. Er schleifte mich ein paar Meter weiter Richtung Straße und zeigte aufgeregt auf die Autos. «Maya, sag mal, sitzen die Autofahrer hier wirklich auf der rechten Seite?»

«Nein, du irrst dich nicht, in England läuft der Verkehr tatsächlich andersrum», grinste ich. Nicki war wirklich witzig. Aber er hatte ja schließlich auch die halbe Schule verpennt.

«Das muss ich Mingo erzäh…!» Seine Miene erstarrte auf der Stelle. Ich musste ihn mit mir zerren, weil er sich sonst förmlich in eine Salzsäule verwandelt hätte. Mist! Hoffentlich würde ihn die Trauer hier nicht ständig foltern.

Die Jugendherberge war gleich um die Ecke. Wir ließen unsere Reisetaschen auf den Boden plumpsen und warteten, bis uns Frau Galiani beim Empfang angemeldet hatte.

Als wir unsere Vierergruppen bildeten – Jungs und Mädchen getrennt –, winkte sie Domenico und mich heran.

«Hört zu, es hat leider nicht mehr geklappt mit dem Zimmer. Es gibt keine freien Einzel- oder Zweierzimmer mehr, Domenico. Du musst dich mit den anderen Jungs in einem Viererzimmer einquartieren», meinte sie bedauernd. «Ich hoffe, es geht trotzdem mit dem Schlafen. Sonst darfst du dir gern morgen Vormittag frei nehmen und dann ein wenig Schlaf nachholen, wenn es heute Nacht nicht klappt.»

«Schon okay», meinte Domenico, ohne mit der Wimper zu zucken, doch ich kannte seine Augen gut genug, um zu wissen, dass er sich insgeheim bereits einen Ausweg aus der Situation zu bahnen versuchte. Er folgte den anderen Jungs, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Ich musste unbedingt auf ihn aufpassen.

Ich tat mich natürlich mit Delia und Manuela zusammen, und zu uns stieß noch Evelyn. Sie und Delia belegten sofort die oberen Stockwerke der beiden Etagenbetten. Mir war es recht. Es konnte nur von Vorteil sein, das Bett direkt neben der Tür zu haben. Man wusste ja nie …

Ich verstaute meine Sachen im Spind und machte mich auf die Suche nach Nicki, doch er war nirgends auffindbar. Ich hätte mich so gern die zwei Stunden Ruhezeit bis zu unserem Ausflug zu Madame Tussauds mit ihm in eine versteckte Nische verkrochen und ein bisschen gekuschelt. Doch offenbar zog er irgendwo mit Patrik herum, denn auch von dem fehlte jede Spur. So ging ich zurück ins Zimmer und legte mich aufs Bett. Es war vielleicht durchaus nützlich, die Augen ein wenig zu schließen, bevor das nächste Abenteuer losging …