Ich fand Domenico später wieder im Aufenthaltsraum, zusammen mit den anderen Jungs. Er sah mich richtig verliebt an und kam mit lässig ausgebreiteten Armen auf mich zu. Fast schon aus Gewohnheit schnupperte ich an ihm.
«Ey, ich hab heute noch keine einzige geraucht», klärte er mich stolz auf. «Ich hab übrigens deine Tabelle mitgenommen. Wenn ich es die ganze Zeit hier in London durchhalte, dann …»
«… schmeißen wir zuhause eine Party für dich!», erwiderte ich gut gelaunt.
«Party? Wovon redet ihr?», fragte Ronny neugierig.
«Geht dich nix an, Skywalker», winkte Domenico ab. Ronny machte ein langes Gesicht.
Unterwegs in Richtung des Stadtviertels Marylebone – wir mussten an der Station Baker Street aussteigen – verpflegten sich die besonders Hungrigen an einer Schnellimbiss-Bude. Domenico und ich teilten uns einen Cheeseburger, während Delia nur an einer Karotte knabberte. Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte man nur so wenig essen!
Wie zu erwarten gewesen war, drängelten sich die Leute regelrecht in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Die Menschenschlange vor dem Gebäude mit der grünen Kuppel reichte bis um die Ecke der nächsten Seitenstraße. Aber schließlich wurde einem drinnen die Wartezeit mit einer Menge Attraktionen versüßt. Domenico und ich hatten großen Spaß daran, unsere Hände mit den Handabdrücken berühmter Stars zu vergleichen.
«Mann, hab ich kleine Pfoten», musste Nicki hinterher feststellen. Isabelle, die sich offenbar für solche Aktivitäten zu erwachsen vorkam, rollte wieder nur abschätzig mit den Augen.
Wir schoben uns geduldig Schritt für Schritt weiter voran Richtung Kassen, die sich irgendwo im oberen Stock befinden mussten. Domenico hatte seine Arme von hinten um meine Taille geschlungen und bewegte sich mit mir im Takt zu dem Song, der im Hintergrund dudelte. Es war «Don't you forget about me» von den Simple Minds. Ich fühlte mich zuerst ein bisschen unbehaglich vor allen anderen, aber ich wollte Nicki nicht aus seiner guten Laune reißen. Und insgeheim war ich schon ein wenig stolz auf die neidischen Blicke, die ein paar fremde Mädchen mir zuwarfen.
Prompt schnappte sich Ronny Delia und machte mit ihr genau dasselbe.
«Nicki, fällt dir auf, dass der dir alles nachmacht?», flüsterte ich kichernd. Er grinste nur vielsagend und legte seine kühlen Lippen auf meinen überhitzten Nacken.
Endlich waren wir am Ziel. Frau Galiani löste gleich ein Gruppenticket. Der Eintritt wurde aus der Klassenkasse bezahlt. Ich packte meine Kamera aus, um sie bei Bedarf gleich zur Hand zu haben, während wir mit dem Lift zur ersten Halle transportiert wurden. Ich überlegte, wie ich es anstellen sollte, heimlich ein paar Bilder von Nicki zu knipsen. Vermutlich würde es unmöglich sein. Er hatte mich auf dem Flughafen ja nicht mal einen Blick in seinen Pass werfen lassen.
«Wir treffen uns in zwei Stunden wieder draußen», ordnete Frau Galiani an, so dass wir uns frei bewegen konnten.
«A-List Party», las Domenico auf dem Schild neben der Halle.
«Na klar, das sind zurzeit die angesagtesten Stars!», klärte ihn Delia auf.
In dem Getümmel war es gar nicht so einfach, Menschen von Wachsfiguren zu unterscheiden.
«Ich will die Beckhams sehen!» Delia war ganz in ihrem Element und raste mit ihrem Fotoapparat von einer Ecke in die andere.
Manuela zog mich am Ärmel. «Machst du ein Bild von mir mit Orlando Bloom?»
«Klar doch», sagte ich. Manuela strahlte und stellte sich neben den Star aus Wachs.
Delia kam wieder zurückgeschossen. «Hat einer von euch die Beckhams gesehen?»
«Webcams? Wieso, werden wir gefilmt?», fragte Ronny einfältig.
«Ronny, du Dummkopf! Ich sagte: die Beckhams. Posh und Becks! Victoria und David!»
«Die stehen dort hinten in der Ecke», sagte Domenico ruhig und wies mit dem Daumen in eine Nische ganz am Ende des Raums.
Delia strahlte und warf ihm zum Dank ein dickes Kusshändchen zu.
«Ach, Beckhams!», muffelte Ronny. «Kann sie doch gleich sagen!»
Domenico grinste ihn an und blieb nachdenklich vor Keira Knightley stehen.
«Findest du sie schön?», fragte ich mit einem leichten Anflug von Eifersucht.
«Viel zu dünn!» Er machte eine abfällige Handbewegung.
«Ey, was denn, Alter, stehst du etwa auf fette Frauen?» Ronny starrte ihn verblüfft an.
Domenico verdrehte die Augen. «Ne richtige Frau kann ruhig was auf den Rippen haben», meinte er. «Ich bin schließlich Italiener. Mit so dünnen Hungerhaken kann ich nix anfangen.»
«Hähä!», machte André. «Ganz meine Meinung!»
«Hat jemand von euch Johnny Depp schon gesehen?», fragte Manuela verzweifelt.
«Nicht, dass ich wüsste», sagte Domenico.
«Johnny Depp?» Delia war wieder aufgetaucht und schwenkte strahlend ihre Kamera. «Leute, ich hab übrigens ein geniales Foto von mir und den Beckhams! Hey, Nicki, wir müssen unbedingt ein Foto von dir und Johnny Depp machen. Ihr seht euch irgendwie ähnlich, finde ich.»
Domenico erwiderte nichts darauf. Ich wusste nicht so recht, ob ich mir die vage Hoffnung gestatten durfte, dass wir ihn dazu kriegen würden. Außerdem war ich ein wenig pikiert über seine komische Bemerkung vorhin über Frauen. Während ich noch grübelte, umfassten zwei Hände meine Hüften, und ehe ich wusste, wie mir geschah, lag ich an Nickis Brust, bekam einen Kuss auf die Wange und wurde in den nächsten Raum geschoben.
Dort klang es ganz nach Hollywood: Die berühmte Twentieth-Century-Fox-Fanfare ertönte, und die amerikanische Stimme eines Showmasters begrüßte die «Ladies and Gentlemen» mit überschwänglichen Phrasen.
«Hört ihr das?», quakte Ronny aufgeregt.
«Was?», fragte Delia verwirrt.
«Star Wars!» Und schon tauchte er in der Menge ab, auf der Suche nach seinen galaktischen Idolen. André tippte sich an die Stirn und boxte gleich darauf die Leute beiseite, um sich den Terminator aus der Nähe anzusehen.
«Männer!» Delia schüttelte den Kopf. «Was magst du eigentlich für Filme, Nicki?», fragte sie Domenico, der mich wieder losgelassen hatte. Mir gefiel es überhaupt nicht, dass sie ihn Nicki nannte. Dieser Name gehörte schließlich nur Leuten, die ihm besonders nahestanden. Vielleicht musste ich sie mal darüber aufklären.
«Weiß nicht. So 'nen richtigen Lieblingsfilm hab ich gar nicht. Ich guck mir alles gern an. Sogar Liebesschnulzen.»
«Echt?», stöhnte André, der wieder neben uns auftauchte. «Diesen Herz-Schmerz-Kitsch? Ich dachte, so'n Typ wie du steht auf knallharte Actionthriller, Mann!»
Domenico winkte gelangweilt ab. «Das hab ich selber genug erlebt, das brauch ich mir nicht noch extra anzugucken.»
Ronny kam mit bestürztem Gesicht zurück, wie jemand, der stundenlang vergeblich durch eine öde Wüste geirrt war.
«Sie sind nirgends!», klagte er.
«Was, Ronny-Schätzchen?», säuselte Delia.
«Na, Star Wars … ich hätte so gern ein Foto mit Darth Vader und mir gemacht.»
«Die tauschen die Figuren halt regelmäßig aus, Schätzchen», sagte Delia ungewöhnlich sanft und verstrubbelte Ronny neckisch das Haar.
«Seht, dort vorne steht Johnny Depp!», rief Manuela. «Hey, Domenico, los, wir machen ein Foto von dir und von ihm!»
«Nein», sagte er nur.
«Aber warum nicht?» Delia zog einen Flunsch. «Maya hätte doch bestimmt auch Freude daran.»
«Lasst mich mit dem ollen Kram bitte einfach in Ruhe!» Domenicos Augen funkelten im eisigsten Grau. Sofort gingen in mir die Warnlämpchen an.
«Delia, lass ihn!», warnte ich. Wenn er diesen Blick draufhatte, war wirklich nicht mit ihm zu spaßen. Patrik kam mir unerwartet mit einem Ablenkungsmanöver zu Hilfe: Er packte Nicki am Arm und zerrte ihn Richtung Ausgang.
«K-komm, Nicki, wir gucken uns die Sportler an!»
Delia schüttelte beleidigt den Kopf, nachdem die Jungs im Ausgang verschwunden waren.
«Er hasst es, sich fotografieren zu lassen», klärte ich sie auf. «Frag mich bitte nicht, warum. Es ist einfach so.»
«Echt? Das versteh ich wirklich nicht. Er sieht doch so toll aus. Na warte, den kriege ich schon noch vor die Linse, das schwör ich dir!»
«Ich würde es an deiner Stelle lieber nicht versuchen.»
«Und ich würde mir das an deiner Stelle nicht gefallen lassen! Also bitte, du hast ja nicht mal ein vernünftiges Passfoto von ihm. Das ist doch unerhört!»
Ich sagte nichts mehr und folgte den anderen in den nächsten Saal.
«Britney!», kreischte Delia voller Freude, als wäre die in Wachs gegossene Britney Spears eine alte Freundin von ihr.
«Ronny, bitte mach ein Foto von ihr und von mir! Schnell!»
Sie drückte ihrem verdutzten Freund die Kamera in die Hand und schaffte es, sich in eine ähnlich verrenkte Pose wie Britney Spears zu schmeißen. Die blonden Wellen wallten ihr dabei fast noch schöner über den Rücken, als die von Britney es taten, sehr zum Erstaunen einiger Zuschauer und zur Verblüffung von Ronny, der seine Freundin mit offenem Mund anstarrte und beinahe vergaß, das Foto zu schießen.
Ich wandte mich suchend nach allen Seiten um. Wo waren bloß Nicki und Patrik? Hatte Patrik nicht etwas von Sportlern gesagt?
Ich irrte durch die Menschen und Wachsfiguren und hielt nach allen Richtungen Ausschau, bis ich mich auf einmal in der Halle mit den Sportstars wiederfand. Sie war riesig, nicht überschaubar. Wie sollte ich die Jungs da finden? Irgendwie gemein von ihnen, einfach abzuhauen.
Ich raste an Boris Becker, Andy Murray und Muhammad Ali vorbei und verrenkte beinahe meinen Hals, und endlich entdeckte ich Domenico und Patrik etwas abseits in einem beinahe menschenleeren Nebengang, wo ein paar ausländische Sportskanonen ausgestellt waren. Domenico stand vor einem Athleten mit rötlichem Haar und starrte zu ihm hoch.
Patrik warf mir einen bangen Blick zu und legte beschwörend den Zeigefinger auf die Lippen, als ich mich zögernd zu ihnen gesellte. Ich schaute erst Nicki an – und dann den Athleten aus Wachs. Und da dämmerte mir, was da abging. Die drohende Atmosphäre, die sich um Domenico aufgebaut hatte, wuchtete mich beinahe zurück.
«Ey, da seid ihr ja!» Ronny kam angestürmt und merkte offensichtlich nichts von der kriselnden Stimmung. «Wer ist denn das?» Er las den Namen des Athleten auf dem Schild und zuckte ratlos die Schultern. «Morten Janssen. Kenn ich nicht.»
Ich starrte auf das Schild. Blinzelte und las den Namen noch einmal. Das war nicht möglich, oder?
«Nicki …» Ich berührte sehr vorsichtig seinen Arm.
«Ey, wer soll das sein?», fragte Ronny.
«Er ist m-mehrfacher Weltmeister und Olympiasieger im Zehnkampf», übersetzte Patrik beflissen das auf dem Schild Geschriebene.
«Boah, Alter, langweilig.» Ronny bummelte weiter. «Interessiert doch kein Schwein!»
Ich schluckte und tauschte mit Patrik einen vieldeutigen Blick. Wir wussten beide nicht, ob wir etwas sagen sollten. Fast wie in Trance streckte Domenico seine Hand aus und berührte die Wachsfigur, betastete zögernd deren Wachshände, hielt sich die eigenen Finger vor die Augen und verglich sie dann mit den Fingern des Sportlers.
Ich wagte keinen Mucks. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so merkwürdig gefühlt. Patrik und ich blieben angespannt in Blickkontakt, jeden Moment damit rechnend, dass etwas explodieren würde. Ich betete inständig, dass jetzt kein Unglück geschehen würde. Dass Nicki innerlich nicht wieder abstürzen und durchdrehen würde. Aber er stand einfach nur da, als wäre er selber zu Wachs erstarrt.
Ich hätte wirklich alles darum gegeben, die Antwort zu wissen. Die Antwort auf die Frage, ob dieser Mann hier wirklich Domenicos Vater war. Und ich wusste, dass ich nicht so schnell wieder die Gelegenheit haben würde, Morten Janssen in Lebensgröße zu betrachten. Also setzte ich alles daran, in diesem kurzen Augenblick so viele Details wie möglich in meinem Gedächtnis unterzubringen.
Der Athlet war eindeutig größer als Domenico, das stand fest. Aber seine Hände waren wirklich nicht sehr groß … Ich stellte mich ein paar Schritte weiter weg, um sein Profil besser studieren zu können. Der Stirnansatz … der weiche Zug um die Lippen … Und fiel sein Haar nicht ganz ähnlich über die Augen wie das von Nicki? Zweifelssohne, Morten Janssen sah ziemlich gut aus, aber Nicki hatte definitiv mehr Gene von seiner Mutter geerbt. Bis auf seine Haare, die eine Mischung zwischen dem rötlichen Haar des Vaters und dem dunklen Haar der Mutter waren. Vorausgesetzt, man ging wirklich von der These aus, dass diese Wachspuppe hier das Abbild seines Vaters darstellte.
Ein prüfender Blick auf die Augen des Sportlers, die mich in demselben kühlen Blaugrau anstarrten wie die von Domenico, ließen die allerletzten Warnlämpchen in mir aufblinken – ich musste schleunigst handeln, bevor bei Domenico die Sicherungen durchbrennen würden.
«Nicki, komm», hörte ich mich flüstern, und dann packte ich einfach seine schweißnasse Hand und zog ihn von dem Sportler weg. «Komm, wir gehen raus.»
Domenico folgte mir ergeben, und ich wusste instinktiv, dass es Rettung in allerletzter Sekunde gewesen war. Und ich wusste auch, dass wir nun rausmussten, und zwar ganz raus! Weg von diesem Gebäude. Ohne links und rechts zu schauen, bahnte ich uns einen Weg durch die Leute, hielt Nickis zitternde Hand fest und suchte verzweifelt nach einem Notausgang. Ich war heilfroh um Patriks Beistand. Er war es schließlich, der einem Angestellten stammelnd unsere Notlage auf Englisch erklärte. Der freundliche Herr hatte Verständnis für uns und geleitete uns zu einer Seitentür. Er wünschte uns viel Glück.
Draußen im Freien kauerten wir uns einfach auf dem Bürgersteig an einer Hauswand nieder. Die vorher dichten Wolken hatten sich zu Schleierwolken aufgelöst, und die Sonne schien nun mit einem seltsam zwielichtigen Farbenspektrum vom Himmel.
Um uns herum drehte sich die Welt in der üblichen Hektik weiter: Fußgänger, die uns fast über den Haufen rannten, stinkende Laster und hupende Autos, die die Straßen verstopften und uns mit ihren Abgasen einnebelten. Es war kein besonders gemütlicher Ort, um ein derart groteskes Erlebnis zu verarbeiten.
Domenicos Augen sahen aus, als wären sie Glasmurmeln. Er schlang zitternd die Arme um seine Knie. Seine Stirn und sein Hals waren in Schweiß gebadet; die Haare im Nacken ringelten sich aufgrund der Feuchtigkeit. Ich war vollauf damit beschäftigt, mir vorzustellen, was jetzt gerade in ihm vorgehen mochte. Auch Patrik schwieg, und er schien das Gleiche zu denken wie ich. Wenn Morten Janssen wirklich Domenicos Vater war, dann musste irgendwo noch eine ganz tiefe Wunde verborgen liegen, die in all den Jahren zwar von Schorf bedeckt gewesen war, aber zu der niemals irgendjemand hatte vordringen können. Ein Geheimnis, das Domenico fest in sein Herz eingeschlossen hatte, weil er die Antwort vielleicht selber gar nicht wissen wollte.
Schließlich nahm ich einfach Nickis Hand und begann, seine klammen Finger zu massieren, während ich mich fragte, ob sich dieses Rätsel jemals lüften würde.
«Maya? Patrik? Seid ihr das?» Frau Galianis nüchterne Stimme erinnerte uns daran, dass wir immer noch mitten in London auf einem Bürgersteig saßen.
«Was ist passiert? Wir haben euch schon vermisst!»
«Äh … Domenico war es ziemlich übel. Er musste dringend an die frische Luft.» Ich hoffte, dass die hektischen Flecken in meinem Gesicht nicht verraten würden, was sich vorhin für eine Tragödie abgespielt hatte. Die ganze Klasse starrte auf uns runter.
«Aha!» Frau Galianis durchdringende Augen blieben an Domenico haften. Ich überlegte, ob ich ihr später eine genauere Erklärung liefern sollte, denn sonst würde sie vermutlich aus seinem stumpfen Blick die falschen Schlüsse ziehen. Zum Glück war Frau Galiani so einfühlsam und verzichtete auf weitere Fragen. Patrik schirmte uns vor den neugierigen Augen der anderen ab, während ich Domenico auf die Beine half.
Etwas später, als wir zurück zum Piccadilly Circus fuhren, verhielt sich Domenico so cool wie immer. Geübt darin, Geheimnisse in die tiefsten Kammern seines Herzens zu versenken, deutete nichts in seinem Gesicht mehr darauf hin, was er vorhin durchgemacht hatte. Doch er schwieg und ging nicht mal auf Ronnys nerviges Gequassel ein. Delias neugieriger Blick verfolgte mich beinahe auf Schritt und Tritt. Ich überlegte, mit was für einer möglichst nichtssagenden Erklärung ich sie abspeisen konnte.
Zum Abendbrot besorgten wir uns Indian Food vom Take-away-Stand, der gleich um die Ecke war. Domenico behauptete allerdings, keinen Hunger zu haben, und verkroch sich ganz allein in eine Ecke, während wir uns im Aufenthaltsraum über Fried Rice, Chicken Masala und Lamb Tikka hermachten. Ich ließ Nicki natürlich nicht aus den Augen und quälte mich mit der Frage, ob er sich nun Gesellschaft wünschte oder lieber allein sein wollte.
Nachdem wir uns satt gefuttert hatten, brachten wir den Rest des Abends mit Spielen zu. Außer uns waren noch andere Gäste da, doch der Raum war zum Glück in mehrere Sitzecken aufgeteilt, so dass wir zwei große Tische für uns in Beschlag nehmen konnten. Als einige von uns sich zum Kartenspielen zusammensetzten, tauchte Nicki wieder aus seiner einsamen Nische auf, kam auf uns zu und quetschte sich neben mich auf die Sitzbank. Sein Körper war ganz heiß.
«Ich kenn ein paar Spiele aus Sizilien», sagte er nur und schaffte es damit, die wissbegierigen Fragen der anderen betreffend seines Verhaltens abzuwenden. Es stellte sich heraus, dass er wirklich eine Menge Kartenspiele kannte.
«Wir haben sogar selber eins erfunden, das haben wir ‹Skatto mortale› genannt», erzählte er stolz. «Haben wir manchmal bis spät in die Nacht hinein gespielt, Chicco, Nonno, Jen und ich!»
«Mingo nicht?», platzte Manuela heraus.
Domenico warf ihr nur einen Blick zu.
Ein wenig später verschwand Manuela in ihrem Zimmer und kam nicht wieder zurück.
Nachdem wir sämtliche Spiele durchgezockt hatten, maßen die Jungs ihre Kräfte beim Armdrücken. Domenico wollte erst nicht mitmachen, doch Ronny und André überredeten ihn schließlich.
«Hey, Alter, komm schon», drängelte André. «Ich muss dich doch wenigstens ein einziges Mal besiegen!»
Domenico setzte sich schweigend gegenüber von André an den Tisch. André legte seine Riesenpranken um Domenicos Finger. Ich holte Luft und vergaß, sie wieder auszuatmen. Dieses Mal sah es wirklich nicht so aus, als ob Nicki gewinnen würde.
Doch ich hatte mich wieder mal erstaunlich geirrt. Wider Erwarten stellte Domenico einmal mehr seinen unglaublichen Kampfgeist unter Beweis. Er musste zwar wahnsinnig fest die Zähne zusammenbeißen, denn André war wirklich ein hartnäckiger Gegner, doch am Ende siegte Nicki doch mit einem kleinen Quäntchen mehr Stärke.
«Mann, wie machst du das bloß?», staunte Ronny.
Domenico lächelte. «Taktik», meinte er lässig. André rieb sich mit der miesepetrigen Miene eines Verlierers die schmerzenden Finger.
Die vier anderen Jungs, Jeremy, Marc, Rolf und Julius, sahen aus einer gewissen Entfernung zu. Sie hatten sich bis jetzt nicht näher als etwa drei Meter an Domenico herangewagt. Yasemin und Sarah hatten sich ebenfalls in eine Ecke verzogen und spielten zu zweit Mastermind. Auch sie blickten ab und zu fast ehrfürchtig zu Domenico rüber. Sie waren irgendwie in der Lage, in der ich noch vor zwei Jahren gewesen war.
Frau Galiani erschien, um den nächsten Tag mit uns zu planen. Es war schon ziemlich spät; Herr Biedermann und Frau Lindner hatten sich bereits in ihre Zimmer verzogen.
«Nun, damit wir allen Wünschen gerecht werden können, werden wir uns für morgen in drei Gruppen aufteilen. Diejenigen, die ins British Museum wollen, kommen mit mir; wer sich für das London Dungeon Horrorkabinett interessiert, darf sich Herrn Biedermann anschließen. Und wer nichts von alldem möchte, kann mit Frau Lindner auf Shopping-Tour gehen. Am Mittag treffen wir uns dann beim Piccadilly Circus und gehen von dort aus gemeinsam weiter Richtung Westminster an die Themse. Damit bringen wir so ziemlich alle Wünsche unter einen Hut, glaube ich.»
Die Jungs schlossen sich alle ziemlich einstimmig der Gruseltruppe an, bis auf Domenico und Patrik.
«Pah, Shoppen ist doch was für Weiber!», dröhnte Ronny großmäulig, worauf Delia ihn mit ihrem Blick beinahe vernichtete.
Patrik interessierte sich natürlich für das British Museum. Und Domenico fragte mich, was ich am liebsten machen würde.
«Ich möchte gern shoppen gehen», sagte ich. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter. «Gebongt», meinte er. «Ich kauf dir was Schönes.»
Schließlich schickte uns Frau Galiani ins Bett. Ich wollte unbedingt mit Nicki noch ein paar Minütchen allein sein, doch er verschwand einfach, ohne mir gute Nacht zu wünschen. Ich war ziemlich enttäuscht, doch weil ich ihm versprochen hatte, ihn in solchen Zeiten in Ruhe zu lassen, beschloss ich, mich nicht auf die Suche nach ihm zu machen. Ich ging in den Schlafraum, um meine Toilettenartikel zu holen. Dort fand ich Manuela heulend auf ihrem Bett, mit zerzaustem Haar und den Kopf in ihr Kissen gewühlt.
«Manu?», fragte ich leise. Sie hob sofort ihren Kopf, als hätte sie darauf gewartet, dass jemand kam und sie tröstete. Ihre Augen sahen erbärmlich aus, total geschwollen.
«Was hast du denn?»
«Nichts. Es ist bloß alles so ungerecht», schniefte sie. «Warum musste Mingo sterben? Kannst du mir das sagen?»
«Ach, Manu …» Ich setzte mich zu ihr auf die Bettkante. «Ich verstehe dich ja, aber …» Die Stunde der Wahrheit war nun offensichtlich gekommen.
«Ich brauche diese Träume einfach!», seufzte sie theatralisch und starrte zur Decke. «Ich kann gar nicht mehr ohne sie leben. Echt, mein Bruder und meine Eltern sind so nervig, ich weiß gar nicht, wie das alles enden soll. Und Mingo hätte mich bestimmt verstanden.»
«Was träumst du eigentlich genau, Manu?»
«Alles Mögliche. Ich stelle mir vor, wie es gewesen wäre, mit Mingo einfach durchzubrennen … irgendwohin nach Italien … in dieses schöne Dorf da, Taormina … wo wir einfach frei gewesen wären, nur wir zwei, wo wir im Meer gebadet hätten und wo meine Liebe ihm geholfen hätte, von den Drogen wegzukommen … und wo ich durch seine Liebe wieder mehr Selbstbewusstsein gekriegt hätte … so, wie du es durch Domenico bekommen hast. Ich liebe diese Träume, Maya.»
Ich holte tief Luft. Es war an der Zeit, Manuela sanft, aber bestimmt aus ihren Träumen aufzuwecken. Aber ich konnte ja nur zu gut verstehen, dass man manchmal solche absurden Träume brauchte, um die karge Realität zu ertragen.
«Manu, hör zu. Ich bin zwar mit Nicki zusammen, aber es ist nicht alles eitel Sonnenschein, das kann ich dir schriftlich geben. Und mit Mingo wäre es doppelt so schwierig geworden. Und da ist noch etwas anderes. Mingo hat ein Kind … ich meine, er hatte eine Freundin, mit der er kurz vor seinem Tod ein Kind gezeugt hat.»
Ich hatte Manu noch nie mit so einem bass erstaunten Gesichtsausdruck gesehen.
«Er … er hat ein Kind?»
Ich nickte. «Einen Sohn. Er heißt Manuel.»
«Manuel?» Ich wusste nicht, ob sie im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen oder den Verstand verlieren würde. «Manuel?» Sie wiederholte den Namen mindestens fünfmal. «Er … heißt tatsächlich Manuel?»
Und jetzt kapierte ich, warum sie so außer Fassung war.
«Er hat sein Kind nach mir benannt!», kreischte sie. «Maya, er hat sein Kind tatsächlich nach mir benannt! Weil er mich eben doch geliebt hat! Ich weiß es! Mein Brief hat ihn so glücklich gemacht, dass er mich nicht vergessen konnte!»
Ich wusste nicht, ob es wirklich so war. Aber wenn Manuela mit diesem Gedanken glücklich war, wollte ich ihr das nicht mehr nehmen. Im Grunde genommen war ich sogar froh. Ich hatte mir ihre Reaktion viel dramatischer vorgestellt.
Ich schnappte mir meinen Kulturbeutel sowie mein Handtuch und verließ den Raum, um mich bettfertig zu machen. Vor den Duschräumen stieß ich auf Domenico, der den Kopf an die Tür gelegt hatte und angespannt lauschte.
«Nicki!», rief ich hocherfreut. «Was machst du hier?»
«Rausfinden, ob niemand drin ist», sagte er. «Bist du schon fertig?»
«Ich wollte gerade ins Bad.»
«Wartest du nachher hier auf mich?», fragte er leise. «Ich möchte gerne jetzt duschen, wenn keiner da ist …» Er schlug seine Augen nieder. «Du weißt schon …»
«Klar!» In meinem Bauch prickelte es vor lauter Vorfreude auf ein paar zärtliche Minuten mit Nicki. Ich rannte in den Damen-Waschraum und erledigte meine Prozedur, dann stellte ich mich vor die Herrendusche und wartete auf Domenico. Außer uns trieb sich zum Glück gerade keiner hier rum. Die anderen waren entweder noch unten am Rumtrödeln oder hatten alles schon hinter sich.
Domenico roch extrem gut nach einer Mischung aus Sandelholz und Meerwasser. Ich rieb meine Nase an seinem Gesicht und atmete genüsslich seinen Duft ein. Dann küssten wir uns, behutsam und sanft wie meistens.
«Maya, du bist wunderschön», flüsterte er in mein Ohr. «Ich liebe dich. Ich liebe dich so wahnsinnig, weißt du das?»
«Und ich dich erst», hauchte ich. Ich fühlte, wie seine Brust glühte. Und da nahm er meine Hand und schob sie unter sein T-Shirt auf seine warme Haut. Sein Herz pochte stürmisch, und ich konnte jeden einzelnen Schlag fühlen.
«Spürst du, wie es klopft?», sagte er heiser.
Ja, ich fühlte es, und ich fühlte auch noch etwas anderes. Ich fühlte, dass meine Hand auf seinen Narben lag, und dass ihm das durchaus bewusst war. Meine Finger zuckten, weil ich kaum wagte, sie zu rühren. Erst als er seinen Kopf leicht zur Seite neigte, wie eine stumme Aufforderung, bewegte ich meine Hand langsam abwärts zu seinem Bauch und traute mich, sehr, sehr vorsichtig über die vernarbte Haut zu streichen, jeden Augenblick damit rechnend, dass er zurückzucken und vielleicht sogar vor mir fliehen würde. Doch er ließ mich.
Ich schloss die Augen, um mich ganz auf den Tastsinn in meinen Fingern zu konzentrieren, die sensibel jede Unebenheit und jeden Wulst erforschten, die diese Schnitte auf seinem Körper hinterlassen hatten. Es waren so wahnsinnig viele Narben … und es kam mir irgendwie so vor, als wären sie nicht alle gleich alt. Ich konnte selber nicht sagen, warum ich das so interpretierte. Es war … Ich öffnete meine Augen und begegnete seinem eisgrauen Blick. Bevor meine neu gewonnenen Erkenntnisse noch weiter in meinem Herzen Fuß fassen konnten, packte er meine Hand, zog sie sanft wieder hervor und verschwand ohne ein weiteres Wort Richtung Schlafraum.