2. Domenicos Welt

Ich konnte es kaum erwarten, bis der Bus endlich an der Endstation einfuhr. Von mir aus bis hierhin waren es ganze neunzehn Stationen. Das Wohnheim, in dem Domenico seit ungefähr zwei Monaten lebte, lag nämlich etwas außerhalb der Stadt. Deswegen war ich bis jetzt nur ein einziges Mal dort gewesen. Domenico hingegen nahm diese lange Wegstrecke regelmäßig in Kauf, wenn er uns besuchte.

Ich stieg aus und lief zu dem weißen Haus auf der kleinen, immer noch schneebedeckten Anhöhe hoch. Eigentlich konnte Nicki sich ja nicht beklagen; die Lage war hier nämlich wirklich überaus freundlich und sogar richtig schön. Trotzdem wusste ich natürlich, dass es nicht einfach war für ihn, in dieser therapeutischen WG zusammen mit anderen schwererziehbaren Jungs zu leben.

Ich klingelte und wollte eintreten, doch das Türschloss schnappte nicht wie letztes Mal auf. Also wartete ich, bis mir jemand öffnete. Eine kleine, untersetzte Frau mit einer energisch geschwungenen Dauerwelle und einer etwas altmodischen Brille stand vor mir. Das Heim hatte ungefähr drei oder vier Betreuer, doch bis jetzt kannte ich nur Lukas, und die anderen hatte Domenico kaum je erwähnt. Aber er erzählte ja sowieso nur ungern was von seinem Leben.

«Hallo? Bist du angemeldet?» Ich erkannte die zarte Stimme auf Anhieb wieder. Sie passte überhaupt nicht zu dieser stämmigen Frau.

«Nein, a-aber ich hab vorhin angerufen!»

«Ach so, du bist die Freundin von Domenico. Nun, eigentlich würden wir es schätzen, wenn du dich das nächste Mal anmeldest. Ich wusste nicht, dass du vorbeikommst.»

«Entschuldigung», sagte ich verlegen. «Ist Domenico denn nun wach?»

«Das weiß ich nicht. Ich habe vor einer halben Stunde wieder mal angeklopft, aber er regt sich nicht. Und er lässt ja keine Leute in sein Zimmer.»

«Darf ich raufgehen?», fragte ich höflich.

«Wenn du meinst, dass er dich reinlässt, kannst du es ja versuchen», seufzte sie. «Ich muss ihn aber nachher auch noch kurz zur Rede stellen.»

Ich raste die scheußlich knarrende Holztreppe hoch. Als ich vor Domenicos Tür stand, musste ich erst eine Weile innehalten, um mein galoppierendes Herz wieder zu besänftigen und meinen Puls auf Normalzustand zu bringen. Denn das war tatsächlich die erste heikle Frage, die in meinem Gehirn aufkreuzte: Hatte ich jetzt, nachdem wir uns in der vergangenen Nacht endlich unsere gegenseitigen Gefühle eingestanden hatten und wir uns somit in einer neuen Ära befanden, die Erlaubnis, einfach ungebeten in sein Zimmer zu treten? Oder galt der unsichtbare Vorhang immer noch, auch für mich?

Um die Antwort noch ein bisschen auf die lange Bank zu schieben – weil ich sie nämlich nicht wusste! –, schaute ich mir seine Poster an der Tür an. Komisch, seit wann trugen die Scorpions schwarze Schnurrbärte? Und wo war das Poster mit dem Motorrad geblieben? Und seit wann war der vergilbte Plan von Sizilien mit Tesafilm zusammengeklebt? Was hatte Nicki damit angestellt?

Nachdem mir klar wurde, dass ich die Antwort auch in tausend Jahren nicht finden würde, wenn ich hier stehen blieb, klopfte ich sachte an die Tür. Ich lauschte, klopfte abermals und trat dann kurzerhand ein. Im Zimmer war es dunkel und still. Ich machte zögernd Licht.

Domenico lag im zerwühlten Bett, in Unterhemd und Jogginghose, sein Gesicht in einer zerknüllten schwarzen Jacke vergraben. Ich tapste leise zu seinem Bett und setzte mich auf die Kante. Schlief er wirklich immer noch, oder tat er nur so? Ich widerstand der Versuchung, die Jacke von seinem Gesicht wegzuziehen. Es war alles noch so neu zwischen uns, und ich wollte nicht durch eine unbedachte Regung etwas kaputt machen. Der Gedanke, ihn wachzuküssen, drängte sich auf, aber ich wagte es nicht …

Mein Blick wanderte zu seinem Nachtschränkchen, auf dem eine leere Blisterpackung lag. Die Schlafpillen hatte ihm Paps verschrieben. Ich nahm sie und zog die Schublade absichtlich so geräuschvoll wie möglich aus den Schienen, in der Hoffnung, Nicki damit aufzuwecken. Doch weit gefehlt. Wenn er schlief, dann wie ein Murmeltier. Wenn …

Mit einem sanften «Pling» landete die leere Alu-Packung im riesigen Durcheinander der Schublade. Hoffnungslos. Immerhin hatte sich seine Schlamperei merklich gebessert. Mama hatte einiges erreicht bei ihm.

Aber wie um alles in der Welt kriegte ich ihn möglichst schonungsvoll wach?

Doch dann blitzte die Idee in meinem Kopf auf. Kaffee! Er würde ganz bestimmt als Erstes einen Kaffee brauchen. Ich wusste ja, wo die Küche war, und mit etwas Glück würde ich auch den Kaffeeautomaten kapieren.

Auf dem Weg zurück zur Zimmertür stolperte ich absichtlich über den silbernen Pokal am Boden und achtete darauf, dass er gegen das Stuhlbein rollte und genügend Krach verursachte. Zufrieden mit dem Resultat, rannte ich runter in den ersten Stock und fand die Küche leer vor. Na super!

Doch während ich die Kaffeemaschine studierte, sprang die Tür auf, und zwei Jungs platzten rein. Den einen kannte ich; es war Alex, mit dem Domenico schon öfters Zoff gehabt hatte.

«Hey, das ist doch die Tussi vom Italiener!»

Ich tat so, als würde mich das nichts angehen, holte zwei Tassen aus dem Schrank und stellte sie unter die Maschine.

«He, du da, sag deinem Spasti mal, er soll nicht dauernd rumflennen in der Nacht. Sind wir denn im Kindergarten?»

Alex war mir nun so nah auf der Pelle, dass ich seinen Atem riechen konnte. Ich drehte ihm demonstrativ den Rücken zu und holte die Milch aus dem Kühlschrank. Ich goss ein wenig davon in die eine Tasse, die andere ließ ich leer. Domenico trank seinen Kaffee immer schwarz. Dann stellte ich die Tassen unter die Maschine und drückte den Knopf für zwei Portionen. Zum Glück war das Gerät idiotensicher. Und dank Domenicos Nietenarmbändern kam ich mir richtig cool vor.

Als ich fertig war, lud ich die Tassen auf das kleine Tablett, das ich neben dem Automaten fand, und rauschte so mit erhobenem Kopf an den beiden dümmlich glotzenden Jungs vorbei. Auf der Treppe hielt ich kurz inne, richtig stolz über meine gekonnte Vorstellung. Es war nicht so, dass ich keinen Respekt vor Alex und diesen Jungs hatte. Im Gegenteil. Doch ich hatte dieses Verhalten mittlerweile gut einstudiert. Das war eine Methode, die ich in der Schule öfters bei Ronny und André anwenden musste. Ich hatte es einfach satt, immer zu kuschen.

Als ich wieder zurück im Zimmer war, hatte Domenico sich auf den Rücken gedreht, so dass ich sein Gesicht endlich sehen konnte. Ich stellte das Tablett vor seinem Bett auf den Boden und ließ mich wieder auf der Bettkante nieder.

Diese einmalige Gelegenheit, ihn in Ruhe betrachten zu können, musste ausgenutzt werden. Ich kriegte nämlich sein Gesicht nie so ganz hin in meinen Vorstellungen, wenn ich vor dem Einschlafen an ihn denken wollte. Es hatte so viele Facetten, dass das einfach unmöglich war. Die hohen Wangenknochen gaben ihm etwas Hartes, doch seine weichen Lippen setzten einen unwiderstehlichen Kontrast.

Ein Blick in seine stechenden blaugrauen Augen genügte, um mich für ein paar Minuten außer Gefecht zu setzen. Denn seine Blicke wühlten mich ständig von Neuem auf, waren nie still. Immer wieder türmten sich Wellen in ihnen auf, entfachten sich Flammen oder knisterte Glut in ihnen. Immer lag irgendein Geheimnis in seinen Augen, ein aufflackerndes Funkeln, Sanftheit, Wut, Trauer, Schmerz, glühende Leidenschaft oder einfach nur tiefe Unergründlichkeit. Es war nur gut, dass er seine Augen ab und zu hinter seinen langen kupferbraunen Haarsträhnen verbarg.

Zu viele Schatten, Narben und Geheimnisse machten dieses Gesicht so dermaßen aufregend, dass man es nicht lange aushielt, es anzusehen, ohne sich tausend Fragen über seine Vergangenheit zu stellen. Und immer wieder entdeckte ich neue Züge in seinem hübschen Gesicht. Wie jetzt eben, als ich bemerkte, dass die kleinen zarten Sommersprossen, die er aus Sizilien mitgebracht hatte, wieder ganz verschwunden waren. Und seit ich vor vier Tagen seine Mutter erstmals live gesehen hatte, war mir bewusst geworden, wie deutlich seine italienischen Gene dominierten. Nur sein kupferbraunes Haar und seine blaugrauen Augen zeugten von einer anderen Herkunft. Das musste er von seinem Vater haben, den er nicht kannte. Denn Domenico war genau genommen nur Halbsizilianer. Was er zur anderen Hälfte war, wusste niemand so exakt.

Wenn es etwas gab, das Domenico aufweckte, dann war es, wenn man ihn anschaute. Fast so, als würde er das durch die geschlossenen Augenlider erkennen. Sein Gesicht zuckte, und er rieb sich schläfrig über die Augen. Und dann beugte ich mich blitzschnell vor und gab ihm ein kleines Küsschen auf die Lippen. Ehe er wusste, wie ihm geschehen war, hatte ich meinen Kopf ruckartig wieder zurückgezogen. Mit einem leisen Stöhnen fasste er sich an die Stirn und richtete sich langsam auf.

«Maya …?»

«Alles okay mit dir?» Ich sah ihn besorgt an.

«Kreislauf … warte mal …» Er beugte sich zu der Schublade seines Nachtschränkchens vor, öffnete sie und wühlte in dem Durcheinander, doch offensichtlich fand er nicht, wonach er suchte. Ich angelte nach seiner Kaffeetasse und hielt sie ihm hin.

«Da, ich hab dir Kaffee gemacht.»

«Echt? Danke, das ist lieb …» Er nahm mir die Tasse ab und trank einen Schluck. Ich wartete geduldig, bis er ansprechbar war und wir die Geschichte fortsetzen konnten, die gestern Nacht bei der Laterne begonnen hatte. Er schlug seine Augen nieder; offenbar dachte er das Gleiche. Wahrscheinlich hätten wir noch den ganzen Tag hier gesessen und hätten uns schüchterne Blicke zugeworfen, wenn nicht die Kaffeetassen irgendwann leer gewesen wären. Aber wie tastete man sich an so eine zarte Geschichte ran, die noch dermaßen frisch war, ohne sich gleich im Gestrüpp unsinniger Worte zu verheddern?

«Hast du gut geschlafen?», war schließlich das Einzige, was mir einfiel und mit dem ich nicht viel falsch machen konnte. Er richtete seine Augen auf die Bettdecke und schüttelte leise den Kopf.

«Nee. Musste die doppelte Dosis Schlafpillen schmeißen. Ging nicht anders. Drum bin ich ja erst jetzt aufgewacht.» Er rutschte aus dem Bett und schaute sich suchend im ganzen Zimmer um.

Ich presste die Lippen fest zusammen. Lieber schweigen als dumme Fragen stellen, obwohl ich so hoffnungslos neugierig war, was in ihm gerade abging. Aber ich kannte ja seine Spielregeln. Fragen war nur erlaubt, wenn er es mir gestattete.

Er suchte ein paar Klamotten zusammen und sah mich an. «Bin gleich zurück. Wartest du so lange auf mich?»

«Klar!» Ich musste ihm Zeit lassen nach dem Aufstehen, das wusste ich.

Er lächelte mich an, und es war eines dieser Lächeln, das die zwei netten Grübchen auf seinen Wangen erscheinen ließ, die ich so mochte. Denn nur dann kam sein Lächeln aus seinem tiefsten Herzen.

Nachdem er gegangen war, schlenderte ich zum Fenster und zog die Jalousie hoch, um das Zimmer mit Licht und frischer Luft zu füllen. Dann begann ich, seine achtlos beiseite geworfene Bettwäsche schön säuberlich zum Lüften auszulegen. Ich konnte mich ja ruhig ein wenig nützlich machen. Sorgsam legte ich die schwarze Jacke mit dem Metallica-Schriftzug neben sein Kissen. Ich wusste, wie kostbar sie für ihn war – sie hatte nämlich seinem Zwillingsbruder gehört.

Doch als ich das weiche Material zwischen meinen Fingern fühlte, stockte mir der Atem. Das Leder war feucht, durchnässt von Tränen. Tränen, die Nicki in dieser Nacht geweint haben musste. Keine Worte der Welt konnten wahrscheinlich beschreiben, wie sehr Mingo ihm fehlte. Ich wusste nur, dass sein Herz daran zerbrochen war und dass es meine Aufgabe war, besonders behutsam mit dieser Verletzung umzugehen.

In der Hoffnung, etwas zu finden, das mich von diesen schwermütigen Gedanken ablenkte, ging ich zu seinem Pult; doch das Erste, was mir dort begegnete, war das Foto von Mingo, das ich ihm letzte Nacht gegeben hatte. Obwohl ich es schon tausend Mal gesehen hatte, deprimierte mich das verlorene Lächeln von Domenicos Zwillingsbruder immer wieder aufs Neue. Mingo war an einer Überdosis Heroin gestorben …

Doch es lagen noch mehr Fotos auf dem Pult. Es waren die wenigen Kinderfotos der Zwillinge, die noch existierten. Bilder, die teilweise noch aus Sizilien stammten und nur einen winzigen Bruchteil von den glücklichen Tagen erzählten, die in Domenicos Erinnerungen längst verschüttet waren. Auf dem ersten Bild waren die Zwillingsbrüder mit der Nonne zu sehen, die damals auf Sizilien die Rolle als Ersatzmutter übernommen hatte. Das nächste Foto war rührend schön; es zeigte Nicki und Mingo in einem Fischerboot, lachend aneinandergeklammert und sich gegenseitig beschützend, wie es eben nur Zwillingsbrüder können. Ich schaute es lange an.

Auch das folgende Foto zeugte von viel Heiterkeit; da grinsten die Zwillinge fröhlich in die Kamera, beide mit roten Pappnasen. Sie hatten alles gemeinsam gemacht, waren nie voneinander getrennt gewesen. Doch dass Mingo das schwierigere Los gezogen hatte als Domenico, war eindeutig auf dem nächsten Bild zu erkennen. Sie standen nebeneinander; die Sonne leuchtete auf das damals noch recht intensiv rötliche Haar der Brüder. Domenico grinste, aber Mingos Gesicht war eine starre Maske. Was immer dort vorgefallen war – Mingo musste über irgendetwas traurig gewesen sein.

Und dann lagen offenbar einige Jahre dazwischen, von denen keine Bilder existierten und keine Erinnerungen, denn auf dem nächsten Bild waren sie schon viel älter, mit blassen Gesichtern und trüben Augen und einem kleinen Säugling auf den Armen. Das war dort, wo ihr Leben offensichtlich einen Knick bekommen hatte und sie auf die schiefe Bahn geraten waren. Das letzte Bild stammte von einer Geburtstagsparty aus einer Zeit, wo Mingo bereits als Punk rumgelaufen war und Domenico mit Mädchen geflirtet hatte. Ich fragte mich, wann der Punkt gekommen war, wo Domenico sich nicht mehr hatte fotografieren lassen.

Und dann lag unter diesen Fotos die Welt begraben, in die dieser Knick schließlich gemündet hatte. Der Fall Domenico M. di Loreno, überall registriert, auf dem Jugendamt, bei der Polizei, bei der Staatsanwaltschaft. Wegen Prügeleien, Drogendelikten und Diebstählen. Hier lag sie – die Gerichtsurkunde, die ihn vor vier Tagen auf Bewährung freigesprochen hatte.

Ich schob all die amtlichen Fetzen zur Seite. Niemand, der die Vorgeschichte nicht kannte, würde verstehen, warum ich mich in diesen Jungen verliebt hatte und er sich in mich. Aber das, worauf mein Blick als Nächstes fiel, war die Antwort.

Es war eine seiner atemberaubenden Zeichnungen. Sie war im Manga-Stil gezeichnet und stellte einen Jungen mit einer Dornenkette um den Hals dar, der liebevoll von hinten seine Arme um ein weinendes Mädchen schlang und ihr eine Rose in die Hand drückte. Der Junge hatte ein Tattoo am Oberarm und wilde Haarsträhnen, die über sein Gesicht fielen, so dass man seine mandelförmigen Augen dahinter kaum sehen konnte. Das Mädchen hatte langes, braunes Haar und – ich erschauerte! – ein rotes Herz um den Hals. Doch ihre Lippen schienen irgendwie noch nicht fertig gemalt worden zu sein. Es sah fast so aus, als hätte er mittendrin einfach abgebrochen.

Mein Herz geriet völlig aus dem Takt. Seine Bilder waren nicht nur schlichtweg genial, sie waren auch ein Ausdruck seiner Gefühle.

Ich zuckte richtig zusammen, als die Tür aufging. Domenico trat fertig angezogen und gekämmt ins Zimmer. Gekämmt war allerdings der falsche Ausdruck, er kämmte sein Haar nie wirklich, sondern stylte es mit ein bisschen Haargel und ließ es so ins Gesicht fallen, dass er seine Augen dahinter verbergen konnte. Genau wie der Junge auf dem Bild. Er trug ein neues, ärmelloses weißes Hemd mit einem Graffiti-Aufdruck, der ähnliche Formen hatte wie das Tattoo an seinem rechten Oberarm. Mingos alter Nietengürtel rundete seinen coolen Look perfekt ab. Nicki hatte die Begabung, mit wenig Aufwand immer eine umwerfende Figur zu machen.

«Hey», sagte er leise und trat etwas zaghaft an mich heran. «Gefällt dir mein Bild?»

«Es ist fantastisch! Wie lange malst du schon daran?»

«Na ja … ich hab mal damit angefangen, als ich bei euch gewohnt hab, aber dann …» Er wurde ein wenig rot und senkte verlegen seine Augen. Ich hielt die Luft an, als ich ahnte, was das bedeutete.

«Geht es dir nun besser?»

«Sì … äh, ich mein, ja. Die Dusche hat echt geholfen. Mein Kreislauf spielt total verrückt …» Er lehnte sich an die Wand und neigte seinen Kopf ein wenig, als könne er mich so besser betrachten. Es war nicht nur sein Aussehen, das einen faszinierte. Es war auch die Art, wie er sich bewegte, die Blicke, die er einem zuwarf, einfach alles. Sogar wenn er sich in der Vergangenheit eine Kippe angezündet hatte, hatte er diese lässigen Schlenker mit der Hand gemacht, wohl wissend, was für eine Wirkung er damit auf die Mädchen gehabt hatte. Aber das mit dem Rauchen war ja jetzt hoffentlich ein für alle Mal vorbei …

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, und dabei fiel mein Blick auf die Narben an seinem Handgelenk.

«Da, ich hab dir deine Armbänder mitgebracht!» Ich zog sie aus und hielt sie ihm entgegen. Er nahm sie mir schweigend ab und ging damit zur Schublade. Nachdem er deren Inhalt ein wenig durchforstet hatte, zog er zwei andere Armbänder mit stumpfen Nieten hervor und legte sie sich um die Gelenke.

«Die sind besser, was? Dann kann ich dich nicht mehr damit aufspießen!»

Mir war es egal, was für Armbänder er trug, die Hauptsache war für mich, dass er endlich damit aufhörte, sich wegen der Narben vor mir zu schämen. Genauso wenig wie für die am Bauch, die ich bis jetzt nur zweimal gesehen hatte, und das auch nur zufällig, weil Domenico beide Male ziemlich weggetreten gewesen war. Ich fragte mich, wann der Tag kommen würde, an dem er mir auch das freiwillig zeigen und mir endlich die ganze Wahrheit erzählen würde. Und noch viel mehr fragte ich mich, ob er es je bewusst zulassen würde, dass ich ihn an dieser empfindlichen Stelle berühren durfte.

«Gehen wir zu dir?», fragte er weich.

«Ja, unbedingt. Carrie ist nämlich bei uns. Sie will dringend mit dir reden. Sie braucht deine Hilfe. Sie weiß nicht, wo sie hin soll. Wir haben sie vorerst mal ins Gästezimmer gesteckt, weil sie unbedingt schlafen wollte.»

«Echt? Dann lass uns sofort aufbrechen!» Er schnappte sich seinen Kapuzenpullover und schlüpfte hinein. Dann öffnete er die Zimmertür und warf mir einen auffordernden Blick zu.

«Äh … vielleicht ziehst du besser noch eine Jacke an. Es ist ziemlich kalt», riet ich.

«Kalt? Ich hab Schweißausbrüche!»

«Nein, Nicki.» Jetzt erwachte die energische Arzttochter in mir. «Zieh bitte deine Jacke an. Denk an deine Lunge!»

Er grinste amüsiert und schnappte sich seine Lederjacke. «Ey Principessa, du hast ja echt Speed drauf.»

«Und du spinnst manchmal komplett, was deine Gesundheit angeht!», fauchte ich, was ihm aber bloß ein noch breiteres Grinsen entlockte.

«Du bist einfach süß, wenn du wütend bist. Okay. Okay. Okay. Du bist die Ärztin. Sonst noch was?»

«Nein, das wäre alles für den Moment.»

Mitten auf der Treppe bremste Monika unseren Sprint nach unten. Sie fasste Domenico am Arm.

«Einen Augenblick, bitte. Wo wollen wir denn so eilig hin?»

«Na, zu ihr nach Hause!», erwiderte Domenico schnippisch. «Ich hab ich die Erlaubnis von Lukas, dass ich zu meiner Freundin gehen darf, wann ich will, solange ich den ganzen Kram hier befolge und mich rechtzeitig wegen des Essens austrage. Außerdem helf ich ihrer Mutter im Haushalt. Gibt's ein Problem?»

«Ja, es gibt eins», erwiderte Monika streng. «Ich möchte mit dir gern darüber reden, warum du heute Morgen nicht zum Küchendienst erschienen bist.»

«Oh Mann, weil ich's verpennt hab! Ey, sorry, ich mach's ja wieder gut. Kann ich jetzt gehen?» Domenico wollte sich an Monika vorbeidrücken, doch sie war stämmig genug, um ihm den Weg zu versperren.

«Haben wir nicht vor zwei Tagen ausgemacht, dass du endlich die Kippen im Hof zusammenräumst? Die liegen schon so lange dort rum. Nächste Woche kommen neue Leute, da möchte ich, dass der Hof sauber ist. Hast du mich verstanden?»

«Ja, ist ja gut, ich les die nachher ja zusammen! Sonst noch was?» Ich fühlte, wie der alte, finstere Zorn in ihm aufwallte.

«Ihr seid einfach viel zu verwöhnt», klagte Monika. «Ihr habt ein eigenes Zimmer, kriegt reichlich Taschengeld – das gab's in der WG alles nicht, in der ich vorher gearbeitet habe.»

«Ist das mein Problem? Ich hab's mir auch nicht ausgesucht, in 'nem Heim leben zu müssen.»

«Nicki, komm schon», bat ich. «Lass uns das rasch erledigen mit diesen Kippen. Ich helfe dir.»

Domenico folgte mir ziemlich widerstrebend in den Hof. Ich hatte aus der Küche eine alte Tüte mitgenommen. Unter seinem Fenster im Rasen lagen überall verstreut alte, vergammelte Zigarettenstummel, die er einfach achtlos aus dem Fenster geschnippt hatte, wenn er heimlich in seinem Zimmer gepafft hatte. Ich versuchte sie zu zählen und überlegte mir, ob das wohl eine einzige Tagesration gewesen war oder ob ich sie durch eine gewisse Anzahl Tage teilen musste. So ewig lange konnten die ja noch nicht da rumliegen. Ich hatte nie herausgefunden, wie viele Zigaretten er sich pro Tag reingezogen hatte, aber es mussten weit mehr als zwei Schachteln gewesen sein. Tatsache war jedenfalls, dass er es kaum eine Stunde ohne Rauchen ausgehalten hatte. Er hatte sich die Fluppen manchmal nahtlos nacheinander angezündet. Kein Wunder, dass er nun so arge Probleme mit seiner Lunge hatte.

Ich bückte mich und wollte mit dem Aufsammeln beginnen, doch Domenico hielt mich zurück.

«Ey, lass das! Ich mach das lieber selber.» Er schämte sich offensichtlich ziemlich, dass ich das sah. Ich stellte mich etwas abseits unter einen Baum und wartete, bis er fertig war. Es dauerte ziemlich lange. Unterwegs zur Bushaltestelle stopfte er die volle Tüte in einen Mülleimer.

Wir sahen den Bus eben noch von hinten wegfahren.

«Mist! Der nächste kommt erst in fünfzehn Minuten», stöhnte ich.

«Warten wir eben …» Domenico hustete ein bisschen. Und dann legte er ganz vorsichtig von hinten seine Arme um mich und drückte mich zart an sich, genau so wie der Junge auf dem Bild, das er gezeichnet hatte.

«Darf ich dich so halten?», fragte er leise.

Sofort schoss eine pulsierende Hitze durch meinen Körper. Ich wollte Ja sagen, brachte jedoch nur ein heiseres Krächzen über die Lippen. Ich fühlte, wie die Muskeln seiner Oberarme sich spannten und zitterten, als er mich behutsam etwas näher an seine Brust zog. Wir hatten überhaupt noch nicht darüber geredet, was sich letzte Nacht bei der Laterne zwischen uns abgespielt hatte, aber er schien ebenso wie ich zu ahnen, dass man so etwas Wunderschönes nicht durch zu viele Worte zerstören durfte.

«Ich weiß schon, was du vorhin gedacht hast», brach er nach einer Weile das Schweigen. «Ich hätte freundlicher sein müssen zu Monika, stimmt's?»

«Na ja …»

«Du hast ja Recht, Süße. Es ist bloß alles so schwierig. In diesem Heim leben zu müssen und überhaupt. Wenn ich achtzehn bin, wird alles besser. Dann bin ich volljährig und kann selber entscheiden, wo ich wohnen möchte.» Er schmiegte seine warme Wange an meine.

«Klar», nickte ich erleichtert. «Versteh ich ja auch.»

«Sei froh, dass hier überhaupt je wieder ein Bus kommt», raunte er sanft in mein Ohr, so dass sein Atem mich kitzelte. «Auf Sizilien haben sie oft gestreikt!»

Wenn er mich so festhält, braucht in alle Ewigkeit kein Bus mehr zu kommen, dachte ich.

«Ey, eines Tages hab ich wieder ein Motorrad, und dann kannst du immer bei mir aufsitzen! Dann brauchen wir keinen Bus mehr.»

«Das wäre cool», seufzte ich, obwohl ich wusste, dass dieser Traum noch weit weg in den Sternen lag.

«Du zitterst ja …», bemerkte er leise.

«Mir ist ein wenig kühl …»

Er drückte mich noch enger an sich, um mir von seiner Wärme abzugeben.

«Sag mal, was heißt eigentlich Ardo di amore per te? Das, was du gestern Abend zu mir gesagt hast?»

«Ach, das!» Er berührte neckisch mein Ohrläppchen mit seinen samtweichen Lippen. «Sei la cosa più cara che ho!»

«Geht das auch auf Deutsch?»

«Ich kann so was besser auf Italienisch sagen.»

«Du bist gemein!», schmollte ich, und er lachte.

Als wir etwas später in den Bus stiegen, war nur noch ein einziger Zweiersitz frei. Uns gegenüber saßen ausgerechnet zwei kichernde Mädchen, die abrupt verstummten und ihre geschminkten Augen fest auf Domenico hefteten. Nicki, der ihre schmachtenden Blicke wohl bemerkte, legte demonstrativ den Arm um mich. Ich schloss die Augen. Das war die Schattenseite, wenn man mit so einem coolen Jungen zusammen war.

Während der Fahrt lehnte Nicki den Kopf an meine Schulter und döste prompt wieder ein. Ich musste ihn sogar ziemlich unsanft aufwecken, als wir aussteigen mussten. Erst draußen an der frischen, kühlen Luft kam er wieder ganz zu sich.

«Ey, sag mal, waren wir echt die ganze Zeit im Bus?», gähnte er. «Ich hab das Gefühl, ich hätt Stunden gepennt!»

«Ja, du hast richtig fest geschlafen. Ich dachte schon, wir müssten die Strecke ein paar Mal hin und her fahren.»

«Echt? Das ist uns mal passiert … ich glaub, wir haben drei Runden gedreht. Die mussten uns dann voll rausschmeißen.»

Ich wusste, dass mit uns Mingo und er gemeint waren.

Von der Bushaltestelle bis zu mir nach Hause waren es ungefähr sieben Minuten. In der Nähe der Station war ein Supermarkt, und Domenicos Blick wurde ganz komisch, als wir daran vorbeigingen. Er hielt die Luft an, und dann zog er mich schnell mit sich, als müsste er einer drohenden Gefahr entrinnen.

Mama freute sich immer sehr, Domenico zu sehen. Die beiden waren mit der Zeit dicke Freunde geworden. Auf dem Tisch dufteten uns bereits frisch gebackene Brötchen mit Wurst und Käse entgegen. Erst jetzt fiel Domenico ein, dass er heute überhaupt noch nichts gegessen hatte.

«Carrie schläft noch», sagte Mama. «Ich glaube, wir lassen sie am besten, sie war wahnsinnig erschöpft. Hast du es ihm gesagt, Maya?»

Ich nickte und sah mich suchend um. «Wo ist Paps?»

«In der Praxis», seufzte Mama.

«Aber es ist doch Sonntag!», warf Domenico ein.

«Tja …» Mama nahm einen Besen und fing an, ein paar Krümel auf dem Küchenboden zusammenzufegen. «Die Arbeit wächst ihm über den Kopf. Das ist eben der Preis, wenn man ein erfolgreicher Arzt ist.» Sie lächelte tapfer. Domenicos Augen ließen sie nicht los.

«Hey!», sagte er rau und nahm ihr den Besen aus der Hand. «Lass mich das machen und ruh dich aus.»

«Ach, Nicki, das ist lieb, aber iss lieber etwas. Du bist immer noch so dünn!»

«Dabei stopf ich doch Unmengen an Süßem in mich rein!» Domenico rollte mit den Augen und fegte die Krümel zu einem kleinen Häufchen zusammen. Er gehörte offensichtlich zu den beneidenswerten Menschen, die grenzenlos futtern konnten, ohne je ein Gramm Fett anzusetzen – selbst jetzt, wo er dabei war, mit dem Rauchen aufzuhören. Wahrscheinlich hatte sein Körper nach den Strapazen einfach eine Menge nachzuholen. «Außerdem hab ich heut noch nix Sinnvolles gemacht außer den halben Tag verpennt. Also lass mich das mal machen!»

Etwas später saßen wir ohne Paps am Tisch und machten uns über die Brötchen her. Ich hatte zwar immer noch keinen Appetit, weil ich ja auch erst gegessen hatte, dafür aber Domenico umso mehr. Mama freute sich, dass er so kräftig zulangte. Carries kleiner Hund schlief immer noch auf der Decke und winselte im Schlaf. Offenbar hatte er gerade einen aufregenden Traum. Mama hatte ihm eine Schale Wasser hingestellt und ihm sogar ein bisschen Wurst «geopfert».

Nachdem wir satt waren und vom Tisch aufstanden, bot sich Domenico an, mir beim Aufräumen im Wohnzimmer zu helfen, während Mama in die Praxis eilte. Zu zweit war das Saubermachen gar nicht mal eine so große Sache. Nicki brachte einfach den Müllsack aus der Küche und warf den ganzen Abfall hinein, während ich das Geschirr in die Spülmaschine räumte. Nachdem Nicki auch noch mit dem Staubsauger die letzten Krümel beseitigt hatte, gingen wir in mein Zimmer hoch.

Wir setzten uns nebeneinander auf mein Bett und lehnten uns an die Wand. Ich war tierisch nervös, weil ich wusste, dass mein Puls ausrasten würde, wenn Domenico mich nur ein kleines bisschen berühren würde …

Doch er tat es nicht, sondern wahrte einen Sicherheitsabstand zwischen uns. Und vielleicht war das auch besser so. Weil wir ja beide wussten, wie zerbrechlich die Brücke noch war.

Er erzählte mir ein wenig von Carrie.

«Sie ist ziemlich speziell, glaub ich. Die meisten Frauen können gar nicht mit ihr umgehen, weil sie so … na ja, wie sagt man? Una maschietta selvaggia … weiß nicht, wie ich das auf Deutsch sagen soll. Sie ist eher wie ein Junge.»

«Burschikos?», fragte ich.

«Ja, etwa so. Mingo hing ziemlich oft mit ihr ab, aber ich glaub, der hat gar nicht gecheckt, dass die auf ihn stand. Die hat auch schon zwei, drei Mal 'nen Entzug gemacht …»

«Wie ist das eigentlich passiert? Dass sie miteinander geschlafen haben und sie schwanger geworden ist?»

Er schloss die Augen, als er die schmerzhaften Erinnerungen an seinen Bruder wieder hervorkramte. Als er endlich sprach, hatte er ziemlich Mühe, die Worte zu finden.

«Er hat es mir nie erzählt. Ziemlich sicher ist er zu ihr geflüchtet, nachdem er mich im ‹Little Joe's› k.o. geschlagen hat. Er brauchte ja so dringend Stoff. Ich hab ihn die halbe Nacht gesucht. Ich weiß es nicht mehr. Er … er hat mich nur angebrüllt, dass ich abhauen soll. Hat nur noch Müll gelabert. Er war so zu! Wahrscheinlich ist es dort passiert.»

Die Erklärung war zu verworren und lückenhaft, als dass ich sie wirklich kapierte, aber das war ja egal. Seine Finger krallten sich fieberhaft in meine Bettdecke. Ich wollte meine Hand auf die seine legen, doch da sprang er abrupt auf und funkelte mich wütend an, als hätte ich ihm eben große Schmerzen bereitet.

«Ich kann jetzt nicht über ihn reden, Maya!»

«Sorry, Nicki …»

«Sag mir bloß eins: Woher hattest du dieses Foto von ihm?»

«Ich hab's auf Sizilien von ihm gemacht. Wir haben viel zusammen geredet …» Mir kam beinahe das Augenwasser, als ich erkannte, dass ihn dieses Bild vermutlich unsäglich aufgewühlt und ihn sogar um den Schlaf gebracht hatte. Ich hätte es ihm vielleicht besser doch nicht geben sollen. Mann, manchmal war ich ganz schön einfältig!

«Es tut mir so leid, Nicki. Ich … ich ahnte nicht, dass es dich immer noch so fertigmachen würde.»

«Schon gut. Ich … ich bin froh, dass ich es habe.» Er zog ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche und begann, sämtliche Kerzen, die in meinem Zimmer rumstanden, anzuzünden, weil seine ruhelosen Hände offenbar einfach etwas machen mussten. Ich zog die Beine an und schaute ihm zu, voll Panik, dass ich durch meine Tollpatschigkeit den Tag nun zerstört hatte. Aber da hob Nicki seinen Kopf und schenkte mir ein flüchtiges Lächeln. Doch gleich darauf flackerten seine Augen, und er presste sich leicht stöhnend die Hand auf die Stirn.

«Kopfschmerzen?»

«Bisschen. Geht schon. War vielleicht 'n bisschen krass, gleich auf null zu gehen. Mit dem Rauchen, mein ich. Ohne die Kautabletten.»

«War es sehr schwierig?», fragte ich mitfühlend, als er sich wieder neben mir auf dem Bett niederließ.

«Mhmm … na ja … wenn deine Mutter mich nicht alle zwei Stunden angerufen und mir 'nen Tritt verpasst hätte, hätte ich das wohl nicht hingekriegt. Sollte ja 'ne Geburtstagsüberraschung für dich sein. War meine Idee. Aber mir war ziemlich übel. Und ständig Schweißausbrüche und zittrige Hände. Musste mich im Zimmer einschließen, sonst hätte ich noch irgendwas Dummes angestellt.»

«Ist es denn nicht viel schöner jetzt? Ohne diesen ständigen Zigarettenqualm?»

«Doch, schon», murmelte er. «Ich hab das Gefühl, alles klarer zu sehen … und zu riechen … und überhaupt … es ist ganz anders.»

Ich brachte meinen ganzen Mut auf und nahm seine Hand, um die Nikotinflecken zu betrachten, die sich tief in seine Fingernägel eingegraben hatten. Er rauchte seit seinem achten oder neunten Lebensjahr, und das hatte nicht nur an seinen Fingern Spuren hinterlassen, sondern auch an seinen Zähnen, die an einigen Stellen ziemliche Verfärbungen aufwiesen. Mama hatte schon mal angedeutet, ihn deswegen zum Zahnarzt zu schicken. Aber irgendwie störte es mich nicht wirklich, denn alles andere an ihm war so hübsch, dass man ihm diese kleine Hässlichkeit verzieh.

«Das ist jetzt der vierte Tag ohne Zigaretten, was?»

Er nickte wortlos und zog sachte, aber bestimmt seine Hand zurück.

«Ist es jetzt immer noch schwierig?»

«Kommt drauf an. Wenn ich mit dir zusammen bin, fällt es mir leichter. Aber wenn ich allein bin …» Ich sah, wie ein sanfter Hauch von Rot seine Wangen färbte, als ob er etwas Peinliches vertuschen wollte.

«Was ist denn?» Ich traute mich nicht mehr, seine Hand erneut in die meine zu nehmen.

Er seufzte. «Na ja … wenn du jedes Mal nach dem Aufwachen Panik kriegst, weil du deine Kippen nicht findest, bis dir dann einfällt, dass du ja mit dem Rauchen aufgehört hast, oder wenn du deine Buntstifte zu qualmen versuchst, dann weiß ich auch nicht …», murmelte er leicht beschämt.

«Echt? Machst du das?»

«Na ja …» Sein Grinsen verunglückte ziemlich. «Ich hab heute Nacht aus Versehen den roten Buntstift abgefackelt, weil ich drauf rumgekaut und ihn dann aus purer Gewohnheit anzuzünden versucht hab. Beknackt, was?»

Wir tauschten einen Blick, dann prusteten wir beide los.

«Kann doch passieren!», kicherte ich.

«Na ja, aber ich hab jetzt kein Rot mehr. Ich kann die Lippen nicht mehr zu Ende malen.»

«Nimm doch ein anderes Rot!»

«Das geht nicht. Es muss genau dieses Rot sein.» Er sah mich mit einem durchdringenden Blick an, der mein Herz in einen Wirbelsturm verwandelte, und dann legte er ganz vorsichtig seinen Zeigefinger auf meine Lippen.

«Genau so wie deine wunderschönen Lippen!»

Bevor mein durchgedrehtes Herz noch ganz den Überschlag machte, nahm er seine Hand wieder zurück. Ich musste tief Luft holen. Ich hätte niemals geglaubt, dass so minimale Berührungen so heftige Reaktionen hervorrufen können, wenn man verliebt ist.

«Ich hoff bloß, ich nerv dich nicht allzu sehr, wenn ich anfange rumzuspinnen oder so …» Jetzt wandte er seinen Blick wieder von mir ab.

«Aber nein», beruhigte ich ihn.

«Du hast keine Ahnung!» Seine Augen überzogen sich mit einem Schatten. «Du musst total auf mich aufpassen, Süße. Wenn ich wieder in Versuchung komme, mir 'ne Kippe anzuzünden, musst du knallhart zu mir sein, sonst hab ich keine Chance! Ich mein, ich war jahrelang Kettenraucher …»

Er legte fast schüchtern den Kopf wieder auf meine Schulter und schloss die Augen.

«Bist du müde?»

«Ich war noch gar nicht richtig wach heute.»

«Du kannst dich sonst gern ein wenig auf mein Bett legen und schlafen», bot ich ihm an.

«Echt, darf ich das?»

«Klar. Ich muss ja eh noch was für die olle Schule erledigen», seufzte ich und kletterte vom Bett, um ihm Platz zu machen. «Unsere Lehrer sind sich zurzeit einig, dass Schule das Wichtigste ist im Leben.»

«Na klar, für die schon.» Domenico gähnte wieder und streckte sich lang auf meinem Bett aus. Die Vorstellung, dass ich heute Nacht auf demselben Kopfkissen schlafen würde, in das er jetzt seinen Kopf grub, versetzte mich in ziemliches Entzücken. Ich wusste gar nicht, ob ich überhaupt in der Lage sein würde, mich auf Chemie zu konzentrieren. Höchstens auf chemische Vorgänge in meinem Körper.

Ich setzte mich an mein Schreibpult und klappte die momentan eher verhassten Bücher auf. Ich stützte meinen Kopf auf die linke Hand und blätterte lustlos in den Seiten.

«Du bist gigantisch süß, weißt du das?», sagte Domenico lächelnd, während er auf dem Bett lag und mich von der Seite beobachtete.

«Schlaf jetzt, Nicki!», zischte ich. Wenn er so weitermachte, würde ich die Chemiebücher demnächst aus dem Fenster schmeißen.

Als er endlich schlief, setzte ich mich an meinen Tisch und versuchte, die trockenen Chemieformeln in meinen Kopf zu hämmern. Aber sie wollten nicht drinbleiben. Nach einer halben Stunde gab ich auf. Ohne Leon kriegte ich den Durchblick eh nicht mehr hin. Außerdem war es echt gemein: Die ganze Welt um mich herum inklusive Carries Hund war am Schlafen, während ich mich hier abquälen musste!

Ich setzte mich schließlich in eine Ecke und schlug meine Bibel auf. Ich war gerade dabei, mal wieder die Psalmen zu lesen. Sie gaben einem oft so unglaublich viele Antworten, wenn man nicht weiterwusste. Diese Psalmschreiber mussten echt kluge Leute gewesen sein – oder sie waren total inspiriert von oben.

Als Domenico wieder erwachte, war es bereits vier Uhr. Er setzte sich im Bett auf und rieb sich verschlafen die Augen.

«Ey, wie lang hab ich gepennt?»

«Ziemlich lange. Über eine Stunde.»

«Und du hast die ganze Zeit gelernt?»

«Nein, ich hab's nicht auf die Reihe gekriegt.»

«Arme Principessa …», murmelte er bedauernd. «Ich könnte so was überhaupt nicht.»

«Ich hab ja bald Ferien.»

Mit einem Schlag war er hellwach. «Ey, stimmt ja! Stell dir vor! Dann können wir ganz viel zusammen machen.» Er strahlte übers ganze Gesicht. Ich setzte mich zu ihm auf den Bettrand.

«Ja, aber die zweite Woche fahren wir ja zu meiner Tante in den Urlaub. Paps braucht dringend Ferien.»

Sein Strahlen verblasste für einen Moment, doch dann fasste er sich wieder. «Na ja, dann genießen wir halt einfach diese eine Woche. Ey, ich werd mir ganz viel schöne Sachen ausdenken, die wir unternehmen können.» Er streichelte zärtlich über meinen Arm. Ich kriegte eine Gänsehaut.

«Hoffentlich ist das Wetter einigermaßen gut!»

«Sonst fahren wir für 'ne Woche nach Sizilien!», scherzte er. «Ey, wie spät ist es eigentlich? Ich muss um halb sechs zurück sein wegen dem Küchendienst, sonst gibt's endgültig Ärger. Und vorher muss ich unbedingt mit Carrie reden.»

Wir schlichen leise rüber ins Gästezimmer. Carrie lag auf dem Rücken und schnarchte ziemlich laut vor sich hin.

«Oh Mann, die sieht ja übelst aus!», stellte Domenico fest. «Was hat die mit ihrem Gesicht gemacht?»

Er kniete sich behutsam neben ihrem Bett nieder und rüttelte sie sanft wach. «Ey, Carrie. Ich bin's. Nic!»

«Ey!!!», kreischte sie und fuhr erschrocken hoch. Ihre Augen starrten wirr umher und schienen die Welt um sich herum noch nicht eingeordnet zu haben.

«Oh, sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Zieh dich an, wir müssen los!» Domenico warf ihr die frisch gewaschenen Klamotten zu, die Mama zusammengefaltet auf einen Stuhl gelegt hatte. Dann verzogen wir uns beide in die Küche runter, damit Carrie sich ungestört duschen und anziehen konnte. Mir war es nicht geheuer, dass er es nun auf einmal so eilig hatte.

«Wo willst du denn mit ihr hin?», fragte ich misstrauisch. Hatte er nicht vorhin etwas von Küchendienst gesagt?

«Keine Ahnung. Vielleicht krieg ich sie bei 'nem Kumpel von mir unter.» Er stand mit dem Rücken zu mir und schaute aus dem Fenster.

«Wäre es nicht besser, wenn sie sich beim Jugendamt oder so melden würde?»

«Ey, ich hab im Moment echt noch keinen Schimmer, was ich mit ihr anstellen soll.» In seiner Stimme schwang eine leichte Ungeduld. «Ich nehm sie jetzt mal mit und frag sie 'n bisschen aus. Mal sehen, wie sie so drauf ist.»

«Und was ist mit dem Küchendienst? Reicht die Zeit denn noch?»

«Krieg ich schon geregelt.»

Ich schüttelte den Kopf; seine Zeitplanung schien mir etwas konfus zu sein. Mama hatte einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen.

Ich bin drüben in der Praxis. Wir haben einen Notfall. Gib Nicki noch ein bisschen von dem Kuchen mit, der im Kühlschrank ist. Küsschen, Mama.

«Notfall?» Domenico runzelte die Stirn.

«Das kommt vor», sagte ich.

«Deine Mutter sollte aufpassen, dass sie sich nicht übernimmt», meinte Domenico, als er den Kuchen an sich nahm, den ich ihm in Alufolie einwickelte.

«Ach, sie packt das schon», sagte ich. «Mama ist zäh.»

Im selben Moment kam Carrie die Treppe runtergestolpert und trat zu uns in die Küche. Der kleine Hund, der den Geruch seiner Herrin trotz Dusche und frischer Klamotten offenbar genau kannte, hob winselnd seinen Kopf und schnüffelte.

«Hi Razor. Da biste ja!» Carrie hob das Tier von seinem Schlafplatz hoch und drückte es liebevoll an sich.

«Sag mal, hattest du 'ne Schlägerei?», fragte Domenico mit einem Blick auf Carries Bluterguss.

«Nee … nich wirklich. Nur Zoff mit 'nem Dealer …»

«Mit wem? Sag's mir. Den mach ich fertig!»

«Nicki, nein!» Ich zog ihn am Arm, weil ich die Gefahr witterte. «Du sollst dich nicht mehr prügeln.»

«Ey!» Er riss sich abrupt los. Der dominante und aggressive Ton in seiner Stimme zeugte noch immer von seiner wilden Vergangenheit. Doch in der nächsten Sekunde holte er tief Luft, offenbar im Begriff, seinen Adrenalinspiegel wieder zu senken.

«Wo gehen wir nu eigentlich hin?», fragte Carrie träge.

«Sehen wir dann. Werden schon was finden.» Er ballte seine erregten Hände zu Fäusten und lockerte sie wieder.

«Könnte ich vielleicht mitkommen?», fragte ich hoffnungsvoll.

Ein rasierklingenscharfer Blick traf mich. «Besser nicht!»

«Warum denn nicht?»

«Weil es zu gefährlich ist.»

«Aber …»

«Ich nehme dich nicht mit in die Szene. Basta!»

Ich zog es vor zu schweigen, weil der schneidende Ton in seiner Stimme mir jeglichen Widerspruch untersagte. Ich wollte keinen Streit heraufbeschwören, nicht schon am ersten Tag!

«Ey Maya … würde es dir was ausmachen, uns zur Bushaltestelle zu begleiten?» Seine Stimmlage war von dominant wieder auf zahm gesunken.

«Natürlich nicht!» Ich wunderte mich über diese verlegene Bitte, in der schon fast ein Flehen lag.

«Ich lauf sonst echt Gefahr, zum Zigarettenautomaten beim Supermarkt zu gehen», erklärte er mit zusammengebissenen Zähnen.

«Kann man dort noch ohne Ausweis Kippen ziehen?», fragte Carrie begierig.

«Leider», knirschte Domenico. «Die sollten mal besser kontrollieren! Wär echt 'ne Erleichterung für mich.»

Ich schwieg, als wir uns sieben Minuten später an der Bushaltestelle befanden, die in die Gegenrichtung führte, also Richtung Stadt. Ich wollte Domenico nicht mehr mit der Frage nerven, wie er es anstellen wollte, pünktlich zum Küchendienst zurück zu sein, wenn er jetzt noch vorhatte, in die Stadt zu fahren.

«Sehen wir uns morgen?», fragte ich stattdessen.

«Weiß ich nicht.» Er starrte nachdenklich auf eine weggeworfene Kippe am Boden. «Wir haben Gruppensitzung am Nachmittag …» Er hob seine Augen wieder und beugte sich vor, um mir einen zarten Kuss auf die Stirn zu geben. «Ich ruf dich an, okay?»

Der Bus kam nur allzu schnell. Ein wehmütiges Gefühl breitete sich in meiner Brust aus, als mir bewusst wurde, dass Nicki in wenigen Sekunden weg sein würde. Und dass er an einen Ort ging, an den ich ihm nicht folgen durfte.

«Ciao, soave principessa!» Er lächelte sanft und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Ti amo.»

«Ich dich auch!», murmelte ich, als er mit einem Satz im Bus verschwand und sich gegenüber von Carrie auf einen Fensterplatz drückte.

Statt zu lernen, verbrachte ich den ganzen Abend mit einem Streifzug durchs Internet, um alles über Nikotinentzug zu lesen. Ich wollte schließlich wissen, was da auf mich zukommen würde.

Als ich ins Bett ging, hatte ich keinen einzigen Streich Chemie gelernt. Mist!