Den Rest des Nachmittags verbrachten wir an der Themse und mit einer Fahrt auf dem großen Riesenrad, dem London Eye. Später unternahmen wir einen längeren Fußmarsch Richtung Covent Garden. Die ganze Zeit blieb das Wetter wirklich freundlich, und auch Nickis Stimmung hatte sich nach dem Foto-Shooting wieder gebessert. Ich war echt froh. Ich fragte mich, ob er noch an seinen Vater dachte, aber er machte nicht den Eindruck. Ein klein wenig merkwürdig fand ich das schon, doch ich beschloss, seine heitere Laune einfach zu genießen.
Am Abend besuchten wir das legendäre «Hard Rock Cafe» beim Hyde Park, um uns so richtig auf Kosten der Klassenkasse die Bäuche vollzuschlagen. Wir waren ganz schön ausgehungert. Das Schlangestehen forderte unsere letzten Ressourcen. Als wir endlich unsere Plätze eingenommen hatten, rissen wir der Kellnerin die Speisekarten richtiggehend aus der Hand.
Wir hatten uns zu siebt an einen der runden Sechsertische in der Mitte gedrängt: Domenico, Patrik, Delia, Ronny, Manuela, André und ich. Der Rest der Klasse inklusive der Lehrer hatte sich an drei Vierertischen am Fenster verteilt. Über die Bildschirme flimmerte eine Live-Aufnahme von den Guns N' Roses. Domenico, der seine Aufmerksamkeit eher der Innenausstattung des Restaurants widmete statt der Speisekarte, schreckte ziemlich auf, als die Kellnerin neben ihm stand und unsere Bestellung aufnehmen wollte.
«Äh …» Er studierte verlegen die Speisekarte, doch mir war schnell klar, dass er nicht viel Englisch verstand.
«Hey, Alter, nimm doch auch 'nen Legendary 10 OZ Burger», empfahl Ronny. Domenico zuckte die Schultern und nickte, und Ronny strahlte stolz über sein ganzes Gesicht, weil Domenico zur Abwechslung mal auf seinen Rat hörte. Ich wählte ein Cajun Chicken Sandwich, während Delia sich mit einem Ceasar Salad begnügte.
«Sind das da oben wirklich die Klamotten von John Lennon?», fragte Domenico plötzlich, der seinen Blick schon wieder fasziniert durch den Raum schweifen ließ.
«Na logo, Alter, wir sind doch in London!», sagte Ronny.
«Ja, aber ich mein … ist das Zeug wirklich echt?»
«Du bist einfach köstlich, Nico», lächelte Manuela. «Natürlich ist das echt. Was denkst du denn?»
«Ich frag ja nur», murmelte er verlegen.
«Du bist gar nicht so cool, wie du immer tust», stellte sie beinahe schüchtern fest. «Schade, dass du nicht mehr in unserer Klasse bist.»
«Die Schulzeit ist ja nun eh vorbei …», warf ich wehmütig ein. «Nach den Sommerferien sind wir nicht mehr zusammen. Das ist unsere letzte gemeinsame Zeit ….»
«Ja, leider!» Manuela seufzte. Die Musik war so laut, dass wir uns richtig darauf konzentrieren mussten, einander zu verstehen. «Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich nach den Ferien meine Ausbildung beginnen soll. Es gurkt mich so total an!»
«Sei doch froh!», wandte Domenico ein. «Du kannst wenigstens was Richtiges machen. Ich hab ja alles vergeigt …»
Und schon waren wir mitten in einer Diskussion über unsere Zukunftshoffnungen. Als unser Essen serviert wurde – die Portionen waren gigantisch! –, war einer nach dem anderen von uns dran, seine Zukunftspläne auszubreiten. Obwohl wir von den meisten wussten, wie es nach der Schule weitergehen sollte, war es dennoch aufschlussreich, all die Geschichten nochmals zu hören.
Für Delia war der Fall klar: Sie wollte Model werden. Daran gab es nichts zu rütteln.
«Ey, keine Frage!», sagte Domenico. «Wenn du's nicht schaffst, Model zu werden, wer sonst?»
«Ja, aber meine Eltern wollen, dass ich zuerst eine Lehre mache», stöhnte sie und legte ihre Gabel beiseite, als ob ihr bereits der Appetit vergangen wäre. «Vom Modeln kann man ja nicht leben, behaupten sie, und so erfolgreich wie Heidi Klum, Claudia Schiffer oder Kate Moss werde ich wohl nie werden.» Sie hob traurig die Schultern. Sie war nämlich die Einzige von uns, die immer noch keine Lehrstelle gefunden hatte.
«Aber bis jetzt habe ich ja überhaupt kein Glück mit einer Lehrstelle gehabt. Meine Noten sind einfach zu schlecht.»
«Was für 'ne Lehre willst du denn machen?» Domenico war offenbar an allem interessiert.
«Ich würde ganz gern Friseurin werden. Ich meine, wenn ich schon eine Lehre machen muss, dann wenigstens etwas, was mir Spaß macht.» Sie seufzte so tief auf, dass ihr Stuhl wackelte. «Aber so, wie es aussieht, muss ich wohl das nehmen, was kommt.»
Domenico ließ seinen Blick intensiv auf ihr ruhen. Es war einer dieser Blicke, mit denen er die Leute bis auf die Knochen durchschauen konnte.
«Sag so was nicht!», meinte er bestimmt. «Ich bin sicher, du hast 'ne Menge Chancen.»
Delia starrte ihn gebannt an und stocherte weiter in ihrem Essen rum.
«Genau!», bekräftigte Ronny mit vollem Mund. «Sag ich auch immer! Was willst du denn werden, Alter?»
Die Frage war eindeutig an Domenico gerichtet. Doch er beantwortete sie nicht, sondern reichte den Ball an Manuela weiter.
«Und du, hast du schon 'ne Lehrstelle?»
Sie seufzte aus tiefstem Herzen, als hätte sie schon darauf gehofft, ihren Kummer bei Domenico loszuwerden.
«Meine Eltern erlauben mir nicht, Schauspielerin zu werden», klagte sie unglücklich. «Sie meinen, das sei nichts für mich. Ich soll eine kaufmännische Ausbildung machen. Sie haben alles schon für mich geregelt. Ich soll meine Lehre in der Firma von dem Freund meines Vaters machen. Es kotzt mich so an! Aber sie finden, ich soll nicht dauernd solche unrealistischen Träume haben, sondern lieber was Vernünftiges lernen. Sie behaupten, ich würde ihnen eines Tages dankbar sein. Und Freddy lacht mich nur aus, wenn ich mit meinen Träumen komme», sprudelte es aus ihr heraus.
«Freddy – ist das dein Bruder?», fragte Domenico.
«Ja, genau, dieser Volldepp!», beantwortete André die Frage an Manuelas Stelle. «Dem sollte man mal so richtig die vorderen Zähne polieren!»
«Danke, ich kann auch selber reden!», schleuderte ihm Manuela wütend entgegen. Und zu Domenico gewandt fuhr sie mit sanfterer Stimme fort: «Ja, das ist mein Bruder. Aber ich kann ihn überhaupt nicht leiden. Ich wünschte mir so sehr, endlich einen netten Jungen zu finden, dem ich all das anvertrauen kann und der mich versteht.» Mir entging der hoffnungsvolle Augenaufschlag nicht, den sie Domenico zuwarf. Nicki war offensichtlich im Begriff, zum «Kummerkasten» für Mädchenprobleme zu werden.
«Manu … wenn du keinen Jungen findest, weiß ich echt nicht, wo die ihre Augen lassen», sagte Domenico, und es war genau das, was Manuela hören wollte.
«Frauenprobleme!», brummte André. «Was soll ich denn sagen?»
Manuela funkelte ihn wütend an, als würde sie ihm gleich eine Backpfeife verpassen.
«Und ich will auf die Polizeischule!», trompetete Ronny, der wie immer nicht warten konnte, bis er mit Reden an der Reihe war. Er und André hatten schon fast den ganzen Teller leergefuttert. «Ich mach erst ein Jahr Praktikum und lass mich dann zum Bullen ausbilden, hähä!»
Domenicos Blick blieb noch ein paar Sekunden an Manuela hängen, doch dann wandte er sich Ronny zu.
«So-so, ein Bulle», grinste er. «Dann werde ich mich ja in Zukunft schwer benehmen müssen.»
«Na klar, ich will zur Kripo!», kaute Ronny mit vollem Mund. «Pass dann bloß auf, dass ich dich nie verhafte, höhö!»
«Ronny-Schätzchen», schimpfte Delia, «iss anständig!»
Für André war die Sache auch schon geritzt: Er hatte bei der Stadtverwaltung eine Lehrstelle als Vermessungstechniker bekommen und wollte später einmal Karriere bei der Bundeswehr machen. Natürlich, was würde auch besser zu ihm passen? Seine laute Stimme war geradezu ideal, um Befehle in der Gegend herumzubrüllen.
«Zur Bundeswehr kriegt mich jedenfalls keiner», stöhnte Domenico. «Geht auch gar nicht …»
«Na, und du wirst ja wohl die große Sportskanone werden, nehme ich an», konterte André mit einem leichten Anflug von Neid.
«Wohl kaum», meinte Domenico knapp und übergab das Wort an Patrik. «Du bist dran!»
Auch Patriks Träume waren natürlich kein Geheimnis mehr: Er würde erst mal wie ich das Abitur machen, dann eine technische Grundausbildung anstreben und sich während der Zeit gründlich auf den Eignungstest für eine mögliche Ausbildung bei der Lufthansa vorbereiten. Bis dahin war er eifrig dabei, sein Wahrnehmungsvermögen und seine Reaktionsfähigkeit zu trainieren und noch ein paar Kilo abzunehmen.
Auch über meine Pläne brauchte ich nicht viel zu sprechen: Es gab wohl kaum jemanden in der Klasse, der nicht wusste, dass ich in die Fußstapfen meines Vaters treten wollte.
«Frau Doktor Fischer!», feixte André. «Bei dir lass ich mich dann immer verarzten.»
«Unbedingt!», lachte ich. «Für so einen Beckenrandschwimmer wie dich bin ich allezeit die richtige Adresse!» Die Pointe saß. Dass ich allerdings noch ein paar zusätzliche Pläne hatte, wussten die anderen nicht.
Zum Schluss blieb nur noch eine einzige Frage offen. Alle Augen waren nun gespannt auf Domenico gerichtet. Und alle spürten, dass er nicht so einfach Zugang zu seinen Träumen gewähren würde. Delia war es schließlich, die sich traute, die Frage auszusprechen: «Und du, was willst du mal werden?»
Ja, was wollte Nicki werden? Der altbekannte Schatten zog über sein Gesicht, als er einsah, dass er der Frage nicht ausweichen konnte.
«Mal sehen …» Er spießte cool ein paar Pommes auf die Gabel. Das Video wechselte und brachte seinen Lieblingssong von den Scorpions. Domenico unterbrach seine Tätigkeit und starrte wie gebannt auf den Bildschirm.
«Du … wolltest doch mal ein berühmter Sportler werden?», fragte Delia vorsichtig. Ich kniff ihr warnend ins Bein. Domenico wandte ihr wieder seinen Blick zu.
«Hör zu, ich kann nicht mehr Sportler werden, okay? Du weißt ja, dass ich an der Lunge operiert wurde. Also! Mehr brauche ich ja nicht zu erklären.» Er konzentrierte sich wieder auf das Video und summte den Text leise mit.
The future's in the air
I can feel it everywhere
Blowing with the wind of change …
«Hast du jetzt eigentlich ganz mit dem Rauchen aufgehört?», stellte Delia die nächste vorsichtige Frage. «Ich meine …»
«Das kann ich dir erst sagen, wenn ich ein halbes Jahr astemio gewesen bin! Sorry, mir fällt das deutsche Wort nicht ein …»
«Hab schon verstanden», meinte Delia. Domenico widmete sich wieder dem Bildschirm.
Take me to the magic of the moment
On a glory night
Where the children of tomorrow dream away
In the wind of change …
Ich betrachtete ihn von der Seite, studierte wieder mal sein hübsches Profil und die kupferfarbenen Haare, die in sein Gesicht fielen. Doch, irgendwie sah er Morten Janssen schon ein bisschen ähnlich … Aber tatsächlich gab es da eine große Frage, die er nie wirklich beantwortet hatte: seinen Berufswunsch – sofern es seine Möglichkeiten zuließen.
Blows straight into the face of time
Like a stormwind that will ring the freedom bell
For peace of mind …
Die stumme Grenze, die er gezogen hatte, damit wir ihn bis zum Ende seines Lieblingssongs in Ruhe ließen, stand so deutlich im Raum, dass sogar die beiden Trampel André und Ronny die Botschaft verstanden und schwiegen.
Erst als die Kellnerin die Teller abräumte und der nächste Song über den Bildschirm flackerte, griff Delia das Thema wieder auf.
«Du könntest doch auch Maler werden», meinte sie zaghaft. «Du bist doch richtig begabt darin …»
Domenico zuckte mit den Schultern. «Davon kann ich wohl eines Tages keine Familie ernähren …»
Familie? In meinem Bauch kribbelte es. Wer würde ihm eines Tages eine Familie schenken? Ob ich daran beteiligt sein würde?
«Aber vielleicht wirst du ja berühmt?»
«Kaum!» Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
«Wie wär's denn mit Italienisch-Dolmetscher?», schlug Manuela eifrig vor.
«Mit meinen miserablen Rechtschreib-Kenntnissen?» Er lachte beinahe wütend auf. «Und Italienisch kann ich noch weniger schreiben. Bin ja nie dort zur Schule gegangen.»
«Aber warum denn nicht? Hey, Leute, wir müssen unbedingt einen Beruf für Nicki finden!», warf Delia in die Runde.
«Ach, lasst doch, das hat Zeit. Erst mal muss ich den Hauptschulabschluss irgendwie hinkriegen», suchte er immer noch verzweifelt einen Ausweg aus diesem Thema. Doch die anderen hatten sich eisern in den Kopf gesetzt, seinen Traumberuf herauszufinden. Von allen Seiten hagelte es Vorschläge.
«Reiseleiter auf Sizilien.»
«Grafiker.»
«Sportlehrer.»
«Pizza-Kurier.»
«Model.»
«Tänzer.»
«Mafioso.»
«Ronny!»
«Ich mein ja nur.»
«H-hey, nun hört doch mal auf!» Es war Patrik, der die Runde zum Schweigen brachte. «W-wenn Nicki d-doch nicht darüber reden will, lasst ihn d-doch einfach!»
Mit einem Schlag waren alle ruhig.
«Wir wollten nur helfen», murmelte Manuela geknickt.
Und dann wechselte das Video wieder, und ehe irgendjemand etwas sagen konnte, erkannte ich den Song von Metallica, und ich hielt die Luft an. Nicki stand sofort auf und rannte Richtung Toiletten.
«Was hat er denn?», fragte Delia verwirrt.
«Es ist Mingos Song», sagte ich. «Erkennt ihr ihn nicht? Der Song, der an seiner Beerdigung lief!»
Manuelas Augen fingen verdächtig an zu glänzen.
«Au Backe!», brummte André. «Das ist hart.»
«Bin gleich zurück», sagte ich ziemlich hastig und stürmte ebenfalls davon.
Ich fand Nicki im Korridor vor den Toiletten bei einer Glasvitrine stehen. Er betrachtete gedankenverloren die Souvenirs von Elvis und den Beatles.
«Nicki!»
Er wandte mir sein Gesicht zu. Ich sah, dass Tränen über seine Wangen flossen und auf sein T-Shirt tropften.
«Er wollte immer zu einem Konzert seiner Lieblingsband.» Seine Stimme war ohne jeden Klang. «Wir hatten sogar Tickets. Ich hatte sie ihm gekauft. Ich hab das Geld dafür aufgetrieben. Aber dann …»
Ich ging näher an ihn ran und strich über seine Wange.
«Er hat beide Tickets verkauft. Kurz vor dem Konzert. Für Drogen. Das war ihm wichtiger.»
«Hey …» Ich umarmte ihn ganz sanft.
«Ich pack das nicht, glaub ich …» Er schluchzte verzweifelt auf und wischte sich über die Augen. «Ich denk manchmal immer noch dran, dass ich am liebsten sterben würde …»
«Nein, sag das nicht!»
«Ach, komm … es gibt Dinge, die kann man nicht kitten, Maya. Sie sind für immer zerbrochen.»
Ich verzichtete auf eine Antwort und legte stumm den Kopf auf seine Schulter. Seine Tränen benetzten mein Haar. Ich drückte ihn fest an mich und wiegte ihn im Takt des Metallica-Liedes.
So close, no matter how far
Couldn't be much more from the heart
Forever trusting who we are
No, nothing else matters …
Ja, ganz egal, wie weit wir voneinander entfernt waren, in dem Moment zählte das alles nicht … Das Einzige, was wirklich zählte, war, dass wir einander festhielten. Irgendwie würden wir es schon schaffen … Wir durften uns einfach nicht mehr loslassen.