Den Rest des Abends hatten wir zur freien Verfügung. Einige von uns wollten unbedingt ein richtiges englisches Pub besuchen. Also trennten wir uns beim Hyde Park. Natürlich hatten sich wieder die üblichen zwei Gruppen gebildet. Frau Galiani mahnte uns, spätestens um halb zwölf zurück im Youth Hostel zu sein.
Domenico, der sich wieder gefasst hatte, übernahm wie selbstverständlich die Führung. Wir fanden ein original englisches Pub in der Nähe vom Piccadilly Circus.
«Cool, Mann», sagte Ronny und stampfte breitbeinig wie ein Cowboy im wilden Westen durch die Tür. «Let's go, people! Mann, hab ich Durst, ich könnte gleich 'n Fass Bier austrinken.»
«Keinen Alk, Ronny!», warnte Domenico. «Ich schlag dir sonst auf die Finger.»
«Die schenken hier unter achtzehn sowieso keinen Alk aus», wusste Delia. «Die haben strikte Verbote.»
Drinnen war es drückend warm. Wir belagerten die Theke, bestellten unsere Getränke und suchten uns dann einen Tisch. Den Rest des Abends brachten wir mit belanglosem Smalltalk zu. Ich war müde und hatte meinen Kopf auf Domenicos Schulter gelegt.
Um elf Uhr brachen wir auf, um rechtzeitig wieder in der Jugendherberge zu sein. Zum Glück war es nicht allzu weit. Wir konnten sogar zu Fuß gehen. Domenico, der mit Patrik zusammen die Karte studierte, schlug vor, ein Stück durch den St. James's Park zu gehen. Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen.
Der weiße Vollmond schimmerte durch ein paar dünne Wolkenschleier. Ein kühler Nachtwind drang in die Öffnungen meiner Jacke und ließ mich frösteln. Ich hatte mich eng an Domenico geschmiegt und genoss die wohlige Wärme, die sein Körper ausstrahlte.
Ein paar Meter vor uns gingen Ronny und Delia ebenfalls eng umschlungen. Delia hatte ihren Kopf an seine Schulter gelegt, und Ronny streichelte sehr zärtlich den Arm seiner Freundin.
«Irgendwie passen die ja zusammen», grinste Domenico. «Hoffe bloß, Manu findet auch endlich 'nen Freund. Mein Bruder hätte sich jedenfalls garantiert in sie verliebt, das weiß ich genau.»
«Echt?» Das musste ich ihr unbedingt irgendwann mitteilen …
Bei dem Gedanken an Mingo fiel mir natürlich sofort sein neugeborener Sohn ein: «Wie es dem kleinen Manuel wohl geht?», fragte ich.
«Ich denk die ganze Zeit an ihn …», murmelte er. «Ich kann es kaum erwarten, ihm die Windeln zu wechseln. Warte mal …» Ich zuckte zusammen, als er urplötzlich stehen blieb und seinen Rücken straffte. Fast erinnerte er mich dabei an einen Tiger, der Gefahr witterte. «Ich glaube, wir sollten …»
Just im selben Moment löste sich Delia von Ronny und drehte sich zu mir um: «Maya, kommst du mal kurz, ich muss dich was unter Frauen fragen.»
«Klar doch!» Ich machte mich von Nicki los. Doch er packte mich sofort wieder.
«Bleib hier!»
«Warum?»
«Bleib einfach!» Sein barscher Befehlston brachte mich sofort auf Hundertachtzig. Was fiel ihm ein? Ich ließ mich doch von ihm nicht herumkommandieren! Verärgert schüttelte ich seine Hand ab und gesellte mich zu Delia.
Hätte ich nicht so aufgebracht reagiert, hätte ich die Gestalten vielleicht eher bemerkt, die da in der Dunkelheit auf uns zutorkelten. In meinem Eifer hörte ich zwar ihr übergeschnapptes Lachen und das Klirren von Bierflaschen, doch ich war zu sehr mit meiner Empörung über Nickis dominantes Gehabe beschäftigt, um ihnen wirklich Beachtung zu schenken.
«Sternhagelvoll», bemerkte Delia kopfschüttelnd.
Wir wichen zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Es waren ungefähr sechs oder sieben junge Männer, altersmäßig schwer einzuordnen, vielleicht siebzehn, achtzehn, so wie Nicki. Sie konnten auch älter oder sogar jünger sein. Sie schienen wirklich allesamt stockbesoffen zu sein; dagegen waren die betrunkenen Mädchen bei uns daheim am Fluss geradezu nüchtern gewesen.
«Einfach ignorieren», sagte Delia, als einer von ihnen uns irgendwas Obszönes zurief. «Nur nicht hinsehen!»
Was nun in Folge geschah, lief innerhalb weniger Sekunden ab. Zwei von ihnen waren stehen geblieben und hatten sich nach uns umgedreht. Delia zerrte mich eilig vom Weg. Die Jungs gaben ein irres Gelächter von sich. Wir begriffen erst nicht, was das sollte, und hielten alles nur für ein blödes Spiel, bis wir merkten, dass wir umzingelt waren.
«Was sind denn das für hirnverbrannte Idioten?», schimpfte André, als Delia plötzlich hysterisch kreischte. Einer hielt sie an der Schulter fest, ein hässlicher, bulliger Kerl mit fettigem Haar. Er lallte irgendwas, nahm seinen speckigen Hut vom Kopf und stülpte ihn über Delias wallendes Haar. Ich wich reflexartig zurück und spürte gleich darauf, wie jemand sich meinen Arm grapschte. Sofort schnellte ich herum. Ein Typ mit Sommersprossen und karottenrotem Haar grinste mich mit schmieriger Fratze an und rülpste mir seine Alkoholfahne mitten ins Gesicht. Ich fauchte ihn entrüstet an.
«Hey! She is my girl!» Ronny kam Delia zu Hilfe, indem er wütend mit seinen Fäusten auf den stämmigen Oberarm des bulligen Kerls trommelte, doch er wurde von ihm wie eine Fliege weggeklatscht und fand sich am Boden wieder. Mit einem verwirrten Ausdruck im Gesicht schaute er auf und bekam im nächsten Augenblick von zwei weiteren Typen einen Fußtritt in den Magen versetzt. Mehrere gezielte Hiebe auf seinen Kopf folgten.
Spätestens jetzt hatte der Letzte von uns begriffen, dass das kein Spiel war. Ronny krümmte sich zusammen und wimmerte kläglich, als die zwei Jungen anfingen, ihn mit ihren Bierflaschen zu traktieren.
Und dann, innerhalb einer Millisekunde, wurde der erste Junge gewaltsam auf die Seite geschleudert. Der zweite folgte unmittelbar. Sie schienen beide buchstäblich durch die Luft zu fliegen und landeten mit einem dumpfen Aufprall auf dem Asphalt. Gleich darauf wurde mit einem jähen Ruck der Rothaarige von mir weggerissen und bekam krachend eine Faust ins Gesicht geknallt. Er taumelte rückwärts und hielt sich stöhnend das Kinn fest. Dann versuchte er, Luft zu schnappen, doch Domenicos Augen funkelten ihn kalt und drohend an. Ich wollte sofort zu Nicki rennen, wollte mich bei ihm bergen, doch die manische Wut in seinen Augen ließ mich abrupt stoppen. Ich keuchte und blieb stehen, wissend, dass jeder Annäherungsversuch ein unheilvolles Risiko mit sich brachte.
Nicki hatte sich in den gefährlichen Tiger-X verwandelt.
Er brüllte auf Italienisch, seine Fäuste zu unberechenbaren Waffen geballt. Der Junge stammelte irgendwas, hob abwehrend und etwas träge vom Alk seine Arme und ging in Deckung, weil er offenbar Domenicos Überlegenheit erkannt hatte. Domenico holte aus und versetzte dem Rothaarigen einen weiteren Faustschlag mit so einer unglaublichen Härte, dass das Blut regelrecht aus dessen Nase spritzte. Ich schrie gellend auf.
Der rothaarige Junge torkelte und fiel nieder wie ein gefällter Baumstamm. Er wälzte sich wimmernd auf dem Teerboden, während noch mehr Blut aus seiner Nase sickerte. Ich konnte die dunkle Flüssigkeit im Schein der Lampen genau sehen. Es war ein qualvoller Anblick, doch Domenico war noch nicht fertig mit ihm. Er sah kaltblütig auf den winselnden Jungen hinunter und trat ihm brutal mit seinen Schuhen in die Magengrube, immer und immer wieder. Der Junge krümmte sich bei jedem Tritt, stöhnte und spuckte noch mehr Blut aus, aber Domenico machte gnadenlos weiter, ohne jegliche Rücksicht darauf, dass der Junge bereits mehr als wehrlos war. Ich war regelrecht entsetzt über die rohe Gewalt, die er anwendete.
«Nicki, es reicht!», flehte ich. «Hör jetzt auf, ja?»
Domenico streifte mich mit einem flüchtigen Blick. Doch seine Augen gehörten nicht mehr ihm. Es waren die Augen eines Fremden, wie besessen von rasendem Zorn. Er krallte sich den Haarschopf des bereits besiegten Jungen und knallte dessen Kopf mehrmals hart auf den Asphalt. Wieder schrie ich, diesmal noch schriller. Mir war schlecht.
Der bullige Kerl und ein anderer Junge griffen ihn nun von hinten an, versuchten ihn zu überwältigen, doch Domenico wirbelte sofort herum und parierte jeden Hieb, als hätte er jahrelang trainiert. Ich wollte nicht wissen, in wie viele Straßenschlachten er schon verwickelt gewesen war. Ich wollte nicht mehr nachdenken … nichts mehr sehen …
Meine Beine sackten einfach zusammen. Ich richtete mich wieder auf, torkelte und schwankte, klammerte mich an einem Laternenpfahl fest. Das Essen kam mir hoch, als ich im Lichtkegel der Straßenlampe die zerquetschte Nase des Jungen sah und das viele Blut, das eine richtige Lache gebildet hatte. Ich würgte und presste die Hände auf den Mund. Mein Gesicht fiel ins Gras. Und blieb dort liegen. Wie lange, wusste ich nicht.
Als ich mich wieder hochstemmte, hatte sich plötzlich ein riesiger Menschenauflauf gebildet. Ich wusste nicht, woher all die Leute gekommen waren. Jedenfalls war auf einmal eine Menge los. Heulende Sirenen näherten sich, Blaulicht blitzte in der Ferne auf und zuckte durch die Nacht. Ich richtete mich auf und krabbelte auf allen vieren von dem bewusstlosen Jungen weg.
Uniformierte Polizisten sprangen durchs Gebüsch und kreisten uns ein. Diskussionen wurden laut, Leute erklärten etwas, gestikulierten wild und aufgeregt in der Luft herum.
Zwei Polizisten sprangen auf Domenico zu und packten ihn unter den Armen. Sie zogen ihn auf die Füße und legten ihm Handschellen um. Er schrie und brüllte. Trat heftig um sich. Weinte in verzweifelter Wut. Sie brachten ihn zum Auto. Öffneten die Tür und stießen ihn hinein. Das Auto fuhr los. Und ich hockte da, erstarrt. Oder auch nicht. Ich fühlte gar nichts mehr. Weil ich nicht mehr wusste, was ich fühlen sollte. Die Welt um mich drehte sich weiter, und ich ließ sie. Die Menschen um mich herum spielten ihre Rolle auch ohne mich. Patrik, André und Manuela wurden von zwei Polizisten ausgefragt. Ronny lag da und umarmte stöhnend einen Lampenmast. Delia kauerte am Boden und schluchzte krampfhaft. Der bewusstlose Junge wurde auf eine Tragbahre verfrachtet, während ein anderer Sanitäter sich um Ronny kümmerte.
Ich kniete einfach da, und das Silberherz drückte kalt an meine Brust. Wenigstens etwas, das ich fühlte. So lief das eben … immer und immer wieder … so lange, bis schließlich auch mein richtiges Herz nur noch aus eiskaltem Silber bestehen würde.
Dann war Frau Galiani da. Ich erfuhr erst hinterher, dass Patrik sie mit seinem Handy angerufen hatte. Sie führte ein langes Gespräch mit einem Protokollbeamten. Nicken, Erklärungen, wieder Nicken. Dann wurde ich gerufen. Ob ich auch noch etwas erzählen konnte. Was der Junge mir getan hätte. Ich weiß nicht mehr, was ich alles sagte. Mehr als ein zusammenhangloses Gestammel brachte ich nicht hervor. Mir war einfach nur noch schlecht.
Und dann schloss ich die Augen und zog mich in mein Vakuum zurück. Und ich stand da, die Blüte zu einer eisigen Knospe erstarrt, und ich fühlte, dass ich einen wichtigen Teil von mir verloren hatte. Ich hätte dagestanden, bis der Herbst gekommen wäre, hätten mich Patrik und Manuela nicht fortgezerrt. Jetzt war alles vorbei. Nicki würde ins Gefängnis kommen. Kein Zweifel. Das würde ich nicht aushalten. Ich würde keine Lebenskraft mehr haben. Nie mehr würde ich meine Blüten öffnen. Nie mehr Fragen stellen. Nie mehr …
Ich fror. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Ich saß mit Frau Galiani im Aufenthaltsraum und zitterte vor Kälte, obwohl es immer noch sommerlich warm war.
«Ich habe deine Eltern angerufen, Maya», sagte sie.
«Wo ist Nicki?» Meine Stimme klang wie aus einem hohlen Grab.
«In Untersuchungshaft. Im Moment können wir leider nicht mit ihm sprechen.»
«Er wird nicht mit uns zurückkehren?»
«Ich fürchte, nein.» Ein tiefes Seufzen kam aus ihrer Brust. «Das kann schon eine Weile dauern. Er hat im Gefängnis weiterrandaliert. Ziemlich brutal sogar. Er hat zwei Polizisten tätlich angegriffen. Sie mussten ihn mit Medikamenten ruhigstellen. Vorerst muss er wohl dort bleiben, bis man die Sache zu Ende ermittelt hat.»
«Dann muss er nun endgültig in den Knast?»
«Ich weiß nicht, wie die deutschen Behörden mit ihm verfahren werden, zumal sich das alles auf britischem Boden abgespielt hat.» Frau Galiani schenkte mir heißen Tee nach, der überhaupt nichts gegen die Kälte nützte. «Wir werden seinem Bewährungshelfer Bescheid geben müssen. Er wird am ehesten wissen, was zu tun ist.»
Und dann blieb es lange Zeit still, und ich wusste überhaupt nicht, wie spät es war. Ich realisierte nur, dass es draußen dunkel und überall merkwürdig still war. Mein Bauch tat weh, als wüchse dort ein ganze Hecke aus Dornenranken. Mein Herz schlug jämmerlich gegen meine Brust, aufgespießt von den Dornen der Rose, die mich einst mit ihrem süßen Duft so verlockt hatte.
Ich schloss die Augen. Die Bilder tanzten vor mir auf und ab, drehten sich, wechselten sich in konfuser Reihenfolge. Ein neuer Schock. Eiskalt. Neue qualvolle Erinnerungen, die mich in meinen Träumen unerbittlich martern würden. Es würde lange dauern, bis mein kaputtes Herz wieder einigermaßen zusammengeflickt war.
«Tja, es tut mir wirklich unendlich leid für dich», fasste Frau Galiani endlich den Entschluss, die Dinge auszusprechen, wie sie nun mal lagen. «Ich hatte gehofft … ja, dass endlich etwas Ruhe in dein Leben einkehren würde …» Sie blickte an mir vorbei, während ich darauf wartete, dass sie endlich den Todespfeil in mein Herz bohrte.
«Ich kann dir nicht sagen, was nun geschehen wird. Das hängt sicher davon ab, ob dieser Junge überleben wird. Domenico muss seinen Jähzorn unbedingt ernsthaft therapieren lassen, so viel ist klar. Wahrscheinlich nützt so ein Anti-Aggressions-Kurs nicht viel. Es braucht mehr.»
Frau Galiani sah mich ernst an. Ich schloss die Augen.
«Auf der anderen Seite war es natürlich völlig richtig, dass Domenico eingegriffen hat. Es war Notwehr, und das wird ihm vielleicht helfen. Jugendgewalt ist in England ein großes Problem. Ohne Domenicos Einsatz wärt ihr wahrscheinlich ziemlich übel unter die Räder gekommen. Trotzdem. Seine Gewalt war unverhältnismäßig. Er hätte den Jungen töten können.»
Ich nickte bebend.
Sie seufzte. «Ich fürchte, dass das Trauma mit Mingos Tod eben doch zu viel war für ihn. Wir dürfen nicht vergessen, dass sein Zwillingsbruder quasi vor seinen Augen gestorben ist. Trotz seiner Fortschritte, fürchte ich, wird es noch sehr, sehr lange dauern, bis er ein stabiles Leben führen kann. So ist der Lauf der Dinge: drei Schritte vorwärts und dann wieder ein, zwei Schritte zurück. Hinfallen und wieder aufstehen. Aber die Frage ist, ob du dir das wirklich antun möchtest.»
Ich hob fröstelnd die Schultern.
«Im Grunde genommen fand ich die Idee ja gut», sagte sie. «Du hast viel guten Einfluss auf Domenico ausgeübt, das ist eine unumstrittene Tatsache. Nur gibt es eben Grenzen. Und wenn ich dich jetzt wieder so weinen sehe, so verzweifelt, weiß ich nicht, ob ich dir nicht doch lieber abraten will. Du kannst ihm nicht helfen wollen und selber kaputtgehen dabei. Das geht nicht. Außerdem gibt es auch noch andere hübsche und nette Jungs.» Sie versuchte zu schmunzeln. Als ob mich so ein trivialer Satz aufheitern könnte!
Andere hübsche, nette Jungs … aber es gab keine zweite Laterne.
«Hör zu, Maya, ich denke mal, du willst bestimmt so bald wie möglich nach Hause, hab ich Recht?»
Mein Kopf nickte, mein Herz hatte quasi aufgehört zu schlagen.
«Ich habe mit Patrik und Frau Lindner geredet. Wir können euren Flug vermutlich so verlegen, dass ihr morgen nach Hause fliegen könnt. Patrik will dich begleiten, und Frau Lindner ist es recht, einen Tag früher abzufliegen. Ich bleibe mit der Klasse und Herrn Biedermann hier und versuche morgen, ein paar Dinge zu regeln und mich mit Domenicos Bewährungshelfer in Verbindung zu setzen. Vielleicht kann ich sogar mit Domenico sprechen, ja, ich hoffe es. Geh du jetzt ins Bett, Maya, und sieh zu, dass du morgen um acht Uhr bereit bist. Ist das okay so für dich?»
Ich nickte. Ja, ich wollte nach Hause …
Es klappte alles so, wie Frau Galiani es geplant hatte. Ich war froh, dass niemand von der Klasse mir Fragen stellte und ich im Flugzeug einfach nur schweigen durfte. Und dass Patrik bei mir war.
Meine Eltern holten mich am Flughafen ab und umarmten mich wortlos. Mama tupfte sich ein paar Tränen weg. Paps hatte eine steinerne Miene aufgesetzt. Ich wusste, dass noch viele Gespräche auf mich zukommen würden.
Aber was nützten diese Gespräche, wenn ich meine Blüten nie mehr öffnen würde?
Wir saßen im Wohnzimmer, und die große Uhr an der Wand tickte, als wolle jeder Schlag mir mitteilen, dass alles vorbei war. Paps räusperte sich und rutschte unruhig hin und her, während Mama still in ihr Taschentuch heulte. Meine Augen waren trocken wie Sand.
«Also, jetzt ist aber wirklich ein für alle Mal Schluss mit dieser Beziehung!», beendete Paps schließlich die Stille. «Ich meine … nun … er ist nach wie vor willkommen, und wenn ich irgendwas für ihn tun kann, dann … will ich ihm meine Hilfe nicht vorenthalten. Aber …» Seine Brust hob sich und rüstete sich für die schwere Aussage: «… aber ich kann diese dauernden Tränen einfach nicht mehr mitansehen. Ich meine, die ganze Familie leidet darunter, und das kann doch nicht so weitergehen!»
Niemand antwortete, weder Mama noch ich. Ich, weil ich innerlich nur noch tot wie eine Wüste war, und Mama, weil sie immer noch mit Schluchzen beschäftigt war.
«Ich … ach!» Paps rang verzweifelt die Hände. «Es tut mir wirklich leid, ich habe … Ich …» Er schöpfte tief Atem und wischte sich mit seinem Taschentuch ein paar Schweißtropfen von der Stirn. «Ich meine, Herrschaft nochmal, wenn er doch jetzt sowieso in den Knast kommt! Auf dieser Basis kann eine Beziehung doch nicht funktionieren!»
Mama tupfte sich die Tränen weg, und es war das erste Mal, dass ich mir auch bei mir Tränen wünschte, obwohl ich mich so oft über sie aufgeregt hatte. Aber sich wie eine tote Wüste zu fühlen, war ja noch viel schlimmer.
Und dann sagte Mama etwas, was ich in meinem ganzen Leben nie mehr vergessen werde. Sie sprach mit einer Stimme, die nicht zu ihrer Gegenwart gehörte – einer Stimme, die sich anhörte, als käme sie aus ihrer tiefsten Vergangenheit: «Ich wünschte, in meinem Leben hätte es auch mal so einen Ritter gegeben, der sich für mich mit Leib und Seele eingesetzt hätte!»
Paps starrte Mama mit offenem Mund an, während ich zu erfassen versuchte, wovon sie sprach.
«Seht doch die Dinge mal anders rum!», rief sie unter Tränen.
«Wie andersrum? Was meinst du mit Ritter? Esther, was soll das? Das sind doch sentimentale Märchen. Ritter! So was gibt es doch in Wirklichkeit nicht. Jetzt werde du nicht auch noch unrealistisch. Es reicht schon, wenn unsere Tochter eine rosarote Brille aufhat.»
«Meine Tochter hat keine rosa Brille auf!» Mama fuchtelte hysterisch mit dem Taschentuch herum. «Meine Tochter spürt eben, was wahre Liebe ist!»
«Also, ich verstehe nun überhaupt nichts mehr», sagte Paps verwirrt.
«Weil das ganz klar Frauensache ist!», knurrte Mama. «Mir geht es um das Warum. Domenico hat diesen Jungen doch nur verprügelt, um meine Tochter und all die anderen zu beschützen! Diese Idioten haben es nicht anders verdient! Kapierst du das nicht?» Sie zerknüllte wütend ihr Taschentuch in der Faust.
«Aber das ist doch Quatsch!» Paps stand empört auf. «Esther, wie kannst du so was sagen? Domenico hat diesen Jungen vielleicht sogar umgebracht, und es ist nicht das erste Mal, dass so was vorkommt! Er ist gefährlich, begreifst du das nicht? Sein Zorn, sein Jähzorn, macht mir Angst! Was ist, wenn er eines Tages auf Maya losgeht? Was ist denn das für ein sentimentaler Kitsch, den du da von dir gibst?»
Jetzt war auch Mama aufgestanden. «Das ist kein sentimentaler Kitsch, Martin! Das ist die Sehnsucht, die jede Frau in sich trägt!»
«Ja, aber man prügelt doch nicht Menschen halb zu Tode! Das kann man doch diplomatisch lösen!»
«Ich sage ja nicht, dass es richtig war! Ich rechtfertige seinen Jähzorn auch überhaupt nicht!» Mamas Stimme überschlug sich fast. «Mir geht es darum, dass es zu wenig Männer gibt, die ihre Frauen so leidenschaftlich lieben, wie Nicki Maya liebt!»
«Willst du mir damit etwa sagen, dass ich dich nicht genug liebe?!», schrie Paps zurück. Doch Mama hatte sich schon in ihr Klavierzimmer zurückgezogen und die Tür zugeknallt. Ich saß komplett verdutzt da. Ich hatte meine Eltern noch nie in meinem ganzen Leben so streiten gehört. Was war auf einmal los? Was war nur mit uns allen los? Geriet jetzt unsere ganze Welt komplett aus den Fugen?
Ich blieb auf dem Sofa sitzen und machte keinen Mucks mehr, und Paps saß einfach da und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Schließlich stand auch er auf, ging in sein Arbeitszimmer und schlug die Tür so heftig zu, dass das ganze Haus erbebte.
Und ich war allein. Allein mit der Sonne, die unschuldig durch das Fenster schien und versuchte, mit ihren Strahlen mein Gesicht zu streicheln. Aber sie schaffte es nicht. Licht und Schatten fochten ein unerbittliches Duell in mir und forderten meine ganzen Kräfte. Ich fühlte mich auf einmal um Jahre gealtert. Matt stand ich auf und schleppte mich in mein Zimmer hoch, wo ich mich auf mein Bett fallen ließ und mich widerstandslos meinen Traumbildern hingab, die über mir zusammenschlugen wie donnernde Wellen.
Das Puzzle war definitiv nicht komplett, ich wusste es jetzt. Da waren noch riesige Löcher.
Mama hatte Recht gehabt. Aber wo, Gott, ist das fehlende Teilchen?, schrie ich in meinem Herzen. Was fehlt denn noch? Warum stürzt Nicki immer wieder in diesen Abgrund?
Ich holte die Fotos und breitete sie auf meinem Bett aus. Die Zwillinge, ihre Kindheit in Sizilien, die Nonne, die kleine Bianca und Mingo. Welches Bild aus seinem Leben fehlte denn jetzt noch?