23. Das fehlende Puzzle-Teil

Ich wusste nicht genau, ob mit meinen Eltern alles in Ordnung war. Ich wusste nur, dass Mama in ihrem Klavierzimmer fürchterlich geweint und Paps später zu ihr hineingegangen und lange mit ihr geredet hatte. Aber ich wusste nicht, was bei diesem Gespräch herausgekommen war. Tatsache war, dass sich seit diesem Tag zwischen meinen Eltern etwas verändert hatte. Etwas war dabei, sich in eine andere Richtung zu drehen, und das jagte mir furchtbare Angst ein.

Ich hatte Ferien, doch ich wäre ausnahmsweise lieber zur Schule gegangen und hätte mich mit Dankbarkeit in meine Schulbücher vergraben. Es gab keine schlimmere Qual, als planlos im Zimmer rumzuhängen, weil jedes Mal, wenn ich aufstehen und etwas machen wollte, der Schmerz so intensiv gegen meine Brust hämmerte, dass ich gezwungen war, mich wieder dem Nichtstun zu ergeben. Und im Nichtstun blieb die Zeit stehen.

Frau Galiani hatte mir einen Brief von der englischen Behörde weitergeleitet. Dort drin hatte man mit ausdrücklichem Bedauern erwähnt, dass man sich der ausschweifenden Jugendgewalt in London bewusst sei und sich in aller Form für diesen Vorfall entschuldige: «Dear Miss Fischer, I am sorry to hear that you have become a victim of crime …» Außerdem schrieb der Detective Inspector, dass der Polizei diese Jugendgang bekannt sei, die uns angegriffen hatte. Es sei nicht das erste Mal gewesen, dass so etwas vorgekommen wäre. Im Falle des Schülers Domenico di Loreno würde man weitere Abklärungen treffen. Der von ihm verletzte Junge würde mit einer leichten Behinderung davonkommen. Und uns rate man, dass wir die psychologische Betreuung von «Victim Support» in Anspruch nehmen sollten, einer Opferhilfe der Londoner Stadtbehörden. Am Ende schrieb der Inspector, dass die Stadt zum Zeichen der Wiedergutmachung sämtliche Polizei- und Sanitätsunkosten, die uns betrafen, voll übernehme.

Ich las den Brief und gab ihn meinen Eltern. Mama las ihn mehrmals. Paps überflog ihn erst beim Abendbrot. Dieses Schreiben stellte die Sache jedenfalls schon mal in ein ziemlich anderes Licht.

«Nun gut», meinte er schließlich und legte den Brief neben seinen Teller. «In dem Fall muss ich Nicki wirklich dankbar sein, dass er rechtzeitig reagiert hat. Und trotzdem. Sein Gewaltpotenzial macht mir Angst. Wir müssen das Ganze mit eurer Beziehung wirklich nochmals gründlich überdenken.»

Nicht, dass sich die Stimmung nun großartig änderte. Paps verbrachte die meiste Zeit in seiner Praxis, und wir sahen nicht viel von ihm. Manchmal raffte ich mich auf und half Mama im Garten, aber wir schwiegen mehrheitlich. Sie wirkte ruhig und gefasst, doch in ihrem Gesicht hatte sich etwas verändert, als ob sie ein Geheimnis mit sich herumtragen würde, das wir nicht kennen durften.

Und ich stand auf der Brücke zwischen meiner Welt und der von Nicki und versuchte mich an den Seilen festzuhalten, die noch einigermaßen intakt waren. Ich saß stundenlang vor seinen Zeichnungen und starrte sie an, um die schockierenden Szenen seiner Gewalt wieder aus meinem Sinn zu vertreiben. Natürlich, diese Jungs waren Idioten gewesen, sie hatten es nicht anders verdient. Ohne Nickis Eingreifen wären wir ja womöglich verloren gewesen. Trotzdem … Nickis Jähzorn war jenseits meiner zulässigen Vorstellungen. Er hatte mein Herz in zwei Teile gerissen.

Ich hatte keine Ahnung, wie es ihm ging. Die Vorstellung, wie er sich in seiner Situation fühlen musste, war etwas, das ich sorgsam in der untersten Schublade meiner Gedankenwelt verwahrte. Wenn ich diese Schublade nur ein kleines bisschen öffnete, türmten sich grässliche Bilder vor mir auf und füllten meinen Kopf mit den schlimmsten Horrorszenarien. Dann konnte ich nichts mehr essen und mich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Also trainierte ich mich in eiserner Disziplin, auch nicht den kleinsten Anflug eines solchen Gedankens zuzulassen – was teilweise zu so einem zähen inneren Ringkampf ausartete, dass ich mich in der Folge oft stumpf und taub fühlte. Wie ein Abfluss, der verstopft war.

In der Zwischenzeit rief mich Leon an. Er war höflich und gefasst wie immer, doch er verlor keine unnötigen Worte.

«Ich habe gehört, dass dein Freund im Untersuchungsgefängnis sitzt», sagte er so sachlich, als würde er einen Arztbericht zusammenfassen. «Und da wollte ich mal wissen, wie es dir so geht und ob ich vielleicht etwas für dich tun kann.»

Tja, was sollte ich Leon erzählen?

«Nein, danke», sagte ich beherrscht. «Mir geht es gut.»

Doch Leon war nicht unsensibel. Er hörte meiner Stimme sehr wohl an, dass ich in meinem ganzen Wesen zutiefst erschüttert war.

«Weißt du, Maya, ich möchte ganz ohne Hintergedanken mit dir reden, weil mir eben viel an dir liegt. Glaub mir, du rennst in dein Verderben, wenn du so weitermachst. So ein Typ wie der kann sich nicht ändern, der ist doch schon viel zu kaputt. Komm zurück in die Realität. Hallo? Du bist eine junge, hübsche und sehr liebenswerte Frau, und es gäbe so viele Jungs, die sich für dich interessieren würden. Weißt du, es hat mich wahnsinnig schockiert, als ich dich damals vor dem Krankenhaus getroffen habe. Mit diesen schlampigen Klamotten und dem Bluterguss am Auge. Das war nicht die Maya, die ich kenne und liebe! Was ist mit dir passiert? Maya, sag mal, wo stehst du eigentlich?»

Der Hieb tat weh. Jedes seiner Worte tat weh. Und ich wusste, dass ich keine Chance hatte, Leon die wirkliche Story zu erklären. Das alles hätte Leons schlimmste Befürchtungen ja nur bestätigt, dass ich mich tatsächlich im falschen Umfeld bewegte.

«Tut mir leid, Leon, ich möchte nicht darüber reden», sagte ich deshalb ernst. «Es ist jedenfalls nicht so, wie du denkst. Aber ich … ich wollte dir einfach auch sagen, dass mir das alles selber sehr wehgetan hat, was zwischen uns war. Ich habe mich nicht richtig verhalten, das weiß ich. Aber ich konnte dir nicht mehr länger was vormachen.»

Am anderen Ende war langes Schweigen, und dann fragte Leon sehr leise und sehr traurig: «Erklär mir wenigstens eines, Maya: Was findest du denn so faszinierend an … an diesem Domenico? Wenn ich das verstehen kann, dann … vielleicht kann ich es dann auch leichter verschmerzen.»

Ich hörte seiner Stimme die Überwindung an, die es ihn gekostet hatte, Domenicos Namen auszusprechen. Aber ich konnte Leon keine logische Erklärung liefern.

«Nur noch eins, Maya: Solltest du jemals so sehr am Boden liegen … nun ja, du sollst wissen, dass ich dann immer noch für dich da sein werde. Solltest du ganz in den Abgrund stürzen, werde ich unten stehen und dich auffangen, wenn es sein muss. Das ist alles, was ich noch sagen wollte!»

Es klang sehr ehrlich, und meine Finger waren steif, als ich auflegte. Ich musste meine Hand erst lockern, um sie wieder bewegen zu können.

Abgrund … aber wann war der Abgrund zu Ende? Wenn Nicki für längere Zeit ins Gefängnis käme, also … dann wusste ich auch nicht, wo ich landen würde.

Ich blieb vor der Villa stehen. Pfarrer Siebold war meine letzte Hoffnung. Wenn er nicht da war, würde ich meine Zelte hier aufschlagen und warten, bis er auftauchte. Ich würde dableiben und in den Nachthimmel starren und die Sterne zählen, so lange, bis die Antwort von Gott vom Himmel herunterregnen würde.

Doch ich hatte Glück; Pfarrer Siebold war da. Er saß wie so oft in seinem Studierzimmer und hörte nicht mal mein Klopfen. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und öffnete einfach die Tür einen Spalt breit.

«Pfarrer Siebold?» Meine Stimme hallte hohl vom Flur her.

Da hob der Pfarrer seinen Kopf und blickte mich unter seinen buschigweißen Augenbrauen freundlich an.

«Nanu, da ist ja unser Maiglöckchen. Das ist ja eine schöne Überraschung. Was führt dich zu mir? Und wo ist dein netter junger Freund?»

Ich zwängte mich durch den Türspalt und trat schüchtern in den Raum. Der Kristallleuchter klirrte an der Decke, als ich die Tür eine Nuance zu heftig schloss.

«Komm doch her. Was hast du auf dem Herzen, mein Kind?» Das warme, herzliche Lächeln des Pfarrers spendete mir Trost. Genau so stellte ich mir das Lächeln Gottes vor.

«Er sitzt im Knast. Domenico ist in U-Haft.» Meine Stimme hörte sich an, als ob sie frei im Raum herumschweben würde.

«Ach!» Pfarrer Siebold sah mich bestürzt an, doch seine Augen verloren ihren hoffnungsvollen Glanz nicht. Ich trat zaghaft an sein Pult heran.

«Wie ist denn das passiert?», fragte er beinahe gelassen.

«Er hat sich geprügelt … Er hat einen Jungen schwer verletzt. Wegen mir. Verstehen Sie? Lebensgefährlich verletzt. Es ist nicht das erste Mal, dass so was vorkommt.»

«Setz dich doch.» Der Pfarrer wies auf den freien Stuhl vor seinem Pult. Ich nahm Platz und stellte die Tüte, die ich bei mir hatte, zwischen meine Füße.

«Sorgen ändern nichts an der Tatsache.» Der alte Mann musterte mich eingehend. Seine hellblauen Augen funkelten mich fast überirdisch schön und mild zugleich an. «Sie machen nur das Herz und das Hirn kaputt.»

«Aber … Sie verstehen nicht … ich liebe ihn immer noch … und ich weiß, ich sollte das nicht! Er ist innerlich zu kaputt … verstehen Sie …»

Und ich erzählte Pfarrer Siebold alles: von Nickis dauerndem Auf und Ab, dem krankhaften Jähzorn, den er immer noch nicht im Griff hatte, seinem bislang fast aussichtslosen Kampf gegen die Nikotinsucht, seiner Trauer um Mingo, meiner Ratlosigkeit, meinen verwirrten Gefühlen und der Tatsache, dass ich immer noch so heftig in ihn verliebt war.

Ein verständnisvolles Lächeln glitt über die Lippen des Pfarrers, als ich fertig war. «Ach ja, die Liebe», seufzte er. «Unüberwindlich wie der Tod, so ist sie, und ihre Leidenschaft so unentrinnbar wie das Totenreich. Wen sie erfasst, der kennt ihr Feuer, sie ist eine Flamme Gottes. Mächtige Fluten können sie nicht auslöschen, gewaltige Ströme sie nicht fortreißen», zitierte er.

«Haben Sie das selbst gedichtet?», fragte ich verblüfft.

«Aber nein, das stammt aus der Bibel», schmunzelte er. «Das Hohelied der Liebe. Ist es nicht erstaunlich zutreffend?»

«Doch», murmelte ich fasziniert. Es war sogar mehr als zutreffend.

«Von dem Autor verfasst, der die Menschenherzen genau kennt, weil er selbst sie erschaffen hat.»

«Gott?», fragte ich leise.

Der Pfarrer antwortete mit einem leichten Nicken.

«Ich kann es ja selber nicht verstehen, aber ich liebe Nicki immer noch!» Jetzt endlich kamen ein paar Tränen. «Oh, Pfarrer Siebold, ich weiß einfach nicht … keiner scheint mich zu verstehen … bis auf meine Mutter. Aber alle anderen halten mich nur noch für verrückt. Sie glauben, dass Domenico gefährlich ist … dass er niemals sein Leben in den Griff kriegen wird …»

«Weißt du, wichtig ist nicht, was die Leute glauben, sondern was du glaubst», sagte der alte Mann zu meinem Erstaunen. «Gott wird dein Vertrauen belohnen. Wenn du auf dein Herz hörst, wird es dir die Wahrheit sagen. Wenn du tief in dich hineinhorchst, wird es dich leiten wie ein Kompass, denn dein Herz ist der Ort, wo Gott wohnt. Und dann wirst du wissen, was du zu tun hast.»

«Ich dachte, vielleicht können Sie mir einen Rat geben?»

«Ach!» Er winkte ab. «Ich bin nur ein alter Mann und mache manchmal selber dumme Sachen. Aber es gibt jemanden, der viel weiser ist als wir und alle Zusammenhänge sieht. Und dieser Jemand wird zu deinem Herzen sprechen.»

«Aber was, wenn ich mich irre?»

«Nun ja … das kann natürlich jedem passieren.»

«Sehen Sie sich bitte das hier mal an!» Ich zog Domenicos Bilder aus der Tüte und reichte sie dem Pfarrer. Er rückte seine Brille zurecht und sah sich eines nach dem anderen an. Er nahm sich viel Zeit dafür.

«Fantastisch!», staunte er. «Wirklich fantastisch. Dein Freund hat … nun, ich würde sagen, weit mehr Talent als irgendjemand sonst, der mir je begegnet ist.»

Er betrachtete das Bild von dem Jungen, der seine Arme um das Mädchen geschlungen hatte.

«So viel Sanftheit … er muss dich wirklich sehr lieben.»

Ich nickte, während ganze Wellen aus Gold mein Herz einhüllten und neue Tränen an die Oberfläche spülten.

«Aber das hier …» Der Pfarrer studierte die beiden Horrorbilder, die Domenico mir vor langer Zeit überlassen hatte. Es waren die Bilder mit dem Totenkopf, dem Messer und den Blutstropfen.

«Was bedeutet das, Pfarrer Siebold?», fragte ich bange.

Er seufzte leise. «Angst. Ich sehe große Angst auf diesen Bildern.»

«Angst?» Ich verstand nicht ganz.

«Ja, Angst. Ein Übel, das direkt aus der tiefsten Verlorenheit kommt und unsere Herzen zerfrisst wie Säure. Sie führt zu Leid, zu Krankheit und nicht zuletzt zum Tod. Sie bindet uns an Dinge, macht uns zu Sklaven von Süchten. Dein Freund ist in der Tat ein kompliziertes Puzzle-Spiel. Aber wenn er seine Angst nicht überwindet, wird er nie das komplette Bild sehen.»

«Aber welche Angst denn?»

«Er wird die Antwort selbst wissen. Das, wovor wir uns am meisten fürchten, ist genau der Punkt, wo Gott seinen Finger drauflegt. Vergiss nicht: Der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. Denn alles, wovor wir uns aus Angst drücken, beraubt uns nur des Segens, den Gott für unser Leben vorgesehen hat. Auf jeden Fall – was dein Freund am nötigsten braucht, ist Liebe!»

Und auf einmal hatte ich die Erkenntnis, die so klar war wie der Kronleuchter an der Decke: «Er fürchtet sich vor seinem Vater», hauchte ich. «Und … auch vor seiner Mutter!»

Pfarrer Siebold neigte leicht seinen Kopf. «Siehst du, die Antwort war nicht schwer. Aber sie ist keine Wahl. Sie ist Bedingung für eure Beziehung. Das fehlende Puzzle-Stück. Sonst wird ein Teil seines Herzens immer in der Finsternis bleiben. Und deines mit dazu, wenn du zu ihm halten willst.»

Als ich hinausging, wusste ich, dass es die Antwort war.