Es dauerte fast sechs Wochen, bis Domenico wieder nach Hause kommen durfte. In diesen sechs Wochen war einiges passiert.
Carrie und Manuel waren aus dem Krankenhaus entlassen worden. Der kleine Manuel hatte den Entzug überstanden und war den Umständen entsprechend überraschend gesund. Die Ärzte waren selber nicht mehr aus dem Staunen herausgekommen. Carrie lebte nun mit ihm in einer betreuten Mutter-Kind-Einrichtung und musste regelmäßig mit ihm zur Untersuchung und Therapie wegen seiner Lunge. Der Arzt meinte, dass Manuel ein fast normales Leben würde führen können, wenn er frühzeitig lernte, umsichtig mit seiner Schwäche umzugehen.
Carrie nahm ihre Aufgaben sehr genau und hielt sich peinlich exakt an die Anweisungen des Arztes. Sie gab es zwar nicht zu, aber ich glaube, dass sie Nicki unheimlich dankbar für sein Gebet gewesen war.
Biancas Vater hatte eingewilligt, das Sorgerecht abzugeben. Offensichtlich wollte er nicht, dass das Jugendamt weitere Nachforschungen anstellte. Bis meine Eltern aber als mögliche Pflegeeltern in Frage kommen würden, musste doch noch einiges abgeklärt werden. Mama hatte sich schon mal zu einem Informationskurs angemeldet, doch Bianca stellte sich immer noch ziemlich bockig an. Ich wusste, dass ich ihr ein Dorn im Auge war, weil ich ihren Bruder liebte und er mich. Sie spürte offensichtlich den gewaltigen Unterschied zwischen Domenicos früheren Freundinnen und mir. Sie fühlte ganz genau, dass Nickis Zuneigung nicht mehr ungeteilt ihr gehörte. Früher waren sie eine Familie gewesen: Nicki, Mingo und Bianca. Diese Familie war nun zerbrochen, und ich war als Fremdkörper dazwischengetreten. Dieser Gedanke war für mich nicht gerade leicht zu ertragen.
Die erste große Befreiung aus der Zerrissenheit war Domenicos Brief aus London gewesen.
Liebe Maya ich wollt dir unbedingt schreiben. Ich sitse im Knast und es macht mich wansinnig aber ich kan bald nachhause. Ich weis nich wie es dir get und ich hofe nicht dass weil es mich krank macht zu wisen wenn dass ich dir weh tue weil ich das nicht will. Ey mein deutsch wird immer schlimer ich sollte entlich mal wider in der Schule sonst ferlerne ich das wie man es schreibt. Mir ist fiel klar geworten und ich fersuch das jetz jeden Tag ich für dich bete das es dir gut get weil mir das hilft. Sie haben mir gesagt das ich nachhause kan in einer woche. Ich erzele dir wenn ich zurük bin. Das Bild ist für dich weil ich nicht mit Worten sagen kan wie ser das ich dich liebe aber ich ferstehe wenn du nicht mehr wilst. Ciao ti amo per sempre, amo la soavità del tuo sguardo, Nicki.
Ich lächelte, als ich das Bild aus dem Umschlag zog. Ach, Nicki … ein Herz, aus dem dicke Bluttropfen quollen und in dessen Mitte MI MANCHI stand. Ich stellte es neben mein Bett, wo ich es jeden Abend anschauen konnte, während ich die Tage zählte, die vergingen.
Mein Leben zuhause hatte sich in zwei Fronten gespalten. Die eine Front war Mama, die mich nach wie vor unterstützte in meiner Liebe zu Domenico. Sie fand immer noch, dass er trotz allem viele Fortschritte gemacht hatte.
Paps sah das anders. «Ich kann nicht mitansehen, wie die Gefühle meiner Tochter dauernd hin und her geworfen werden», sagte er. «Das gefährdet langsam aber sicher unsere ganze Familie!»
Und ich? Ich stand zwischen diesen beiden Fronten, denn irgendwie schienen sie beide Recht zu haben, mein Vater und meine Mutter.
Domenicos Auftritt in meinem Leben hatte nicht nur mich gespalten, sondern hatte auch im Leben meiner Eltern Dinge hervorgeholt, die tief verborgen in ihnen geschlummert hatten. Und ich spürte, dass Gott noch nicht fertig war mit unseren Herzen. Ich wusste nicht, was geschehen würde, aber ich ahnte, dass wir auf einer tickenden Zeitbombe saßen. Und dass mein eigenes Leben in Bälde explodieren würde. Doch all diese Dinge behielt ich für mich und klammerte mich an den Worten fest, die Pfarrer Siebold in mein Herz gepflanzt hatte.
Ich organisierte mit Mama am vierzehnten September ein kleines Geburtstags- und Willkommensfest für Nicki. Er hatte ausdrücklich gesagt, dass er keine große Feier wünschte. Ich hatte nur ganz kurz am Telefon mit ihm geredet.
Als er zu uns kam, brachte er den kleinen Manuel mit. Er trug ihn stolz auf seinen Armen ins Haus herein und lächelte mich an. Und ich blieb mit klopfendem Herzen und weichen Knien in der Wohnzimmertür stehen.
«Hi Principessa!»
«Hi Nicki! Happy Birthday!»
Er war schmal geworden, und sein Gesicht war etwas eingefallen und blass, aber sein Lächeln zeigte seine Wangengrübchen, und das war immer ein gutes Zeichen. Ich sah, wie auch er mich intensiv musterte und seine aufmerksamen Augen jede noch so kleine Veränderung meines Körpers registrierten.
«Du bist so zerbrechlich geworden», bemerkte er leise. «Richtig dünn.»
War das wirklich so? Ich sah an mir runter. Natürlich, ich hatte die letzten Wochen nicht gerade wahnsinnig viel Appetit gehabt …
«Du aber auch», sagte ich.
«Ja, ich weiß. Das Essen im Knast war scheußlich!» Die Grübchen verschwanden, als er sein schiefes Grinsen zeigte. Er blickte auf seine Jeans hinunter, die wieder viel zu weit um seine Beine schlackerten. Der kleine Manuel wimmerte ein bisschen in seinen Armen, und er beugte sich über ihn und küsste ihn beruhigend auf die Stirn.
«Ist Carrie auch da?», fragte ich.
«Nee, die ist bei 'ner Freundin eingeladen. Sie meinte, der Kleine wäre heute Abend bei mir besser aufgehoben. Sie lässt dich übrigens grüßen.»
Mama trat hinzu. Ihr Lächeln wirkte etwas abgekämpft, aber happy. «Herzlichen Glückwunsch zum achtzehnten Geburtstag, Nicki! Ich bin so froh, dass du wieder da bist!»
Domenico gab mir behutsam das Baby auf den Arm, um Mamas Umarmung erwidern zu können. Etwas unsicher hielt ich das kleine, warme Bündel an mich gedrückt. Der Säugling gluckste und ballte seine zarten Fäustchen. Er war immer noch winzig, aber zumindest schien er ganz munter zu sein.
Auch Paps kam und schüttelte Domenico die Hand.
«Hallo, Domenico. Von mir auch alles Gute zum Geburtstag! Haben sie dich endlich nach Hause gelassen. Nun, äh … die Polizei hat uns mitgeteilt, dass diese Jugendgang stadtbekannt sei in London. Nun, also, auf jeden Fall … danke, dass du dich für meine Tochter eingesetzt hast.»
Domenico erwiderte Paps' Aussage mit einem etwas unsicheren Lächeln.
«Meine Freunde lassen dir übrigens auch danken für deine Hilfe», warf ich ein. «Ronny ganz besonders. Die haben ihn ja ziemlich arg rangenommen.»
«Ach ja, wie geht es ihm denn?», fragte Domenico.
«Einigermaßen okay. Er ist wieder auf den Beinen. Er hatte ein paar Prellungen. Zum Glück nichts allzu Schlimmes. Aber er fragt ständig nach dir. Ich glaub, er hält dich für einen prima Kumpel. Überhaupt waren alle sehr betroffen über das, was passiert ist. Deli hatte allerdings einen ziemlichen Schock …»
Domenico senkte sein Gesicht, und ich wusste nicht genau, was in ihm abging. Ob er sich vielleicht daran erinnerte, wie sein Jähzorn einst an Delia mal zum Ausbruch gekommen war?
Ich stürmte in mein Zimmer hinauf, um meine Geschenke für Nicki zu holen. In einem Accessoire-Laden hatte ich eine coole Surferkette mit schwarzen, braunen und weißen Holzperlen gefunden, von der ich sofort gewusst hatte, dass er sie mögen würde. Er strahlte und zog sie sich auch gleich zu seinem Tigerzahn an. Außerdem hatte ich ihm auch noch einen DIN-A1-Zeichenblock mit hochqualitativem Papier gekauft, weil er sich immer darüber beklagt hatte, dass die Malfläche auf den normalen Blöcken viel zu klein sei.
Etwas später saßen wir um den Esstisch. Mama und ich hatten «Sfinciune» gemacht, eine sizilianische Pizza mit Zwiebeln und Sardellen, weil wir wussten, dass Nicki die gern aß. Er hatte den Kinderwagen in die Küche geholt und Manuel wieder hineingelegt, damit er schlafen konnte.
Während des Essens erzählte uns Domenico, was alles abgelaufen war und dass alles ziemlich kompliziert gewesen sei mit den Behörden. Auch jetzt wusste er noch nicht genau, wie sein Fall weiter abgehandelt werden würde. Doch er erzählte uns nur die nüchternen Fakten. Alles andere, nämlich wie es ihm wirklich ergangen war, verschwieg er. Ich hoffte, dass er es mir nachher anvertrauen würde, wenn wir allein waren. Meine Mutter war klug genug, nicht danach zu fragen, und Paps war so intensiv damit beschäftigt, alle Informationen einzuordnen und nach Lösungen zu suchen, dass er gar nicht erst zu diesem Thema vorstieß.
Nach dem Essen wechselten wir zum ersten Mal gemeinsam als Pate und Patin dem kleinen Manuel die Windeln. Mama hatte uns dafür das untere Badezimmer zur Verfügung gestellt. Ich hatte noch nie ein Baby gewickelt, aber Domenico war schon erstaunlich geübt darin.
«Carrie hat mir den ganzen Kram bis ins Detail erklärt», stöhnte er. «Als ob ich das noch nie gemacht hätte! Ich mein, Mingo und ich haben uns ja am meisten von allen um Bianca gekümmert. Nur schade, dass ich …»
Er wich für einen flüchtigen Moment meinem Blick aus, und seine zuckenden Augenlider kündigten mir an, dass er mir noch eine Menge zu sagen hatte. Dass nämlich noch eine weitere große Veränderung bevorstand.
«Maya, kommst du mit raus zur Laterne?», fragte er, als wir hinterher zusammen Babymilch wärmten und sie in eine Thermosflasche abfüllten. «Ich muss unbedingt mit dir reden. Allein!»
Ich nickte. Ich wusste, dass da noch etwas war.
Wir packten Manuel in den Kinderwagen. Nicki deckte ihn sorgfältig zu, dann warf er mir einen verlegenen Blick zu.
«Hast du was dagegen, noch schnell fünf Minuten auf mich zu warten? Ich muss kurz auf den Balkon …»
«Mach nur», erwiderte ich. Ich hatte längst gerochen, dass sich unter seinen Duft wieder der Geruch von Zigarettenqualm gemischt hatte.
«Der Kleine muss mich ja nicht unbedingt mit der Kippe sehen», murmelte er und verdrückte sich.
Zehn Minuten später befanden wir uns mit dem Kinderwagen auf dem Weg in den Park. Ich hatte vorsorglich einen Schirm mitgenommen, weil es ein bisschen zu regnen begonnen hatte. Domenico brachte das Regenverdeck am Kinderwagen an, damit der Kleine im Trockenen lag.
«Du sorgst dich ja echt um ihn», stellte ich gerührt fest.
«Er gehört zum Wertvollsten, das ich habe», sagte er leise. «Und ich will alles tun, damit er ein gutes Leben haben wird. Alles!»
Als wir an unserem Platz bei der Laterne waren, setzten wir uns auf eine der Bänke, wo wir durch die hohen Baumwipfel ein wenig vor dem Regen geschützt waren. Ich hielt den Schirm fest – ein guter Vorwand, dass Domenico ganz nahe an mich heranrücken musste, damit wir beide darunter Platz fanden.
«Hey, wie geht es dir?», flüsterte er und streichelte zärtlich mein Haar.
«Wie geht es dir?», fragte ich zurück.
«Sag du zuerst!»
«Nein, du! Ich bin fast gestorben vor Sorge um dich.»
«Denkst du, ich nicht?» Er sah mich scharf an und fasste sich schließlich ein Herz. «Na gut. Irgendwann muss ich es dir ja sagen.»
Ich hielt die Luft an. Ich hatte es gewusst.
«Na ja … ist ja wohl kaum zu übersehen, dass ich im Knast wieder ziemlich abgestürzt bin, was?», fragte er düster. «Ich glaub, die Einzelheiten erspar ich dir lieber. Jedenfalls brauch ich zurzeit wieder einiges mehr als 'ne Schachtel Kippen pro Tag … ey, ich weiß, dass es beknackt ist, aber ich hab keinen Schimmer, was ich dagegen tun soll.»
Ich nickte nervös, aber ich wusste, dass das immer noch nicht das Schlimmste war.
«Hab jedenfalls im Knast ziemlich viel nachgedacht. Hatte ja genug Zeit. Und da … also, ich bin zum Schluss gekommen, dass ich noch nicht so weit bin. Für 'ne Beziehung, mein ich. Weil ich dich doch nur dauernd runterziehe!»
«Was?» Ich starrte ihn wie vom Donner gerührt an. «Heißt das, du willst dich von mir trennen?»
«Ey, das hab ich ja nicht gesagt. Ich hab nur gesagt, dass ich noch nicht so weit bin. Weil da einfach noch zu viel in mir drin ist, das mich fertigmacht. Das geht alles nicht so schnell. Dein Vater hat das eben schon richtig gecheckt. Ich muss erst mal meinen Kram ganz in Ordnung bringen.»
«Aber wir haben doch noch gar nicht richtig miteinander angefangen», flüsterte ich verzweifelt. «Wir sind ja noch gar nicht so weit gekommen, unsere Beziehung wirklich zu genießen.»
«Eben deswegen. Weil immer noch zu viel Mist an mir klebt. Und bevor ich dir noch mehr wehtue, muss ich erst mal mein Leben geregelt kriegen, glaub ich. Und dann erst kann ich an 'ne Beziehung denken. Ich hab's bis jetzt immer verkehrt rum gemacht. Ich hab immer gedacht, dass ich 'n Mädchen brauch, um klarzukommen. Aber das hat nie hingehauen. Ich hab's nur immer vergeigt. Und mit dir will ich's nicht auch noch ganz vermasseln. Das tut zu weh, weißt du?» Seine schmerzerfüllten Augen gaben mir in dem Moment einen kurzen Einblick in all die Enttäuschungen, die er in den vergangenen Jahren mit seinem pseudo-coolen Verhalten vertuscht hatte.
Ich vergaß zu atmen. Meine Tränen tropften auf seine Hand. Er wischte mir sanft mit den Daumen über die feuchten Wangen.
«Ey, Principessa … ich fang ja auch gleich an zu flennen. Als ich das im Knast so richtig kapiert hab … ich weiß nicht, wie viele Kippen ich da erst mal wegqualmen musste. Ey … alles, was ich möchte, ist, dass du glücklich wirst, verstehst du? Und ich weiß nicht, ob ich dir das geben kann. Deine Leute haben eben schon Recht mit dem, was sie über mich sagen.»
«Pfarrer Siebold sieht das anders …»
Er lächelte. «Ja, der Typ ist auch echt genial. Musste immer dran denken, was er alles zu mir gesagt hat und so. Aber du …» Er nahm vorsichtig mein Gesicht in seine Hände, die schon wieder leicht zitterten. «Du brauchst jemand, der dir Halt gibt. Sicherheit und so. Ich kann doch nicht so 'n kranker Egoist sein, der sich nur an dir hochziehen will. Ich muss doch auch an dich denken. Ich mein … guck mal, in London … ich hab 'ne Pille geschluckt. Verstehst du das? Was meinst du, warum ich so abgedreht war dort im Zavvi und überhaupt …»
«Eine E-Pille?»
Er seufzte. «Ja. Tut mir echt leid. Aber ich hätte das sonst nicht gepackt. Ey, kannst du dir vorstellen, wie mich das mit meinem Vater aufgewühlt hat? Und ich … ich wollte dir doch den Tag nicht schon wieder verderben mit meiner miesen Laune …»
Ich nickte langsam. «Verstehe …»
«Und siehst du, so lange das bei mir 'n Problem ist, so lange ich mein Verhalten nicht im Griff hab, kann ich nicht …» Er hielt mein Gesicht immer noch in seinen Händen. Ich sah in seinen Augen, dass wir immer noch nicht ganz auf den Punkt gekommen waren.
«Was willst du mir sagen, Nicki?» Ich brachte mein Herz in Bereitschaftsstellung, um das zu verkraften, was er mir nun mitteilen würde. Er ließ seine Hände wieder sinken und sah mich mit einem unerträglich langen Schweigen an.
«Sieh mal …» Er musste seine Stimmbänder freimachen. «Ich weiß bis jetzt noch nicht genau, was mit mir passieren wird. Ob es wieder zu 'nem Strafverfahren kommt. Weil ich gegen die Bewährungsauflagen verstoßen hab. Rein theoretisch könnten sie mich in den Knast stecken. Werden sie aber wahrscheinlich nicht tun. Mein Bewährungshelfer versucht jedenfalls alles, um mich davor zu bewahren. Er … er hat mir 'nen Vorschlag gemacht.»
«Was für einen Vorschlag?»
«Na ja, um ehrlich zu sein, hab ich sogar freiwillig gesagt, dass ich das will. In 'ne richtige Therapie gehen, mein ich. Nicht so wie im Heim, sondern richtig weg von hier. Wo ich auch nicht mit den Leuten aus der Szene Kontakt haben kann. Und wo ich echt mal Zeit und Ruhe habe, alles zu verarbeiten, ohne dir ständig wehzutun oder dich zu schockieren. Außerdem will ich dir ja auch nicht dauernd in den Schoß heulen.»
Ich schluckte. «Weg von hier?»
«Ich … ich könnte … 'nen Therapieplatz in Italien haben, wenn ich will. Herr Bahlke hat extra gesucht für mich. Am Meer. Bei Rimini. Das ist so ein Heim für schwererziehbare Jugendliche mit Therapieprogramm. Wo man auch viel Sport machen kann. Vielleicht … schaff ich es ja dieses Mal. Nicht so wie in dem Lager, wo ich mal wieder gleich übertrieben hab. Und dann frustriert war, weil ich Schmerzen hatte. Und vom Rauchen will ich auch unbedingt wieder runterkommen. Muss ich, ey, sonst nimmt das wirklich noch 'n böses Ende. Aber ich glaub, das pack ich echt nur mit knallharter Überwachung.»
Ich hatte ihm zugehört, ohne nur ein einziges Mal Luft zu holen. Jetzt schöpfte ich tief Atem. Dann saß ich wie versteinert da und wusste noch nicht, was ich mit dem Gehörten anstellen sollte.
«Italien …», murmelte ich tonlos.
Er berührte liebevoll meine Stirn mit seinen Lippen. «Hey, es ist doch nicht für immer. Nur für 'n halbes Jahr. Ende Mai bin ich wieder zurück. Und dann …» Er ließ seine Lippen zart über meine Wangen kreisen.
«Dann können wir uns immer noch neu entscheiden, wie es mit uns weitergehen soll. Das heißt, du kannst dich entscheiden. Ich … ich würde es auch voll akzeptieren, wenn du … wenn du lieber nicht mehr mit mir zusammen sein möchtest. Ich mein … ich würde es voll verstehen.» Beim letzten Satz bebte seine Brust, und ich ahnte, wie viel Überwindung ihn diese Aussage gekostet hatte.
Aber auch ich hatte etwas zu sagen.
«Es hängt nicht nur davon ab.»
Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Seine Finger nestelten aufgeregt in seiner Hosentasche. Nach einem Blick auf den schlafenden Manuel zog er eine Zigarette heraus und hielt sie fragend hoch.
«Darf ich?»
Ich nickte, und er zündete sie an. Ich nutzte die paar Sekunden, in denen er beschäftigt war, um meine Worte gut vorzubereiten. Ich legte mir eine direkte und eine indirekte Version zurecht.
«Ich … äh … also, es geht um das, wovor wir uns am meisten fürchten», fing ich mit der indirekten Variante an, als ich seine volle Aufmerksamkeit wieder hatte. «Weil … Wunden können nicht geheilt werden, wenn wir uns nicht dem stellen, wovor wir uns am meisten fürchten.»
Ich wusste nicht, ob er verstand, worauf ich hinauswollte, aber ich traute mich nicht, die direkte Variante auszusprechen. Doch er zog nachdenklich den Rauch ein, blickte zu Boden und nickte schließlich.
«Ich weiß schon, was du sagen willst.»
«Du … weißt?»
Er sah mir offen in die Augen. «Hey, ist mir doch selber klar geworden. Du willst sagen, dass ich meinen Vater suchen soll, hab ich Recht?»
Ich nickte verblüfft. Er schwieg und starrte auf die Glut seiner Kippe.
«Und – wirst du es tun?», fragte ich hoffnungsvoll.
Er holte tief Luft und wiegte etwas unschlüssig den Kopf hin und her. «Ich werde mal schauen, wie weit ich im Mai bin», sagte er vorsichtig. «Meine Mutter will mich auch sehen, aber ich hab ihr gleich gesagt, dass ich das jetzt nicht packe. Ich … ich hab große Panik vor der Sache mit meinem Vater. Aber … du hast schon Recht mit dem, was du sagst.»
Ich fühlte mich auf einmal sehr erleichtert, dass es nun ausgesprochen war. Doch als der Druck von mir wich, war es, als ob man ein Abflussrohr entstopft hatte. Der Kanal war wieder frei für das Wasser, und ich konnte es nicht zurückhalten. Ganze Schleusen öffneten sich in meinem Inneren, und ich legte mein nasses Gesicht auf Nickis Schulter. Der Schirm fiel mir dabei aus der Hand.
«Hey!» Er warf seine Kippe zu Boden und nahm mich tröstend in seine Arme. Und ich heulte einfach drauflos, weinte den ganzen Druck der letzten Wochen aus mir raus, und er drückte mich fest an sich und streichelte behutsam mein Haar.
«Ich weiß …», flüsterte er. «Das wollte ich dich ja auch schon die ganze Zeit fragen. Ich spür doch auch, dass etwas nicht stimmt. Was ist mit deinen Eltern los?»
Ich schluchzte verzweifelt.
«Du kannst mir immer alles sagen», flüsterte er zärtlich. «Was du möchtest. Ich werde immer für dich da sein. Egal, was aus uns wird. Das hab ich dir schon mal versprochen. Und ich verspreche es dir heute neu.»
«Ich wünschte, du würdest bei mir bleiben!», weinte ich.
«Ich weiß.» Er seufzte. «Aber ich kann nicht. Es tut mir so leid. Aber ich wäre dir keine Hilfe. Ich würde nur noch mehr Chaos anrichten …»
Ich blieb lange Zeit einfach in seinen Armen liegen und drückte mein Gesicht fest an seine Brust. So lange er noch bei mir war, musste ich jede Sekunde auskosten.
«Principessa, hör mal zu», sagte er sanft. «Sieh mich bitte an, ja?»
Ich hob den Kopf.
«Ey, wir versprechen uns jetzt was, okay?»
«Was denn?»
«Also, pass auf: Ich möchte dich freigeben. Du kannst dich frei entscheiden, einverstanden? Ich will einfach dein Leben nicht auch noch kaputt machen. Aber … wir versprechen uns, dass wir uns wenigstens bis nach meiner Therapie treu bleiben, also dass ich in der Zeit nix mit 'nem anderen Mädchen hab und du nix mit 'nem Jungen. Und dass wir, wenn ich zurück bin, nochmals darüber reden und … also, wenn du magst, dass du auch mitkommst, wenn ich meinen Vater suche.»
«Gern», sagte ich. «Und ich verspreche dir von ganzem Herzen, dass ich dir treu bleibe, bis du zurück bist.»
«Und ich verspreche es dir auch.» Er hob seine Hand, und wir verkeilten feierlich unsere Finger ineinander und zogen sie wieder auseinander.
«Ey, und pass auf deine Mutter auf …» Domenico sah mich ernst an. In seinen Augen blitzte etwas auf, als wäre ihm soeben ein Einfall gekommen. «Vielleicht … vielleicht sollten die auch mal zum Pfarrer Siebold gehen. Ich mein … falls die jetzt wirklich so 'ne richtig fette Krise haben …»
Ich nickte langsam. «Das wäre gar keine schlechte Idee, glaub ich … Ich muss mal mit Mama reden.»
Nicki nahm mich wieder in den Arm, und wir küssten uns lange. So lange, bis ein empörtes Krähen aus dem Kinderwagen uns aus unserer Versunkenheit riss.
«Da hat wohl jemand Hunger!», grinste Domenico. Er nahm den kleinen Manuel behutsam aus dem Kinderwagen, drückte ihn fest an sich und setzte ihm das Fläschchen an. Der Kleine nuckelte hungrig an dem Sauger.
«Er hat tatsächlich Mingos Augen, was?», sagte ich und berührte sachte die zarte Babyhaut.
«Ja, er sieht ihm wahnsinnig ähnlich.» Domenico strahlte.
«Das Näschen sieht auch sehr nach Mingo aus.»
«Na hoffentlich!», bemerkte er trocken. «Ich will ja nicht, dass er Carries Zinken abkriegt. Aber die Stirn und die Lippen hat er eindeutig von ihr.»
«Irgendwas muss er ja auch von der Mutter haben!»
«Logo … wär ja nicht gerecht.»
Domenico flüsterte dem Kleinen etwas zu und meinte hinterher: «Ich will unbedingt, dass er Italienisch lernt.»
«Carrie hat auch schon gesagt, dass sie ihm Spanisch beibringen will», sagte ich. «Ich hoffe, er lernt dann irgendwann auch noch Deutsch.»
«Das übernimmst du!», grinste er.
«Was wird denn aus ihm, wenn du weg bist?», fragte ich. «Dann kannst du ja gar nicht bei ihm sein.»
«Ich weiß. Ich werd ihn wahnsinnig vermissen. Aber lieber 'n halbes Jahr Therapie als acht Monate Knast. Und sowieso … wenn ich weiterhin regelmäßig durchknalle, kann ich dem Kleinen ja auch kein Vorbild sein. Gilt auch für Bianca. Ich nütze ihr mehr, wenn ich endlich mein Leben im Griff hab.»
Ich nickte nachdenklich.
«Immerhin bist du jetzt achtzehn», stellte ich fest.
«Ja, ich schon …», meinte er traurig. «Aber Mingo wird niemals achtzehn sein … es ist mein erster Geburtstag ohne meinen Zwillingsbruder, Maya.»
Der Anflug von Schmerz in seinem Gesicht tat mir wieder richtig weh, und schnell suchte ich eine Aufmunterung.
«Vielleicht hast du ja nach der Therapie endlich die Chance, eine eigene Wohnung zu kriegen», sagte ich, und tatsächlich entlockte ich ihm damit ein schwaches Lächeln.
«Ja … und den Führerschein, damit ich dich endlich auf dem Motorrad rumkutschieren kann.»
Ich seufzte, weil das alles noch in so ungewisser Ferne lag. Und weil wir vorher noch eine Menge, eine Riesenmenge, zu überstehen hatten.
«Montag fängt die Schule wieder an», sagte ich tonlos. «Das Gymnasium. Die neue Klasse.»
«Stimmt.» Er sah mich an. «Dann geht auch für dich ein neues Leben los.»
«Ich werde die anderen vermissen …» Ich war schon wieder kurz vorm Losheulen.
«Das glaub ich.» Er sah mich mitfühlend an. Dann stand er auf und bettete Manuel wieder in den Kinderwagen. «Ey, guck nur. Der Kleine will dich auch trösten.»
Ich erhob mich und schaute den kleinen Manuel an, der mich mit seinen mingo-ähnlichen Augen anstarrte, und fragte mich, was er wohl für eine Zukunft haben würde.
Und was für eine Zukunft würden Nicki und ich haben? Ich konnte diese Frage im Moment nicht beantworten. Ich konnte nur weiter beten und auf mein Herz hören. Und fest darauf vertrauen, dass Gott mir den Weg zeigen würde. So, wie Pfarrer Siebold es gesagt hatte.
Als ich mich später von Nicki verabschiedet hatte und allein in meinem Zimmer war, holte ich den Roman aus der Schublade, den ich früher mal begonnen hatte. Ich würde ihn nie zu Ende schreiben, das wusste ich. Ob aus mir je eine Schriftstellerin werden würde? Auch das konnte ich im Moment nicht beantworten. Aber was hatte meine Cousine noch gesagt? Ich sollte Nickis und meine Geschichte zu Papier bringen? Tja, warum auch nicht?…
Doch ich ahnte, dass das größte Kapitel in Domenicos Leben noch gar nicht geschrieben war.