Nachdem ich die ganze Nacht versucht hatte, Nickis Duft einzuatmen, den er auf meinem Kopfkissen hinterlassen hatte, prallte ich am Montagmorgen ziemlich groggy mit Manuela zusammen, die beim Schultor auf mich wartete.
«Maya! Da bist du ja!»
Ich zuckte zusammen, als hätte mich ein Blitz aufgeweckt. Manuela hatte ein merkwürdiges Lächeln aufgesetzt, fast so, als hätte sie sich frisch verliebt. Und gleich darauf fiel mir der krasse silberne Totenkopfgürtel auf, den sie trug.
«Was ist das denn? Seit wann trägst du so was?»
Sie lächelte geistesabwesend. «Na ja … jetzt, wo ich weiß, dass er mich auch toll fand …»
Da dämmerte es mir. «Aber Manu … er ist doch …» Ich wollte das letzte Wort nicht aussprechen. «Du hast ihn doch kaum gekannt. Und außerdem war er schwer drogenabhängig … er war total kaputt …»
«Weiß ich ja. Aber ich fühlte mich zu ihm hingezogen wie noch nie zu einem Menschen zuvor. Ich kann es nicht erklären.» Ihre glühenden Augen füllten sich mit Tränen. «Ich glaube, ich hätte ihm alles erzählen können. Er hätte mich verstanden!»
Ich schwieg und dachte nach. Ja, womöglich hatte sie damit sogar Recht … Außerdem wusste ich ja selber, wie verrückt man spielen konnte, wenn man unglücklich verliebt war. Allerdings war es doch reichlich trostlos, in einen Toten verliebt zu sein, fand ich.
«Maya, denkst du, dass Mingo auch noch ein bisschen mehr für mich empfunden hat?»
Warum stellte sie mir bloß so komplizierte Fragen? Noch schlimmer: Wie würde sie reagieren, wenn ich ihr erzählen würde, dass ein anderes Mädchen von Mingo schwanger war?
«Ich weiß es nicht, Manu. Das müsstest du schon Domenico fragen. Der kann dir das bestimmt sagen.»
«Ja? Meinst du im Ernst, ich darf ihn so was fragen?»
«Na ja, vielleicht nicht grad jetzt. Frühestens in fünf Jahren.»
«Hmm …» Manuela sah mich mit ihren goldbraunen Augen an. «Könnte ich … also, könnte ich vielleicht eine Kopie von Mingos Foto kriegen, das du auf Sizilien gemacht hast?»
«Meinetwegen schon, aber das Foto gehört nun Domenico.» Ich zuckte bedauernd mit den Schultern. «Ich will ihn lieber nicht danach fragen.»
Manuela versank ins Grübeln. «Weißt du, Mingo hat mich doch so intensiv angeschaut an dem Abend, als wir bei dir waren und du ihm von meinem Brief erzählt hast, nicht wahr? Und er hat mich zum Abschied Manu genannt. Woher wusste er denn überhaupt, dass das mein Spitzname ist?»
Ich dachte nach, während Manuela in ihren Gedanken offenbar jede Miene und jede Geste von Mingo sezierte. Aber wie konnte man schon die Regungen eines Drogenabhängigen nachvollziehen? Ich war mir nicht mal sicher, ob Mingo an jenem Abend überhaupt noch gecheckt hatte, wer Manuela war.
Zum Glück wurde ich aus der Verlegenheit befreit, ihr eine passende Antwort liefern zu müssen, weil Ronny und Delia auf den Plan traten. Die beiden waren gerade mal wieder tüchtig am Zoffen.
«Du hättest ja was sagen können!», kreischte Delia gerade.
«Ja ja, hey, reg dich ab, Schatz! Ich konnte doch nicht wissen, dass du …»
«Aber das hättest du dir doch denken können!» Delias Stimme überschlug sich in die höchsten Tonlagen.
«Es tut mir ja leid!», flehte Ronny verzweifelt. «Können wir uns jetzt wieder vertragen?»
«Pah!» Delia drehte sich schmollend weg und ließ Ronny wie einen begossenen Pudel stehen. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Die beiden waren schlimmer als ein altes Ehepaar.
«Worum geht es, Deli?», fragte ich harmlos.
«Frag ihn! Frag doch diese Dumpfbacke!», kreischte sie. Auch André kam herangepirscht.
«Dicke Luft hier?», brummte er. «He, Ronny Skywalker, alles paletti?»
«Weiber!», knurrte Ronny. «Ich check das nicht!»
«Weil du Stroh im Kopf hast!», schrie Delia. «Zu viel Sternenkriege und Galaxien in deinem erbsengroßen Hirn!»
«Was? Stimmt ja gar nicht!»
«Psst, Deli», beruhigte ich sie. «Komm wieder runter. Es ist sicher nicht so schlimm, oder?»
«Nicht schlimm?» Sie stieß verächtlich die Luft aus.
«Worum geht es denn überhaupt?», wollte André wissen.
Doch das wusste keiner von den beiden mehr. Ronny fuhr sich mit der Hand über die mit Gel durchzogenen Haare und prüfte, ob sein Look noch einigermaßen saß. Ich schnaubte, weil er dabei versuchte, Domenicos Bewegungen nachzuahmen. Als ob ihm das je gelingen würde!
«Ich seh furchtbar aus, was?», schniefte Delia. «Mein Lidschatten ist bestimmt ganz verschmiert.»
«Du siehst super aus!», versicherte ich, was auch stimmte. Delia konnte einfach nicht hässlich aussehen. Hoffentlich würde ich mich nie so mit Domenico streiten. Nie im Leben konnte ich mir vorstellen, ihn Dumpfbacke zu nennen!
«Und sonst? Alles klar mit euch?», wandte sich André an mich. «Was habt ihr eigentlich auf dem Friedhof gemacht? Geister gejagt?» Er lachte dröhnend. Ich wartete geduldig, bis er endlich über seinen eigenen Witz fertig gelacht hatte, dann sagte ich:
«Wenn du ein bisschen Grips hättest, könntest du dir denken, warum wir auf dem Friedhof waren.»
Früher hätte ich mich nie getraut, so mit André zu sprechen, aber mittlerweile hatte ich rausgefunden, dass es die einzige Sprache war, die er verstand. Aber alles in allem war er nun ganz erträglich geworden.
«Ja, Maya, was war da los?», mischte sich Delia ein. «Fand ich echt abartig, uns einfach sitzenzulassen. Deine Mutter hat's uns zwar erklärt, aber trotzdem … Ging es denn Nico so mies?»
«Schwierig. Er wollte einfach plötzlich zum Grab seines Bruders, und ich wusste, dass ich ihn nicht allein hätte gehen lassen dürfen. Er wäre wahrscheinlich durchgedreht. Es tut mir wirklich leid, Leute!»
«Schon gut», sagte Delia großzügig. «Ist ja auch voll hart für ihn.»
Auch Patrik gesellte sich zu uns und schwieg wie meistens, doch seine Augen leuchteten zufrieden. Seit er und Jenny ein Paar waren, hatte er sich echt verändert. Er stotterte sogar viel weniger. Jetzt, wo unsere Clique vollzählig war – ja, wir waren eine richtige Clique geworden! –, trabten wir hinüber zum Schulhaus.
Beim Chemietest stand ich wie erwartet wie der Ochs vorm Berg, aber Domenicos Nikotinproblem hatte mich nun mal mehr interessiert als alle Chemieformeln der Welt. Ich musste mir bloß überlegen, wie ich das Paps erklären sollte. Zudem konnte ich fast nicht mehr still sitzen vor lauter Vorfreude auf die Frühlingsferien. Ich malte mir schon in allen Farben aus, was Nicki und ich alles unternehmen könnten, und war riesig gespannt, was er sich Tolles ausdenken würde.
Schon jetzt hatte ich das Gefühl, dass das ganze Klassenzimmer voll mit sattem Blütenduft war. Die blöden Formeln wurden immer unwirklicher, und ich musste mich echt zusammenreißen, um den Test überhaupt fertig zu kriegen.
Nach Chemie standen Mathe und Englisch auf dem Plan, was einigermaßen gut über die Bühne ging, doch sowohl Herr Lenz wie auch Frau Lindner kündigten je noch einen weiteren Test an. Ich knurrte wütend in mich rein. Hatten die Lehrer vor, mir meine Ferien zu ruinieren?
Doch ich war nicht die Einzige, die genervt war. Nach der großen Pause schnappte sich Isabelle Manuelas Etui, das über und über mit Filzstiftherzen und Mingos Namen in zig Variationen verziert war.
«Mingo?» Sie lachte wie ein wieherndes Pferd. «Wer soll das denn sein? Heißt so etwa dein Meerschweinchen?»
Manuela, bei der nur noch ein Tropfen fehlte, um das Fass zum Überlaufen zu bringen, heulte los. «Du fiese Kuh!», brüllte sie. Und ehe wir uns versahen, stürmte sie einfach aus dem Klassenzimmer.
«W-was hat sie? Sie ist so k-komisch drauf in letzter Zeit.» Patrik blickte ihr besorgt nach.
«Sie ist depri!», seufzte Delia. «Sie wünscht sich halt schon lange einen Freund, und ihr Bruder macht sie ständig fertig.»
«Frederik?», fragte ich.
«Ja, er ist zurzeit ziemlich eklig zu ihr. Er liest in ihrem Tagebuch und macht sich über sie lustig und zeigt es sogar seinen Kumpels und so. Manchmal schlägt er sie auch. Er lässt im Moment seine ganze Macht an ihr aus.»
«Idiot», brummte André.
«Aber voll, ey!», pflichtete ihm Ronny bei. «So was macht man doch nicht!»
«Ihr zwei Vögel müsst ja gerade was sagen!», keifte Delia. Ich schüttelte den Kopf. Arme Manuela. Und dazu noch so unglücklich verliebt. Ich beschloss, was immer geschah, Carries Schwangerschaft mit keinem Wort zu erwähnen. Vielleicht würden sich Manuelas rosarote Träume bis in ein paar Wochen wieder gelegt haben, und dann war es immer noch früh genug, sie aufzuklären.
Isabelles spottlustige Augen waren nun bei mir gelandet. Seit Domenicos Lungenkollaps in der Turnstunde an seinem Besuchstag hatte sie aufgehört, mich mit zynischen Worten zu attackieren, und begnügte sich lediglich damit, mir böse Blicke zuzuwerfen. Ich fragte mich allerdings, was nach dem Schulabschluss auf mich zukommen würde. Sie hatte nämlich vor, eines Tages Psychologie zu studieren, und würde auf dem Gymnasium so gut wie sicher in derselben Klasse wie ich landen.
In der letzten Stunde hatten wir Frau Galiani. Normalerweise schätzte ich unsere Klassenlehrerin sehr, weil sie Domenico und mir viel geholfen hatte, aber die allgemeine schlechte Laune schien auch sie angesteckt zu haben. Sie ließ uns kaum Luft schnappen, rief uns unvermittelt auf und verteilte nach allen Seiten hin ihre gefürchteten spöttischen Hiebe.
Auch ich kam nicht heil davon. Und als sie uns obendrein noch zwei Monstertests unmittelbar nach den Ferien reindrückte, war es endgültig aus mit dem letzten Quäntchen guter Laune. Ich stöhnte eine Spur zu laut auf und erntete einen enttäuschten Blick von ihr. Aber das war doch wirklich oberfies! Glaubten die Lehrer eigentlich, die Ferien seien nur zum Lernen da? Ich war so aufgebracht, dass meine Augen mal wieder anfingen, Wasser zu produzieren.
Die beiden angenehmen Nachrichten sparte sich Frau Galiani allerdings wie immer bis zum Ende der Lektion auf. Es ging um die Abschlussreise nach London und um die Fete der Schulabgänger.
«So, wie es aussieht, findet die Abschlussreise in der letzten Schulwoche statt. Frau Lindner wird uns auf alle Fälle begleiten, und ich hoffe, dass auch Herr Biedermann zusagt.»
Ein Raunen ging durch die Klasse. Auf Herrn Biedermanns Begleitung hätten wir alle getrost verzichten können. Unser Hausmeister ließ keine Gelegenheit aus, die Schüler mit seinem widerlichen Mundgeruch anzuwettern. Aber im Moment konnte ich mich ganz und gar nicht auf die Reise freuen. Die vielen Prüfungen lagen mir wie Zementblöcke auf dem Magen.
«Für die Abschlussfeier liegen von der Klasse 10b und 10c schon einige Ideen vor, nur die Klasse 10a hat mal wieder noch nichts dazu beigetragen», sagte Frau Galiani spitz. «Meint ihr nicht, Herrschaften, dass es nun höchste Zeit wäre?»
Meine Hand schnellte blitzartig hoch, schneller, als ich es beabsichtigt hatte. «Wie sollen wir denn, wenn wir so viele Klassenarbeiten schreiben?»
Frau Galiani sah beinahe schockiert aus. «Meine liebe Maya, was soll das heißen? So eine Reaktion bin ich ja gar nicht gewohnt von dir.»
Natürlich, man erwartete ja immer von mir, dass ich als die Einsichtigste der Klasse die Vernunft in Person war und zu allem brav Ja und Amen sagte. Aber ich war verliebt! Kapierte das denn keiner?
«Nun, ich erlaube mir jedenfalls, euch daran zu erinnern, dass ich heute Nachmittag bei der Besprechung gerne ein paar Vorschläge von euch hören würde», setzte sie noch eins drauf und drehte sich zur Wandtafel um.
Als ich nach der Stunde aus dem Zimmer sausen wollte, hielt sie mich prompt zurück.
«Einen Augenblick, Maya!»
«Was denn?»
«Was war das vorhin für eine Bemerkung?»
«Nichts.» Ich senkte den Kopf; im Grunde hatte ich ja großen Respekt vor Frau Galiani. «Ich finde es bloß übertrieben, dass wir so viele Arbeiten schreiben. Das kann doch niemand bewältigen», sagte ich. «Außerdem … sind doch Ferien!»
«Ja, ich weiß», seufzte sie. «Es tut mir ja leid. Aber weißt du, es ist auch nicht immer einfach, wenn wir als Lehrer ständig nur Stöhnen und Murren von euch ernten. Wir geben uns nämlich große Mühe. Mir ist bewusst, dass es viel ist im Moment, aber wir haben keine andere Wahl. Wir müssen das Klassenziel erreichen, vor allem wegen der Schulabgänger, und dieses Jahr sind wir halt irgendwie viel langsamer vorangekommen als sonst.» Ihre dünnen Lippen verzogen sich zu einem ihrer seltenen Lächeln, das außer mir wohl kaum jemand aus der Klasse zu sehen bekam. «Daran ist die Geschichte mit Domenico auch nicht ganz unschuldig. Sie hat mich viel Zeit gekostet.»
«Echt?»
«So ist es. Aber wie geht es ihm eigentlich? Ich bin wirklich froh für ihn, dass ihn das Gericht auf Bewährung freigesprochen hat.»
«Es geht ihm recht gut. Er hört jetzt sogar mit dem Rauchen auf!»
«Wunderbar», sagte sie. «Hoffentlich schafft er das endlich. Ich habe mir übrigens betreffend seines Schulabschlusses einige Gedanken gemacht. Ich denke, am meisten Sinn würde es machen, wenn er den Abschluss auf einer Abendschule nachholt. Dann hätte er das Problem mit dem dauernden Verschlafen auch nicht. Übrigens, ich habe mich nach dem Gerichtstermin noch sehr lange mit seiner Mutter unterhalten.»
«Und?», fragte ich gespannt. Bisher war Maria di Loreno, Domenicos Mutter, eher ein nebensächliches Thema gewesen, jemand, der in seinem Leben eine schreckliche Rolle gespielt hatte. Domenico war immer froh gewesen, wenn er so wenig wie möglich mit ihr zu tun hatte.
«Ich bin sehr erfreut. Es geht ihr nun wirklich viel besser, sie hat ihr Alkoholproblem einigermaßen im Griff. Sie geht auch nicht mehr auf den Strich, was sie ja lange Zeit gemacht hat, wenn sie in Geldnot war. Sie hat mir auch anvertraut, dass sie ihre kleine Tochter Bianca sehr gerne wieder bei sich hätte. Wobei ich es natürlich viel, viel besser fände, wenn Bianca zu deinen Eltern in Pflege käme.» Frau Galiani schenkte mir schon das zweite Lächeln des Tages.
Ich runzelte skeptisch die Stirn. «Nicki würde niemals zulassen, dass Bianca wieder zur Mutter kommt.»
«Ich weiß. Aber Maria würde sich sehr gern mit ihrem Sohn aussprechen. Das hat sie mir mitgeteilt. Mingos Tod ging ihr wahnsinnig nahe. Sie hat sich nicht mal getraut, zu seiner Beerdigung zu kommen, aus Angst vor Domenicos Reaktion. Sie weiß, wie sehr Domenico leidet, und sie möchte sich bei ihm entschuldigen für alles, was sie ihm und Mingo angetan hat. Sie hat auch mehrmals diesen Sportler erwähnt, von dem sie glaubt, dass er sein Vater ist. Da muss noch irgendeine Geschichte im Raum herumschweben. Ich weiß es auch nicht. Hat Domenico dir mittlerweile je etwas darüber gesagt?»
«Über seinen Vater? Nein. Er weigert sich, über ihn zu reden. Ich habe in seiner alten Wohnung nur eine Menge Zeitungsausschnitte über diesen Sportler gefunden. Er heißt Morten Janssen, lebt in Norwegen und war mehrfacher Weltmeister im Zehnkampf. Aber ich weiß nicht, was ich davon halten soll.» Ich hatte mir über diese Sache schon mehr als genug den Kopf zerbrochen.
«Tja, es wäre wirklich interessant, das mal rauszufinden. Bei Maria weiß man halt nie, ob ihre Geschichten der Wahrheit entsprechen oder ob sie sich nur etwas zusammenfantasiert. Sie redet oft ziemlich wirres Zeug. Was denkt denn Domenico darüber? Glaubt er, dass dieser Sportler sein Vater ist?»
«Keine Ahnung. Ich hab nicht mal das aus ihm rausgekriegt.» Bei dieser Frage hatte ich besonders hartnäckig gebohrt, aber Domenico hatte mir da ebenso vehement Widerstand geleistet.
«Hmm …» Frau Galiani zog die Stirn in Falten und stapelte ein paar Blätter. «Schwierig …»
«Frau Galiani, wissen Sie übrigens, dass Mingo ein Kind bekommt?», platzte ich unwillkürlich raus und korrigierte mich sogleich: «Ähm, ich meine natürlich seine Freundin.»
«Ach du meine Güte!», erwiderte sie trocken. «Na, wenigstens gehen uns die Probleme nicht aus.»
Als ich fünfzehn Minuten nach dem offiziellen Schulschluss endlich in den Hof spurtete, sah ich Leon an mir vorbeiradeln. Er hatte seinen Kopf stur geradeaus gestreckt und verschwendete weder einen Blick nach rechts noch nach links. Meine Füße stoppten, als würden sie gegen eine unsichtbare Mauer stoßen. Mit so einer bitteren Miene hatte ich Leon noch nie gesehen, ihn, der sonst immer den Eindruck einer Frohnatur machte.
Der vage Verdacht, dass dies mit Domenico und mir zusammenhing, legte mein Herz in eiserne Ketten. Im Grunde genommen hatte ich ihm nie eine saubere Abfuhr erteilt. Ich war nicht eine, die Dinge auf die leichte Schulter nahm, und dass ich außer Domenico überhaupt je einen anderen Freund gehabt hatte, war eher Zufall gewesen, denn es gab nicht viele Jungs, die auf mich standen. Jedenfalls wusste ich nichts davon. Aber Leon erwartete offensichtlich auch keine Erklärung mehr. Trotzdem. Ich senkte beschämt meinen Kopf, als ich nach Hause ging, und fragte Gott in Gedanken, ob ich das alles je wiedergutmachen konnte.
Der absolute Hammer des Tages folgte jedoch am Abend.
«Nicki hat vorhin angerufen», teilte mir Mama mit, als ich nach der Klassenbesprechung am Nachmittag nach Hause kam. «Er hat mich wegen eines Arzttermins für Carrie gefragt. Und du sollst ihn zurückrufen. Er möchte dir etwas sagen. Außerdem hat er gefragt, ob du am Donnerstag Zeit hättest. Ich glaube, er möchte mit dir ausgehen oder so.»
«Echt?» Endlich mal eine wirklich gute Nachricht! «Ich darf doch, oder?»
«Von mir aus schon. Aber ich denke, wir sollten Paps auch fragen. Aber eines noch …» Mama setzte sich auf die Küchenbank und sah mich mit ihrem typisch mütterlichen Blick an, dem meistens ein guter Ratschlag folgte.
«Ich halte dich ja für alt und vernünftig genug, um zu wissen, wo deine Grenzen sind. Was Nicki betrifft, weiß ich nicht so genau, wie er die Sache sieht, er, der ja leider in der Vergangenheit nicht gerade sehr zurückhaltend war in Sachen Mädchen. Versprich mir einfach, dass du ihm klare Grenzen setzt, wenn sein italienisches Temperament mit ihm durchbrennen sollte, ja?» Sie schmunzelte ein wenig dabei. Wenigstens konnte man mit Mama unkompliziert über solche Themen reden, ohne dass es allzu peinlich wurde.
Ich düste zum Telefon und wählte die Nummer vom Wohnheim. Schon nach dem ersten Klingeln ging Domenico ran, als hätte er neben dem Telefon gewartet.
«Ciao, Principessa, endlich! Bin fast draufgegangen. Ich dachte, die lassen dich nie mehr aus der Schule!»
«Wir hatten Schulbesprechung wegen der Abschlussfeier.»
«Ach so. Und wie war die Penne?»
«Ich würde jetzt am liebsten einen unanständigen Ausdruck verwenden», seufzte ich. «Es war Horror. Lauter Prüfungen sind angesagt. Das heißt, ich darf während der Ferien büffeln.»
«Fällt eh ins Wasser», sagte er düster.
«Was?»
«Unsere Ferien. Ich war beim Bewährungshelfer. Ich darf am Samstag früh abreisen. In so ein Lager. Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt. Zwölf Tage. Ich dachte, ich spinne, ey!»
«Du musst bitte was?»
«Hab ich doch grad gesagt.»
«Das heißt, du musst in den Ferien weg?»
«Maya, glaub mir, ich hab alles versucht, aber der Typ ist stur. Ich hab dem sogar meine Schlafprobleme und Alpträume verklickert und dass ich das nur mit 'ner heftigen Dosis Pillen hinkriege, aber davon wollte der nix wissen. Der meint, das sei genau das Richtige für mich. Ich dachte, ich krieg mich nicht mehr ein, ey!»
«Oh Nicki …» Diese Enttäuschung schmeckte so bitter, dass mir sämtliche Worte im Hals stecken blieben.
«Kann leider nix machen. Bin ja froh, dass ich nicht in den Knast muss. Muss mich jetzt einfach zusammenreißen und das Ding durchziehen.»
Für eine Weile schwiegen wir beide. Ich hörte seine schweren Atemstöße. Offensichtlich hatte er das Ganze auch noch nicht verdaut.
«Hey!», sagte er schließlich heiser. «Hat deine Mutter was gesagt wegen Donnerstag?»
«Ja.»
«Und?»
«Ich darf!»
«Ehrlich?» Die Freude in seiner Stimme heiterte mich beinahe auf. Doch bevor ich etwas antworten konnte, schwenkte seine Stimmlage bereits wieder auf «Gefahr» um.
«Ich muss sofort auflegen! Ärger im Anmarsch! Ciao, duci mia, ti amo! Wir sehen uns am Donnerstag.»
Und schon war die Verbindung unterbrochen.
«Donnerstag», murmelte ich vor mich hin, als ich in mein Zimmer sprintete. Erst am Donnerstag? Und was hatte er mit «Ärger im Anmarsch» gemeint? Ich schüttelte ziemlich konfus den Kopf. Aber offensichtlich musste ich mich an solche Dinge gewöhnen. Aus Nicki würde ich wohl nie ganz schlau werden.
Am Abend lag ich lange Zeit wach und betete still zu Gott. Irgendwie schwante mir, dass sich bereits ein Sturm anbahnte. In Nickis Leben hatte es kaum je eine Zeitspanne der Ruhe gegeben. Und ich ahnte, dass die Verwüstungen in seinem Inneren noch längst nicht alle aufgeräumt waren. Im Gegenteil. Wir standen erst am Anfang. Und ich hatte den vagen Anflug einer Vermutung, dass da noch ein paar ziemlich heftige Herausforderungen auf mich warten würden.