Ich stand seit einer geschlagenen Stunde vor dem Spiegel und versuchte verzweifelt, ein paar hübsche Wellen in meine Haare zu kneten, doch sie gebärdeten sich wie steife Bretter. Ich kriegte einfach nichts Gescheites hin. Als es an der Haustür klingelte, knallte ich resigniert die Bürste in die Badewanne und stürmte zur Tür.
Nicki stand draußen, lächelnd an den Türrahmen gelehnt und die Hände lässig in seine Hosentaschen gesteckt. Er hatte sich in seine trendigsten Klamotten geschmissen: Schwarze Sportjacke mit Kapuze, ein hellgraues T-Shirt mit dem Aufdruck «Freestyle» und seine Jeans, die er selber mit Löchern und schwarzem Filzstift präpariert hatte, nicht ganz so arg wie seine alten, aber doch krass genug, um seinen eigenen Style zu markieren. Sogar seine Turnschuhe hatte er bekritzelt.
Neu war allerdings, dass er die Lederkette mit dem Tigerzahn wieder um den Hals trug. Sein kupferbraunes Haar hatte er mit ein wenig Gel in die richtige Form gebracht, so dass ihm die Strähnen gekonnt ins Gesicht fielen.
Sofort sank mein Selbstbewusstsein in den Keller. Es konnte doch einfach nicht sein, dass ein so cooler Typ wie Domenico, dem die Mädels massenweise hinterherstarrten, sich mit einem so durchschnittlichen Mädchen wie mir abgab. Und trotzdem war es so. Aber ich würde es wohl nie begreifen.
«Hi Principessa!» Er schenkte mir mein heißgeliebtes Grübchenlächeln. Ich musste mein Gesicht abwenden, weil ich seinen intensiven Blick kaum aushielt.
«Ähm … meine Frisur ist noch nicht fertig», stammelte ich nervös und erinnerte mich wieder an den Krieg mit der Haarbürste.
«Wieso, ist doch wunderschön!» Er streckte seine Hand aus, um mein Haar zu berühren. «Und die Bluse auch.»
Ich trug die helle Seidenbluse, die Mama mir zum Geburtstag geschenkt hatte.
«Ich weiß nicht …»
«Soll ich dich stylen?», fragte er. «Ich mach so was echt gern!»
«Wenn du willst …», stotterte ich und starrte ihn an.
«Kann ich jetzt reinkommen? Oder stirbst du vorher vor Verlegenheit?», neckte er mich lächelnd.
«Äh …» Wieso durchschaute er mich bloß ständig?
«Guck mal, ich hab was für dich!», meinte er, als wir gleich darauf in der Küche standen. Von irgendwoher zauberte er eine Tüte hervor, die ich vorher nicht gesehen hatte, und brachte daraus eine Papierrolle zum Vorschein. «Ich hab es heute Nacht fertig gemalt.»
«Heute Nacht?»
«Na ja …» Er drehte sein Gesicht von mir weg und rollte das Bild behutsam auseinander. Gleich darauf musste ich mich setzen, weil mir die Spucke wegblieb.
Das Bild hatte sich seit letztem Mal noch um ein Vielfaches verschönert. Die feinsten Farbabstufungen ließen die Mühe erkennen, die er sich damit gemacht hatte. Er hatte schon eine Menge umwerfender Bilder gemalt, aber bei dem hier hatte er wirklich alles gegeben. Die Arme des Jungen waren so fest um das Mädchen geschlungen, als wolle er es mit seinem ganzen Leben davor schützen, in einen Abgrund zu stürzen. Die Träne, die dem Mädchen über die Wange rollte, sah aus wie eine glitzernde Perle.
«Magst du es?», fragte Nicki leise.
«Es ist … fantastisch!» Mir fehlten echt die Worte. Gab es eine Steigerungsform von fantastisch? Es war so abartig schön, dass es schon fast nicht mehr wahr war. Und die Tatsache, dass es mit Nicki unterschrieben war statt wie sonst mit Domenico, war der letzte Beweis dafür, dass es mehr als nur ein Bild war. Es war ein Blick mitten in sein Herz.
«Du bist … du bist echt ein Genie», hauchte ich. «Dass du das alles aus dem Kopf malen kannst!»
«Na ja …» Jetzt war er verlegen.
«Du solltest echt Künstler werden. Ich glaube, du könntest es sehr weit bringen.»
«Meinst du? Hmm … Mingo sagt das auch immer …»
Bei dem Wort Mingo zuckte ich zusammen. Er redete von seinem Zwillingsbruder, als wäre er noch da. Ob er in seinem Gehirn manchmal einfach ausschaltete, dass Mingo tot war?
Eins war jedoch klar: Ich würde noch Stunden damit zubringen, das Bild anzusehen.
«Komm, Principessa, gehen wir zum Stylen. Wo ist eigentlich deine Mutter?»
«In der Praxis. In der letzten Zeit ist es echt stressig dort. Mein Vater hat ziemlich viel Arbeit.»
«Dein Vater sollte sich mehr um deine Mutter kümmern», meinte Domenico leise.
Ich schoss herum. «Was meinst du damit?»
«Sie ist zu oft allein.»
«Das war schon immer so. Paps hatte immer viel zu tun in der Praxis. Mama hat sich nie beklagt …»
«Sie leidet.»
Ich starrte ihn entgeistert an. «Hat sie was zu dir gesagt?»
«Nein. Aber ich seh's!»
Ich schüttelte den Kopf. Manchmal versetzte er mich echt in Erstaunen.
Wir gingen zusammen in mein Badezimmer hoch. Ich musste erst meine Haarbürste suchen, bis mir einfiel, dass ich sie vor Wut in die Badewanne geschmissen hatte. Domenico grinste von einem Ohr zum anderen, als er daraus offensichtlich die richtigen Schlüsse zog. Mein Gesicht überzog sich mit einer schamvollen Röte.
Auf seinen Lippen lag ein geheimnisvolles Lächeln, als er hinter mich trat und mir sanft die Bürste aus der Hand nahm. Er begann erst mal sachte, meine zugepappten Haarsträhnen zu entwirren. Das nahm ziemlich viel Zeit in Anspruch, da ich wirklich ganze Arbeit geleistet hatte.
«Süße, was machst du nur für Sachen», tadelte er zärtlich. «Du hast ja eine halbe Tonne Gel reingeknetet.»
Ich zwang mich, ruhig zu atmen. Jede Berührung seiner Fingerspitzen sandte ein Prickeln von meinem Nacken bis in die Zehen runter. Als mein Haar von der klebrigen Masse befreit war, nahm er die Haarklammer, die ich bereitgelegt hatte, trennte mit Hilfe der Bürste die oberste Schicht von dem Rest und steckte sie hoch. Zuletzt zupfte er ein paar Haarsträhnen aus der Frisur, zwirbelte sie mit ein bisschen Gel um seine Finger und ließ sie in mein Gesicht fallen.
«Fertig!»
Ich starrte mein Spiegelbild an, als hätte ich es noch nie zuvor gesehen.
«Mann, Nicki … das sieht so toll aus!», stammelte ich. «Ich hab das noch nie so hingekriegt. Wie machst du das bloß?»
Er lächelte. «Tja …»
«Und du siehst auch selber immer so cool aus!» Das musste einfach mal raus.
«Quatsch, ich seh doch überhaupt nicht cool aus.»
«Wie bitte?», fragte ich schockiert.
«Guck mich doch an, ey!»
Ich schaute unsere Gesichter im Spiegel an und verstand schließlich, was er meinte. Als ich uns nebeneinander sah – mein kindliches, rundes und immer noch so unschuldiges Gesicht, und daneben seines mit all den Spuren und kleinen Narben, die seine wilde Vergangenheit an ihm hinterlassen hatte –, wurde mir wirklich bewusst, wie meilenweit unsere Welten noch immer voneinander entfernt waren. Ob das wirklich funktionieren würde?
«Ich mein, guck dir meine Zähne an!» Er verzog angewidert sein Gesicht und wandte sich vom Spiegel ab. «Ich schau mich manchmal schon gar nicht mehr an.»
«Willst du behaupten, du stylst dich am Morgen, ohne in den Spiegel zu sehen?»
«Korrekt. Lass uns aufbrechen, Maya, ja? Hol deine Jacke. Ist ziemlich kühl draußen.»
Ich ging in mein Zimmer und entschied mich für einen leichten Pullover und die Jeansjacke. Auf die Winterjacke hatte ich nun echt keinen Bock mehr. Immerhin hatten wir Frühling, und die Wolken hatten sich so weit gelichtet, dass die Chancen auf einen romantischen Sonnenuntergang ziemlich gut standen.
Ich schrieb meinen Eltern eine kurze Notiz und legte sie auf den Küchentisch. Sie hatten mich ermahnt, spätestens um elf wieder zuhause zu sein, weil ich am nächsten Tag ja Schule hatte.
Domenico schlang seinen Arm um meine Taille, als wir durch die Straßen Richtung U-Bahn-Station schlenderten, die etwa zwanzig Minuten von uns entfernt war. Seine andere Hand fummelte nervös an seiner Jacke rum.
«Suchst du was?» Ich sah ihn prüfend von der Seite an.
Er schob die zappelige Hand schließlich in seine Hosentasche. Sein Haar fiel ihm dabei über die Augen. Er blieb mir die Antwort schuldig, aber ich ahnte es auch so.
«Was war eigentlich am Montag los?», fragte ich. «Als du so schnell aufgelegt hast?» Ich hatte die letzten beiden Tage weder etwas von ihm gesehen noch gehört.
«Ach, das!» Er winkte ab. «Zoff mit Monika halt.»
«Worum ging es denn?»
«Ach, vergiss es.»
«Bitte! Ich will es wissen!»
«Telefonverbot. Weil ich halt schon wieder verpennt hab. Ey, ich hab's echt nicht absichtlich gemacht!»
«Nicki …»
«Maya, bitte!» Er sah mich flehend an. «Lass uns den Abend genießen. Ich brauch das jetzt, und du auch!»
«Ich habe die letzten beiden Tage nichts von dir gehört, und du willst mir nicht mal sagen, was …»
«Mann, Maya. Müssen wir jetzt Probleme wälzen? Guck mal!» Er zog ein Handy aus seiner Hosentasche und hielt es mir unter die Nase. «Ist doch alles geregelt jetzt.»
«Du hast ein Handy?»
«Klaro.»
«Woher denn?»
«Suleika. Sie hat es mir gegeben. Sie hat sich ein neues gekauft.» Das kam ein wenig zögernd.
«Suleika? Das heißt, du hast dich mit ihr getroffen?» Ich merkte, dass mir das ganz und gar nicht gefiel. Er ahnte offenbar, dass sich meine Stimmung im Nu ziemlich am Rande des Abgrunds befand.
«Mensch, ich musste Carrie doch zum Frauenarzt begleiten! Wegen dem Baby. Außerdem brauchte sie ja auch was zum Pennen. Suleika kennt eben 'ne Menge Leute. Darum.»
«Davon hast du mir noch gar nichts erzählt!»
Er seufzte. «Ja, ich weiß. Sorry. Mir ging's in den letzten beiden Tagen ziemlich mies. Bin in der U-Bahn voll zusammengeklappt. Kreislaufschwäche. Monika glaubt mir das natürlich nicht. Die meint, ich mach einen auf krank, um mich zu drücken. Bin immer froh, wenn Lukas da ist. Der nimmt mich wenigstens ernst. Er sagt, ich soll das mit dem Nikotinentzug vielleicht doch lieber unter ärztlicher Aufsicht machen.»
«Das wäre wahrscheinlich ganz vernünftig.» Ich hoffte, dass er meiner Stimme den bitteren Klang nicht anhörte. Aber ihm konnte man einfach nichts vormachen.
«Was ist los, Süße?» Seine Augen fesselten mich regelrecht.
«Nichts, nur …»
«Hey!» Er berührte behutsam mit seinem Handrücken meine Wange. «Ich geh doch nicht fremd.»
«Aber für Suleika und Carrie hattest du Zeit, und für mich nicht.»
«Ich hab dir doch gesagt, dass es mir ziemlich dreckig ging. Außerdem musste ich Carrie zum Arzt begleiten.»
«Ich hätte doch mitkommen können.»
«Wie denn, wenn du in der Penne hockst?»
«Schon …»
Da schlang er einfach seine Arme um mich und zog mich an sich heran. Ich vergrub den Kopf an seiner Schulter und sog seinen Duft ein, der immer noch so herb roch wie damals auf Sizilien, nach Meerwasser und Sonne. Wahrscheinlich hatte sich das so tief in seine Poren eingegraben, oder ich bildete es mir einfach ein. Nur der Zigarettengeruch fehlte.
«Principessa, hey. Ich liebe dich. Ich mein das ernst!»
Ich hob meinen Kopf wieder und begegnete seinen samtweichen Lippen, die zärtlich über meine Wangen streiften. Langsam löste sich der Klumpen in meinem Bauch wieder in nichts auf.
«Alles wieder okay?»
Ich nickte und verwünschte mich heimlich für mein kindisches Verhalten. Nur weil er in der Vergangenheit keine längerfristige Beziehung auf die Reihe gekriegt hatte, bedeutete das ja noch lange nicht, dass sich das auch bei mir wiederholen würde. Und schließlich hatte er mir doch auch dieses Versprechen bei der Laterne gegeben. Und die Laterne war nicht einfach nur ein romantisches Plätzchen für heiße Liebesschwüre. Sie bedeutete uns weitaus mehr.
Bis zur U-Bahn schwiegen wir, und das war gut so. Denn aus irgendeinem Grund war ich furchtbar nervös. Ich ging zum allerersten Mal so richtig mit Domenico aus! Und zudem war mir die Stadt einfach fremd, obwohl ich meine ganzen bisherigen sechzehn Jahre hier verbracht hatte. Doch sie hatte nie einen großen Teil meines Lebens eingenommen. Außer Einkaufen mit Mama, hin und wieder einem Ausflug zum Volksfest oder zum Weihnachtsmarkt oder Eis essen mit meinen Freunden hatte ich dort nicht viel verloren. Ich hielt mich viel lieber im Park auf. Die Stadt war mir einfach zu hektisch.
Vermutlich lebte ich manchmal schon ein bisschen hinter dem Mond. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich schon immer ein wenig anders getickt hatte als die meisten anderen Leute in meinem Alter. Domenico kannte im Gegensatz zu mir die Stadt natürlich wie seine Westentasche. Die Straße war sein Zuhause gewesen.
Die U-Bahn war voll wie jedes Mal, wenn ich sie benutzte. Domenico packte mich fest am Arm und schleuste mich an ein paar aufgedrehten Jungs vorbei, die sich aus Jux an den Haltegriffen hochhangelten und allen Vorbeigehenden dumme Sprüche an den Kopf warfen. Er erwischte noch einen freien Sitzplatz und zog mich auf seinen Schoß. Ich wurde das seltsame Gefühl nicht los, dass Nicki mindestens die Hälfte aller jungen Leute in der U-Bahn kannte.
Als wir ausstiegen, überließ ich ihm einfach die Führung, und er schien ganz genau zu wissen, wo er mit mir hinwollte. Es war eine schmale Gasse, in die er einbog, und sie führte direkt hinauf zum großen Dom, dorthin, wo man sich auf die Mauer setzen und eine großartige Sicht über die Stadt und den Fluss hatte. Wo sich alle Verliebten trafen. Nicht umsonst sprach man deswegen vom «Platz der Verliebten».
Natürlich war ich noch nicht oft dort gewesen – mit wem auch? Leon war nie mit mir dahin gegangen, und sich als Einzelperson unter die Turteltäubchen zu wagen, war etwas für diejenigen, die sich selbst voll bewusst in Depressionen stürzen wollten. Aber vom Mauerblümchen zur Auserwählten des coolsten Jungen der Stadt – das war wirklich eine steile Karriere!
Domenico suchte ein freies Plätzchen auf der Mauer und schwang sich rittlings darauf. Ich blieb unschlüssig stehen. Für solche Aktionen war ich nicht geschaffen. Auf der anderen Seite der Mauer ging es nämlich schwindelerregend tief runter bis zum Fluss.
Domenico sah mich mit leicht geneigtem Kopf an. «Wenn du möchtest, kannst du dich an mich lehnen.»
«Da drauf sitzen? Ich weiß nicht …»
«Ich halte dich doch! Vertrau mir.» Domenico bot mir seine Hand. Sein Blick war mehr als nur eine Einladung; er war ein inniger Wunsch. Und in Sekundenschnelle schmolz die Angst. Ich ergriff seine Hand und kletterte zu ihm auf die Mauer. Ich setzte mich so zurecht, dass er seine Arme von hinten um mich legen und mich an seine Brust drücken konnte.
«Ist das okay so?», fragte er sanft. «Sonst musst du es sagen.»
Ich schloss bebend die Augen. Er strich mir zärtlich die Haare beiseite und küsste vorsichtig meinen Nacken. Sofort jagten tausend Watt Elektrizität durch meinen Körper. Es war nur ein einziger, winziger Kuss gewesen, doch er stellte jedes einzelne meiner Körperhaare auf.
«Magst du das?», hauchte Nicki in mein Ohr. Ob ich das mochte? Ich wäre beinahe die Mauer runtergesegelt, wenn er mich nicht so festgehalten hätte.
«Du musst echt sagen, wenn du etwas nicht willst, Maya», sagte er ernst und leise. «Dann hör ich sofort auf. Ich werde niemals etwas tun, was du nicht willst.»
Aber ich konnte ja selber nicht mal sagen, was ich wollte. Vielleicht wollte ich überhaupt nicht, dass er mich noch mehr küsste. Weil ich nämlich Angst hatte, mich irgendwann daran zu gewöhnen. Vielleicht war ein einziger Kuss, an den ich mich ewig erinnern würde, besser als tausend Küsse, die ich irgendwann nicht mehr fühlen würde.
Nicki merkte offensichtlich, dass es mich enorme Kraft kostete, meine Gefühle wieder unter Kontrolle zu kriegen, denn er hörte sofort auf, mit meinem Haar zu spielen, und hielt mich einfach nur noch fest.
«Warum hörst du auf?», fragte ich.
«Weil ich spüre, wie erregt du bist», sagte er schlicht. «Ich brauch dich ja nur ein klein wenig anzufassen, und schon kippst du fast um. Ey, das ist echt krass.»
«Tu nicht so cool!», erwiderte ich beleidigt.
«Hey!» Er drückte mich fester an sich und verwuschelte mit seiner Nase neckisch mein Haar. «Tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich finde es doch nur schön!»
Ich musste dringend etwas unternehmen, um mich abzulenken, also richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Jungs, die etwas weiter drüben ziemlich wagemutig auf der Mauer rumbalancierten.
«Ganz schön gefährlich, was die machen», bemerkte ich. «Wenn da einer runterfällt …»
«Haben wir früher auch gemacht», murmelte er in mein Haar. «Wenn wir besoffen waren, Mingo und ich. Dann haben wir voll den Stunt abgezogen. Die Bullen mussten uns auch schon mal in die Ausnüchterungszelle bringen. Mann, waren wir manchmal fertig …»
Es hatte echt viel zu bedeuten, wenn Nicki mir so was erzählte. Vielleicht war der Moment jetzt günstig, um ihn ein paar Sachen zu fragen, die ich schon so lange wissen wollte? …
«Sag mal, möchtest du mir mal genauer erzählen, warum du damals in die JAA gekommen bist?», fragte ich sehr vorsichtig. «Du weißt schon … damals, bevor du in unsere Klasse kamst.»
Er antwortete nicht sofort. Ich konnte fühlen, wie sein Herz einen schnelleren Rhythmus anschlug.
«Ich hab zwei Typen krankenhausreif geprügelt …» Sein Atem kitzelte mich im Nacken, und wieder überlief mich ein angenehmer Schauer.
«Dann sind die Bullen in unsere Schule gekommen und haben mich mitgenommen … that's it!»
«Und warum hast du das gemacht?» Mein Herz schlug nun ebenfalls ziemlich rasant. Man wusste nie, wann Domenicos Laune wieder kippte. Nur eine einzige Frage zu viel konnte schon den ganzen Abend verderben.
«Ich hatte den Zeichenwettbewerb gewonnen … Aber ich wollte nicht, dass sie mich fotografierten, weil ich das nämlich hasse. Und dann haben sie das trotzdem gemacht, heimlich, und als ich das gemerkt hab, bin ich ausgerastet … Und dann musste ich vor den Richter und 'n halbes Jahr in die Anstalt.»
Er hob seinen Kopf wieder und richtete sich ein wenig auf. Ich hoffte, dass er mich nicht doch noch loslassen würde.
«Aber da war doch auch was mit einem Diebstahl?» Ich hatte mich entschlossen, das Risiko in Kauf zu nehmen.
Die Turmuhr schlug halb acht. Die Sonne war gerade dabei, sich hinter dem Horizont zu verabschieden, und bemalte die flaumigen Wolken mit pastellfarbenen Rottönen. Ich betrachtete das bezaubernde Farbenspiel am Himmel, während ich auf Nickis Antwort hoffte.
«Ich wollte halt nicht, dass Mingo auf den Strich geht, darum!», sagte er hart. «Aber ich hätte es nicht machen sollen. Als ich aus dem Knast kam, war Mingo mieser drauf als je zuvor. Total abgestürzt. Gelbsucht. Ist aus der Klinik abgehauen.»
Ich konnte richtig fühlen, wie seine Brust sich schmerzhaft zusammenzog. Er nahm seine linke Hand von meinem Bauch weg, um einem kurzen und hektischen Hustenanfall nachzugeben. Ich beschloss, es damit gut sein zu lassen. Die komplette Geschichte musste ich mir wohl selber zusammenbasteln.
Domenico legte die Hand wieder auf meinen Bauch, doch sie konnte irgendwie nicht ruhig bleiben. Er nahm sie wieder weg, fuhr sich damit durchs Gesicht, platzierte sie wieder dort, wo sie eigentlich hinsollte, nur um sie gleich darauf wieder wegzunehmen und sich damit das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Sein ganzer Körper war auf einmal in vibrierender Aktivität.
«Mist, elender!»
«Was denn?»
«Manchmal überkommt's mich einfach.»
«Der Hustenanfall?»
«Das auch. Nee, Schmacht auf 'ne Kippe halt. Was denn sonst?»
«Verstehe …»
«Manchmal könnt ich echt durchdrehen.»
«Vielleicht solltest du doch lieber wieder Nikotinpräparate nehmen? Möglicherweise würde es dir die Entwöhnung erleichtern.»
«Nikotinpräparate nützen bei mir nicht viel.»
«Aber du hast es doch damit auch geschafft, als du bei uns warst.»
Doch da lachte er freudlos auf.
«Was ist denn, Nicki?»
«Soll ich dich mal wieder richtig schockieren?»
«Schockieren?» Ich war ziemlich verunsichert. Meinte er das ernst?
«Deine Mutter ist die Einzige, die es weiß.» Er seufzte und klammerte sich wieder an meinem Bauch fest. «Ich hab nicht ganz aufgehört, als ich bei euch war. Ich hab das einfach nicht ausgehalten. Ich bin manchmal heimlich auf den Balkon raus.»
«Du bist was?»
«Ey, Süße …»
«Mann, Nicki. Und hast mir nichts davon gesagt?»
«Drum sag ich's dir ja jetzt. Ey, ich hasse mich ja selber dafür. Ich hab mich so total daneben gefühlt, dass ich das dann auch deiner Mutter gebeichtet hab. Sie hat versprochen, es niemandem zu erzählen …»
«Dann hast du mich also angelogen … du hast nämlich noch so getan, als würdest du dich über deinen Fortschritt freuen», erinnerte ich mich traurig. Ich hatte den Moment ziemlich genau in mein Gedächtnis eingeprägt, dieses verhaltene Strahlen in seinem Gesicht, als er mir von diesem Erfolg erzählt hatte. Ich fühlte an diesem Abend bereits den zweiten Anflug von Bitterkeit.
«Süße …» Er drückte mich fest an seine Brust. «Sieh mal … für mich war es doch ein Riesenfortschritt. Noch vier lausige Kippen pro Tag, ich mein …» Seine Stimme klang ganz kleinlaut. «Und dein Vater hat mir auch echt geholfen. Ohne sein Programm wär nix gegangen.»
«Dann nützt es also doch was?»
«Ja, klar …»
«Hm, irgendwie fällt es mir schon nicht ganz leicht, dich zu verstehen …»
«Maya …» Ich spürte, dass er kurz vorm Heulen war. «Ich bin so was wie ein Nikotin-Junkie, verstehst du? Du musst auf mich aufpassen. Du musst echt auf mich aufpassen, sonst weiß ich nicht, ob ich das jemals schaffe.»
Seine verzweifelte Stimme erschütterte mein Herz. Sofort tat es mir leid, dass ich das gesagt hatte.
«Klar!», versprach ich und beschloss, die verwirrenden Gedanken, die in meinem Kopf kreisten, einfach zu ignorieren. «Entschuldige bitte, Nicki.»
«Du musst total hart zu mir sein, Principessa, versprichst du mir das?» Seine Stimme bebte.
«Mach ich …»
Er legte vorsichtig sein Gesicht wieder auf meinen Rücken. «Bist du nun sauer auf mich?», fragte er sehr leise.
«Nein … nein, natürlich nicht! Ich wünsche mir bloß …»
«Sag mir, was du dir wünschst.»
«Na ja, dass du mir halt vertraust. Ehrlich zu mir bist. Ich möchte dir doch gern beistehen.»
Er sagte eine Weile lang nichts und hielt sich an mir fest. Mehr denn je wurde mir klar, dass das Thema mit seinem Nikotinproblem ein außerordentlich wunder Punkt bei ihm war und wohl auch bleiben würde.
«Ich hab die ganze letzte Woche keine einzige Kippe angerührt. Ich schwör's! Ist wirklich wahr!» Sein Atem kitzelte mich wieder.
«Hey, das ist doch super!»
Er erwiderte nichts mehr darauf. Die Wolken hatten ihre Rosafärbung wieder verloren. Ein frischer Wind ließ mich frösteln. Vielleicht hätte ich doch die dicke Jacke mitnehmen sollen. Erst als nur noch ein schmaler Streifen Rot am Horizont sichtbar war, hob Domenico seinen Kopf wieder.
«Magst du ein wenig zum Fluss runtergehen, Maya?»
«Gern!»
Er sprang mit einem Satz von der Mauer und streckte seine Hände aus, um mir beim Absteigen zu helfen. Ich landete direkt in seinen Armen. Er lächelte mich an und drückte mir einen superschnellen Kuss auf die Stirn. Sofort verflog auch das letzte Überbleibsel Missstimmung aus meinem Herzen. Domenico bot mir seinen Arm, und ich hängte mich ein.
Arm in Arm stiegen wir die Steinstufen hinab, die in das Mauergefälle hineingehauen waren und uns zum Fluss hinunterbrachten, dessen klares Wasser erfrischend durch die Gegend rauschte. Die Lichter der Stadt waren angegangen; ihr Spiegelbild zerteilte sich im Wasser. Domenico, der merkte, dass ich immer mehr fröstelte, zog mich ganz an sich heran und drückte mich eng an seinen warmen Körper.
«Schön, die Lichter, was? Nur schade, dass wir hier kein Meer haben. Ich vermisse es richtig …», meinte er mit einer unverhohlenen Sehnsucht in der Stimme, die mir beinahe wieder den Boden unter den Füßen entzog.
«Würdest du denn lieber wieder in Sizilien leben als hier?», wollte ich ängstlich wissen und hielt mich unwillkürlich stärker an ihm fest, als müsste ich befürchten, dass er in den nächsten Sekunden vor meinen Augen verschwinden würde. Diese Bedenken waren nicht ganz unbegründet. Er war ja schon mehrmals abgehauen.
Er starrte runter auf den Fluss und nickte schließlich. «Aber ich weiß ja, dass es nicht geht. Außerdem … bist du ja hier …»
«Möchtest du mir erzählen, warum ihr überhaupt wieder zurückgekommen seid? Oder lieber nicht?» Wenn ich ihm die Wahl überließ, würde er sich vielleicht eher öffnen.
Er schaute sich suchend um und zog mich dann zu einer kleinen Anlegestelle, die noch nicht von träumenden Liebespaaren besetzt war. Wir machten es uns bequem und ließen die Füße über dem Wasser baumeln. Ich rechnete schon nicht mehr damit, dass ich eine Antwort bekommen würde. Er suchte bereits wieder ganz fiebrig nach einer Beschäftigung für seine Hände und schob sie schließlich unter seine Beine. Er holte tief Luft, und so, wie er dabei sein Gesicht verzog, wusste ich, dass ihm das Atmen leichte Schmerzen bereitete. Seine Lunge war noch nicht ganz geheilt.
«Mingo hatte mal wieder fast einen niedergestochen in Catania», begann er. «Als die Touristensaison in Taormina vorbei war, verdiente ich kaum noch Kohle mit meinen Bildern. Die Nächte wurden kälter, und wir konnten nicht mehr draußen in den Wäldern oder am Strand übernachten. Also gingen wir zurück nach Catania in unsere WG-Bude. Dort hab ich Paolo um Methadon für Mingo gebeten, aber der wollte uns nicht mehr helfen. Da ist Mingo so ausgerastet, dass er sich 'n Messer besorgte und Paolo damit bedrohte. Er war so verzweifelt, verstehst du? Da kam dann die Polizei und nahm ihn fest. Ich hab mich mit Bianca versteckt und Bonti um Hilfe gebeten. Mit dem hab ich dann 'nen Deal gemacht.»
Er erzählte die Geschichte eher seinen Knien als mir, denn er sah mich dabei die ganze Zeit nicht an. Aber ich war ihm dankbar, dass er es überhaupt tat, obwohl es ihn mächtig Überwindung kostete. Er warf mir nun einen verhaltenen Seitenblick zu, als ob er weitere Fragen erwartete.
«Einen Deal mit Bonti?»
«Er hat Mingo rausgelassen, aber ich musste dafür ein paar Geschäfte für ihn erledigen.»
«Geschäfte?»
«Nichts Schönes. Geld eintreiben und so. Wollte ich natürlich nicht. Und weil Paolo dann auch noch gedroht hat, dass er Mingo umbringen würde, sind wir abgehauen.»
«Bonti war tatsächlich ein Mafioso?» Ich hatte den ganz nett gefunden.
«Tja, das ist eben Sizilien, Maya. Wollen halt alle irgendwie überleben.»
Ich dachte nach. Jenny hatte mir mal was Ähnliches gesagt. Sie hatte eine Zeitlang mit den Zwillingsbrüdern auf Sizilien gelebt und mir irgendwann mal erzählt, dass sie sich immer gewundert hätte, dass Domenico, obwohl er keinen Führerschein gehabt hatte, dennoch jedes Mal ohne Anzeige aus der Polizeiwache gekommen war.
«Det check ick eenfach nich!», hatte sie mit ihrem Berliner Akzent gerufen. «Dat der Nico ohne Führerschein rumfahren darf und trotzdem nie nich verhaftet wird.»
War der Grund vielleicht der gewesen, dass er jedes Mal ein Gegengeschäft mit Bonti abgeschlossen hatte? Ich merkte mal wieder, dass es besser war, wenn ich nicht alles wusste. Doch es gab etwas anderes, das mir viel, viel wichtiger war.
«Mingo sagte mir, du seist auch wegen mir zurückgekommen. Ist das wirklich wahr?» Es gelang mir nicht, das Beben in meiner Stimme zu unterdrücken.
«Na ja …» Aus meinen Augenwinkeln beobachtete ich, wie sein Gesicht sich mit einer verlegenen Röte überzog. Er sah so unglaublich süß aus dabei, dass warme Gefühle mein Herz umarmten. Er brauchte mir die Antwort nicht mehr in Worten zu formulieren.
Jetzt war ich es, die sich an ihn lehnte und den Kopf auf seine Schultern legte. Er rückte sich ein wenig zurecht, damit ich bequem saß, dann zog er eine Hand unter seinem Bein hervor und streichelte mich sanft. Im Fluss spiegelte sich golden der Schein der Stadtlichter. Was für ein Moment! …