5. Tiger-X

«Magst du noch ein bisschen spazieren?», fragte Domenico mich ein wenig später.

«Ja, gern», sagte ich. Mit einem Mal nahm ich die Kälte wieder wahr. Domenicos Körper war so warm gewesen, dass ich fast vergessen hatte zu frieren.

«Ganz schön kalt», stellte ich fest und schlang meine Arme um meinen Oberkörper. Domenico zog wortlos seine Kapuzenjacke aus und legte sie mir über die Schultern. Er selbst trug darunter nichts weiter als ein ärmelloses Hemd.

«Spinnst du? Das kannst du nicht machen!» Ich wollte ihm die Jacke zurückgeben. «Ich will nicht, dass du dir wieder eine Lungenentzündung holst!»

«Süße, ich werd eher krank, wenn ich dich frieren seh. Außerdem bin ich ziemlich abgehärtet. Hab mein halbes Leben lang im Freien gepennt. Komm!» Er packte meinen linken Arm mit einer solchen Entschlossenheit und schob ihn dann in den Ärmel seiner Jacke, dass ich nicht mehr wagte, ihm zu widersprechen. Also ergab ich mich und schlüpfte auch in den zweiten Ärmel. Ich kuschelte mich fest in die Jacke und sog Nickis Geruch ein, der an ihr haftete.

Das Rauschen des Flusses war so wohltuend, dass wir eine Weile nur Hand in Hand dem Ufer entlang Richtung Brücke schlenderten. Die letzten Vögel, die sich noch nicht in ihre Nester verzogen hatten, sangen ihre Abendlieder und weckten ein tiefes Sehnen in mir. Ein Verlangen, dass es mehr zwischen Himmel und Erde geben musste, als wir sehen konnten; etwas Tieferes, Herrlicheres, Schöneres. Ich hätte diesen Stimmen ewig lauschen können, zusammen mit Domenico, der ebenso versunken schien wie ich.

Ein heftiges Ziehen in dem Arm, der um meine Schultern lag, weckte mich schlagartig aus meinen Träumen. Domenicos ganzer Körper hatte sich von einer Sekunde zur andern von Kopf bis Fuß angespannt.

«Was ist los?», fragte ich leicht gehetzt.

«Die Typen dort. Ich kenn sie. Lass uns umkehren!» Sein Griff um mein Handgelenk war so kräftig, dass es schmerzte. Schnell riss er mich ein paar Schritte zurück und kehrte mit mir um.

«Was sind das für Typen?», keuchte ich.

«Gangs. Unser Revier ging genau bis zur Brücke. Wir sind nicht mehr weit weg vom Xenon.»

«Revier?»

«Du überlebst dort nur, wenn du zu 'ner Straßengang gehörst. Sonst wirst du fertiggemacht!»

Ich war mir noch nicht ganz sicher, wie ich diese Information einordnen musste, doch ich ahnte, dass dies der Anfang einer Geschichte war, die ich noch nicht kannte.

«He Tiger!», grölten Stimmen hinter uns.

«Mist, sie haben mich schon gesehen!» Er warf einen flüchtigen Blick auf sein unverkennbares Tattoo am rechten Oberarm.

Zwei Jungs und drei Mädchen hatten uns eingeholt und umringten uns. Domenico drehte sich zu ihnen um und stellte sich schützend vor mich.

«Cosa c'è?», fragte er kühl.

«Ey, Tiger-X, du bist es wirklich!» Der Größere der beiden Jungs zeigte ein breites Grinsen, das nicht ganz leicht in Sympathie oder Misstrauen einzuordnen war. Vielleicht war es eine Mischung von beidem.

«Hi Stronzo! Was geht ab?» Domenicos Stimme hatte einen gebieterischen Unterton und klang ganz anders, als wenn er mit mir redete. So anders, dass sie mir fast Angst einjagte.

«Nicht viel.» Stronzo reckte seine lange Hakennase vor und musterte Domenico neugierig. «Und bei dir, Tiger? Bist zurück aus Sizilien? Shit, Mann, hab gehört, Skeleton ist abgekratzt. Stimmt das?»

Domenicos Schweigen, das die Luft erfüllte, klang gefährlicher als jedes Wort.

«Sorry …» Stronzo hob sofort abwehrend seine Hände und trat einen Schritt zurück. In seinen Augen sah ich eine Spur von Angst aufleuchten.

Der andere Junge, ein Typ mit braunen Rastalocken und weiten Jeans, bei denen das Gesäß fast bei den Knien unten rumwaberte, trat vor und hielt Domenico seinen Joint wie eine Friedenspfeife unter die Nase. «Da. Einmal ziehen!»

Ich nahm ein leichtes Zögern in Domenicos Augen wahr. «Nee, danke, Puffer!», sagte er schließlich schroff.

«Was? Biste krank?»

«Ich hör auf damit.»

«Ey komm! Du?»

«Ja, ich muss. Hatte 'nen Lungenriss. Außerdem raucht meine Freundin nicht.»

«Lungenriss? Was ist das?»

«Kein Bock zum Erklären. Mussten operieren. Hab auf der linken Seite nur noch 'nen halben Lungenflügel. Na ja …»

Puffer riss die Augen sperrangelweit auf. Die drei Mädchen hatten sich langsam herangepirscht und sich um mich herum aufgebaut. Ich registrierte, wie sie anfingen, mich mit lauernden Blicken zu fixieren. Hübsch waren sie nicht, aber von oben bis unten perfekt durchgestylt. Nichts fehlte. Von Piercings bis zu hochhackigen Stilettos war alles vorhanden, jedes Accessoire, das man überhaupt tragen konnte, bis hin zu den passenden Handtäschchen. Alle drei trugen ultrakurze Jäckchen, so dass man ihren gepiercten Bauchnabel sehen konnte. Die Kälte schien sie überhaupt nicht zu kratzen. Ihre rostbraunen Wangen sahen aus wie satiniert, kein Fleckchen blanker Haut war mehr unter dem tadellos aufgetragenen Make-up zu sehen. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie viele Stunden die vor dem Spiegel zugebracht haben mussten. Die eine von ihnen, ein besonders kräftig gebautes Mädchen, neben dem ich mir wie eine Mücke vorkam, schwenkte ihre Bierdose vor Domenicos Nase.

«Bist du dabei heut Nacht, Tiger? Geht voll fett was ab! Alk schlägt ja nicht auf die Lunge.»

«Nee, heute nicht.»

«Mann, Tiger, was ist los mit dir? Du bist doch sonst so ein Partyhengst!»

«Nicht mehr.»

«So?» Ihr Blick schwenkte zu mir rüber. «Wer ist das, 'ne neue Tusse, oder wie?» Sie schmatzte extra laut auf ihrem Kaugummi rum, als ob sie damit ihren Worten noch mehr Gewicht verleihen wollte. Ich schob mich näher an Domenico ran, doch er hatte sich in seine coole Pose geschmissen, dass selbst er mir wie ein Fremder vorkam. Ich fühlte mich auf einmal ziemlich allein.

«Geh aus dem Weg, Mila!», befahl er nur.

Mila lachte schrill. Ihr zuckriges Parfum hätte wahrscheinlich einen ganzen Schwarm Fliegen in Trance versetzt. «Die hat ja überhaupt nichts hier oben.» Sie reckte Domenico ihre eigene, ziemlich imposante Oberweite hin. «Ich dachte, du stehst auf so was!»

Domenico schob Mila derb zur Seite und warf den Jungs einen eisigen Blick zu, der mich regelrecht zum Frösteln brachte. Wenn jetzt ein falsches Wort fallen würde, konnte es unter Umständen Verletzte geben.

Stronzo feixte und zog an dem Joint, den Puffer ihm reichte. «Und, Tiger, Nummer wie viel ist sie? Ich glaub, du hast aufgehört zu zählen, was?», stichelte er.

Die Muskeln an Domenicos Oberarmen spannten sich. Er schob seine Unterlippe vor und zeigte Stronzo den Stinkefinger. Seine Augen kündigten drohendes Unheil an. Ich befürchtete das Allerschlimmste. Ein paar bange Augenblicke dachte ich daran, einfach wegzurennen.

«Komm schon, Tiger, das ist keine Frau für dich!» Mila zog ihren Ärmel runter, so dass ihre bloße Schulter sichtbar wurde, auf der ein kleines, verführerisches Herz tätowiert war. «Ich bin frei heute Abend, falls es dich interessiert.»

Offenbar hatten sie es regelrecht darauf angelegt, ihn zu provozieren. Mila grinste und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Zusammen mit ihrer Alkoholfahne und dem schrecklichen Parfum ergab das eine ziemlich penetrante Mischung.

Ich schloss die Augen und wartete auf die Explosion. Ich wünschte, diese Typen würden sich in Luft auflösen. Stattdessen spürte ich auf einmal einen groben Griff an meinem Arm und registrierte, wie ich fast fluchtartig mitgerissen wurde.

«Beeil dich», sagte Domenico nur.

«Das gibt Rache, Tiger-X!», brüllte uns Mila mit betrunkener Stimme nach.

Ich stolperte Domenico hinterher, der mich ohne Gnade und ohne weitere Worte am Arm mit sich schleppte, weg vom Ort des Geschehens. Ich wagte nicht zu widersprechen, obwohl mir beinahe die Puste ausging. Aber ich wusste, dass nur ein winziger Funke die Explosion herbeiführen würde.

Ich war völlig verwirrt und durcheinander, aber auch erleichtert, als er endlich stehen blieb. Er musterte mich mit einem kurzen, undefinierbaren Blick, dann ließ er sich zu Boden sinken und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Sein Atem ging hektisch und schwer. Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun musste, und ließ mich ratlos neben ihm nieder.

Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, ließ er seine Hände wieder fallen und fixierte einen unsichtbaren Punkt im Fluss. Und dann, plötzlich, trat ein Leuchten in seine Augen.

«Diesmal hab ich mich beherrscht!»

Ich guckte ihn erst verständnislos an, weil ich noch so benommen war von dem Sprint. Aber als ich kapierte, erwiderte ich sein Lächeln. Er hob seine Hand und strich mir als Entschädigung für die Aufregung beruhigend übers Haar.

«Darum bin ich so schnell weggerannt. Verstehst du? Aber ich dachte, wenn ich das jetzt nicht tue, ist meine Faust wieder schneller als mein Hirn. Ey, Maya … ich hoff, ich hab dir nicht allzu doll wehgetan?»

«Es geht schon», sagte ich. Was waren diese kleinen Blessuren schon im Gegensatz zu dem, was hätte geschehen können? Dass Nicki es geschafft hatte, dieses Mal seinen Jähzorn zu überwinden, war im Moment das Beste, was passieren konnte, obwohl diese ganze Begegnung vorhin wieder eine Menge in mir aufgewühlt hatte.

«Du, sag mal, was bedeutet eigentlich Tiger-X?», wollte ich wissen.

«Das ist mein Bandenname.» Er legte sich zurück, stützte sich mit den Ellbogen ab und schaute in den mittlerweile dunklen Nachthimmel.

«Bandenname?»

«Ich hab dir doch gesagt, dass man hier nur überleben kann, wenn man in 'ner Gang ist. Ich war der Leader.»

«Du warst ein Bandenführer?»

«Nicht so, wie du denkst. Wir haben niemandem was getan. Wir waren eher eine Clique. Wir haben nur die Schwächeren beschützt und uns gegen die Gang von Janet verteidigt.»

Von Janets Gang hatte ich schon gehört, aber dass auch Nicki eine Gang gehabt hatte, brachte meinen Kopf beinahe zum Platzen.

«Wie viele Banden gab es denn?» Ich wollte alles ganz genau wissen.

«Drei oder vier, schätze ich. Wir waren ungefähr dreißig Leute, mit den Goths und den Punks noch ein paar mehr. Die Snakes waren allerdings über hundert.»

«Snakes – hieß so Janets Gang?»

«Sie heißt immer noch so.»

«Und wie hieß … deine Bande?» Ich hatte mich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnt.

«Xenon-Tigers. Tja, und ich war eben Tiger-X.»

«Uuuh, Nicki!» Das gab jedenfalls wieder reichlich Stoff zum Nachdenken. Er sah mich schweigend an, seine Augen wirkten so befreit über seinen Erfolg von vorhin, dass ich das als grünes Licht einstufte. Ich war froh, dass dieser coole Touch wieder von ihm gewichen war.

«Und? Existiert eure Bande denn noch?», war meine nächste Frage.

«Sie hat sich aufgelöst, als Mingo und ich weggingen. Weil sie keinen Anführer mehr hatten, haben sie sich den anderen Gangs angeschlossen. Das hat mir Suleika erzählt. Das ist auch ein Grund, warum es so gefährlich ist. Ich hab keine Verbündeten mehr, die hinter mir stehen, verstehst du? Suleika ist dabei, wieder 'n paar Leute zu mobilisieren.»

«Du willst die Gang wieder aufbauen?»

«Nicht direkt, aber da ich ja immer noch einige Schulden berappen muss und deswegen ziemlich viele Feinde habe, ist es gut, wenn ich 'n bisschen Rückendeckung hab.»

Er nestelte hektisch in seiner rechten Hosentasche und schlug sich dann selber mit knirschenden Zähnen auf die Hand. Schließlich schob er sie einfach in meine. Ich drückte sie fest.

«Und Mingo haben sie Skeleton genannt?», fragte ich weiter.

«Ja, so haben sie ihn genannt … wegen seinen Klamotten.» Seine Hand war ganz feucht. Obwohl er nur im ärmellosen Shirt dasaß, hatte er kein bisschen Gänsehaut. Da dämmerte mir etwas.

«Trägst du darum diesen Tigerzahn um den Hals?»

Er grinste ein bisschen. «Korrekt. Die andere Kette mit dem X habe ich übrigens dir gegeben.»

«Der silberne Anhänger? Das soll ein X sein? Es sieht aus wie verschlungene Dornen.»

«Ja, aber wenn du genau hinguckst, sieht das verschlungene Dornenmuster x-förmig aus.»

Ich kaute auf meinen Lippen rum. Die nächste Frage, die ich stellen wollte, war ziemlich prekär. Es war kein Geheimnis mehr, dass er früher als ziemlicher Mädchenjäger gegolten hatte. Obwohl dieses Thema unter uns geklärt war und zwischen jetzt und früher eine lange Geschichte lag, hatte mich doch dieser zwielichtige Hauch seiner Vergangenheit vorhin in eine gewisse Unruhe versetzt.

«Darf ich dich noch etwas fragen?»

«Frag schon!» Er hatte die Augen geschlossen, offenbar ahnend, dass nun wieder ein heißes Eisen folgte.

«Wie viele Freundinnen hast du wirklich gehabt? Ich meine, es waren schon ziemlich viele, oder?» Ich hörte selber, wie verkrampft meine Stimme klang. Meine Gefühle entgleisten für ein paar Sekunden völlig.

«Maya … muss ich dir das jetzt echt alles auf die Nase binden? Reicht es nicht, wenn ich dir sage, dass das alles vorbei ist und dass ich dich liebe und für immer bei dir sein will?», flüsterte er schmerzvoll. «Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass ich nicht mit so vielen Mädchen geschlafen hab, wie alle immer behaupten. Ich mein, 'n bisschen Gefühl hab ich ja auch noch, selbst wenn ich viel Mist gebaut hab. Außerdem hab ich doch diese Narben hier, das weißt du ja.» Er legte die Hand auf seinen Bauch.

Ich verkeilte nachdenklich meinen Fuß zwischen seinen Schuhen, während ich mir vorzustellen versuchte, wie das früher alles gelaufen war. Ich wusste, dass auch Janet, die Anführerin der Snakes, zu seinen Ex-Freundinnen gehörte. Wie das wohl gekommen war?

«Ey, was beschäftigt dich eigentlich?» Er drehte sich zu mir um. Natürlich, er registrierte mal wieder jede Gefühlsregung in mir.

«Ich … ich habe Angst», gab ich leise zu. «Angst, nur eine von vielen zu sein …»

«Du bist nicht eine von vielen», sagte er sanft. «Warum denkst du das denn?»

«Die Mädchen laufen dir doch scharenweise nach …»

«Hey, das hat doch nichts zu bedeuten.» Er legte seine Hand auf meinen Rücken und streichelte mich liebevoll. «Die Tussen da sind doch alle kaputt. So wie ich. Ich hab mein Leben lang nach so 'nem Mädchen wie dir gesucht. Aber so eine wie du verliebt sich doch normalerweise nicht in so 'nen verknacksten Typen wie mich. Warum hast du Angst, dass ich dich verlasse? Ich hab eher Angst, dass du mich verlässt!» Er schlang die Arme fest um meinen Hals und berührte meine Wangen mit seinen weichen Lippen. Ich schmiegte mich glühend an ihn. Jetzt war mir auf einmal wieder heiß.

«Möchtest du was trinken gehen? Du hast bestimmt Durst, nicht?»

Ich nickte und versuchte, mich nicht in einen Feuerofen zu verwandeln.

«Hier in der Nähe gibt's eine ziemlich coole Bar, die meistens nicht so voll ist. Und die ganzen Typen von den Gangs hängen dort auch nicht rum. Ich kenn sogar den Barkeeper persönlich. Vielleicht spendiert er uns ja was! Ist auch Sizilianer …» Er sprang auf die Füße und reichte mir die Hand.

Das erweckte meine Neugier. Eine Bar? Ich war noch nie in einer richtigen Bar gewesen. Paps würde dem auch nie im Leben zustimmen, ehe ich nicht volljährig war. Aber genau genommen hatte er es mir auch nie konkret verboten. Ich ließ mich von Nicki auf die Beine ziehen, bereit, dieses neue Abenteuer in Angriff zu nehmen.

Es war nicht allzu weit dorthin. Die Bar war im altenglischen Stil gehalten und lag ganz in der Nähe vom Dom. Das erinnerte mich schlagartig wieder an unsere bevorstehende Klassenreise.

«Hey, wir fahren übrigens im Sommer mit der Klasse nach London», teilte ich Domenico mit.

«Echt? Ist ja geil! London, da würde ich auch gern mal hin.» Domenico stieß die Tür auf und führte mich in den verqualmten Innenraum. Die Bar wirkte eng und dunkel, aber irgendwie gemütlich. Die Diele war mit geschnitzten rotbraunen Holzbalken ausgestattet. Ein paar bunte Lichterketten waren unordentlich daran montiert. Die roten Drehsessel an der Bar waren tatsächlich zur Hälfte noch frei. Die meisten Gäste hatten sich in die hinteren Ecken verzogen.

Domenico steuerte mit mir direkt auf die Theke zu. Der Barkeeper drehte sich zu uns um.

«Salve Nico!» Der junge Mann, ein stämmiger Typ mit ähnlichen Lederketten um den Hals wie Domenico, strahlte ihn an.

«Ciao Sandro!» Und schon waren die beiden Jungs in eine sprudelnde italienische Diskussion vertieft. Es klang, als würden sie ihre Sätze mit einem Maschinengewehr abfeuern, aber ich konnte immerhin den sizilianischen Dialekt heraushören.

«Das ist übrigens meine Freundin Maya!» Wie immer hatte Domenico ein wenig Mühe mit seinem Akzent, wenn er so schnell zwischen Italienisch und Deutsch wechseln musste.

«Ciao bella!» Sandro reichte mir galant die Hand. Ich wartete schon wieder auf eine stichelnde Bemerkung wegen Domenicos berüchtigtem Mädchenverschleiß und atmete erlöst auf, als nichts dergleichen kam. Dafür wurde ich auf zwei ungefähr dreißigjährige Frauen neben mir aufmerksam, die ziemlich schmachtend auf sein Tattoo starrten. Egal, wo ich mit ihm hinging, er erregte überall Aufsehen, und ich wusste noch nicht, ob ich das aufregend oder eher bedrohlich finden sollte.

«Was wollt ihr trinken? Ich spendier euch was!», sagte Sandro. Domenico grinste mich triumphierend an.

«Was hab ich gesagt? Was möchtest du haben, Principessa? Er mixt dir alles! Was du willst.»

«Ich … na ja, vielleicht etwas ohne Alkohol?»

«Klar.»

«Ohne Alkohol?» Sandro verzog etwas angewidert das Gesicht. «Das schmeckt doch gar nicht.»

«Ey, sie ist erst sechzehn», sagte Domenico. «Gibt's da nicht Gesetze?»

«Ja, ja, das sagst ausgerechnet du», grinste Sandro. «Ich kenn Dreizehnjährige, die wie die Löcher saufen! Was ist schon dabei? Komm, du Amor, was soll ich deiner Süßen mixen?»

Domenico sah mich nachdenklich an. Ich sagte: «Vielleicht … gibt es etwas mit nur ganz wenig Alkohol?»

Insgeheim dachte ich, dass es gar nicht mal so schlecht war, ein wenig zu probieren. Ich konnte doch nicht mein Leben lang immer nur so übervorsichtig und brav sein. Außerdem hatten die anderen in meiner Klasse auch schon Alkohol konsumiert. Man brauchte sich ja nicht gleich zu betrinken. Schließlich hatte ich auch schon mal heimlich an Mamas Weinglas genippt. Und Paps brauchte es ja nicht zu erfahren …

«Also schön, dann mix ihr was Süßes mit ganz wenig Stoff, okay?», sagte Domenico. «Mädchen mögen süße Drinks. Aber wirklich nur ganz wenig, mi senti? Mir kannst du einen Green Poison machen.»

«Green Poison – normal oder mit Extrastoff?» Sandro grinste vielsagend und wartete Domenicos Antwort gar nicht erst ab, als er sich ans Werk machte. Ich sah fasziniert der Show zu, die er beim Mixen abzog.

«Krass!», meinte ich.

«Kann ich auch», sagte Domenico.

«Du?»

«Hab 'ne Zeitlang als Barkeeper gejobbt.»

Sandro strahlte uns an und stellte ein giftgrünes und ein knallrotes Getränk vor uns auf die Theke.

«Alla salute! Das rote ist für deine ragazza.»

Ich zog vorsichtig an dem Strohhalm und war gleich darauf angenehm überrascht, wie extrem lecker und fruchtig der Drink schmeckte.

«Und?» Domenico sah mich prüfend an. «Magst du's?»

Ich nickte und nahm einen weiteren ausgiebigen Schluck. Es brannte angenehm in der Kehle, und mir wurde ein bisschen schummrig im Kopf. Oder bildete ich mir das nur ein? So schnell spürte man ja wohl kaum was von dem bisschen Alkohol.

Domenico trank sein Glas fast in einem Zug leer und stellte es vor Sandro hin. «Da, kannst mir noch einen machen, ich bezahl diesmal auch!»

Ich war erst beim vierten Schluck. Jetzt, wo wir so entspannt dasaßen, merkte ich auf einmal, wie müde ich war. Eine wohlige Wärme kroch durch meinen Körper und war dabei, mich in einen behaglichen Dämmerzustand einzuhüllen. Es war, als ob mein Körper nach all dem Schulstress und den Aufregungen jetzt seinen Tribut forderte.

Sandro steckte sich eine Zigarette an und mixte Domenico einen neuen Drink. Mit dem fertigen Getränk schob er ihm auch wie selbstverständlich die offene Zigarettenschachtel zu. «Bedien dich.»

Domenico starrte erst die Schachtel an, dann mich.

«Süße, nur eine, okay? Bitte!»

«Nein, Nicki …», murmelte ich matt. «Du … du sollst nicht rauchen! Denk an deine kranke Lunge.»

«Ey, ich weiß, aber ich rauche nur eine, okay? Ich hab mich heut schon den ganzen Tag gequält … Ehrlich, nur diese eine, dann ist Schluss, ich versprech's dir!»

«Nein. Das lasse ich nicht zu!» Jetzt kam ich auf einmal wieder auf Touren und legte blitzschnell meine Hand auf die Schachtel. «Du hast gesagt, ich soll knallhart zu dir sein.»

«Jetzt gib schon her!», befahl er scharf und schob meine Hand richtig gewaltsam weg. Wahrscheinlich hätte mir seine aggressive Stimme viel mehr Angst eingejagt, wenn ich mich nicht so wie in Watte verpackt gefühlt hätte. Ich brachte die Kraft nicht mehr auf, ihm zu widerstehen, weil mir in dem Moment klar wurde, dass es vermutlich gar nicht möglich war, weil er ja so oder so stärker war als ich. Ich sah geschlagen zu, wie er eine Zigarette aus der Packung zog, sich von Sandro Feuer geben ließ und den Rauch gierig inhalierte wie jemand, der nach lang angehaltenem Atem wieder sehnsüchtig nach Luft schnappte. Ich nuckelte weiter an meinem Strohhalm, unfähig, irgendetwas zu sagen.

Die beiden unterhielten sich wieder ein bisschen auf Italienisch, während Domenico sein zweites Glas leertrank. Meine Glieder wurden von Minute zu Minute schwerer, und allmählich sehnte ich mich nach meinem Bett. Ich hatte eigentlich überhaupt keine Lust mehr auf diese Bar hier.

Ich leerte mein Glas, bis nur noch etwa ein Viertel von dem Getränk übrig war, dann legte ich meine Arme auf die Theke und bettete meinen Kopf darauf, bereit, auf der Stelle einzuschlafen. Nur vage bekam ich noch mit, wie Nicki sich eine zweite und eine dritte Kippe anzündete und auch noch ein weiteres Getränk bestellte. Die Stimmen um mich herum drangen nur noch verschwommen zu mir hindurch, während der Barhocker, auf dem ich saß, sich von seinem Pflock löste und aufs offene Meer hinaustrieb, wo er von mächtigen Wellen hin und her geworfen wurde und mich ins Wasser schleuderte …

«Hey, mein Lieber, ich glaub, deine Frau ist eingepennt!»

Als ich Sandros grinsendes Gesicht über mir spürte, löste sich die Welle unter mir auf, und der Barhocker schraubte sich wieder an Ort und Stelle fest, wo er hingehörte.

«Maya?» Domenico beugte sich zu mir vor und küsste mich zart auf die Wange. Sein Atem roch nach Alkohol und Zigaretten, und ich merkte, dass hier irgendwas ganz arg schiefgelaufen war.

«Hey, alles klar mit dir? Du hast ganz glasige Augen.» Er musterte mich prüfend. «Gib mal her!» Er nahm mir das Glas aus der Hand. Nachdem er einen Schluck probiert hatte, verengten sich seine Augen und schossen feurige Salven auf Sandro ab.

«Ey, Alter, da ist aber nicht schlecht Stoff drin! Was hast du ihr denn da reingemixt? Ich hab gesagt: nur wenig!»

«Das ist wenig!», beteuerte Sandro. «Bei dir hab ich mindestens das Doppelte reingekippt.»

«Zwischen ihr und mir ist aber auch ein ziemlich großer Unterschied», sagte Domenico böse und kippte sich das restliche Viertel aus meinem Glas auch noch hinter die Binde. «Möchtest du gern was anderes haben, Maya?», fragte er. «Fanta? Cola?» Er zog nun mittlerweile an der vierten oder fünften Zigarette. Ich schüttelte den Kopf.

«Ich glaube, ich möchte nach Hause.»

«Okay.» Er steckte sich die Kippe zwischen die Lippen und bezahlte. Ich unternahm einen unsicheren Versuch, vom Hocker zu klettern, doch bevor ich meine Füße auf den Boden stellen konnte, war Domenico bei mir, schlang seine Arme um mich und brachte mich hinaus auf die Straße.

«Ich kann allein gehen …», nuschelte ich mit schwerer Zunge.

«Kommt nicht in Frage», meinte er. «Denkst du, ich lass dich los? Du bist ganz schön bedröselt! Du wärst ja vorhin fast vom Hocker gefallen.»

«Stimmt doch gar nicht …»

«Doch. Aber von mir aus. Geh mal ein paar Schritte allein.» Er ließ mich los. Ich wusste überhaupt nicht, wovon er sprach. Außer dass ich ziemlich müde war, fühlte ich mich prima.

«Und jetzt guck mal, wo du stehst!», grinste er, während er seine Zigarette wegschnipste. Ihm schien der Alkohol so gut wie nichts ausgemacht zu haben. Ich hingegen stand tatsächlich abseits vom Bürgersteig.

«Komm, duci mia, ich trag dich lieber.» Und schon verschwand der Boden unter meinen Füßen, und ich lag auf seinen Armen.

«Pass auf deine Lunge auf …», murmelte ich kraftlos.

«Pass du lieber auf, dass der Himmel über dir nicht kippt», alberte er.

«Ich bin doch viel zu schwer …»

«Warte mal …» Er stellte mich wieder auf die Füße, drehte sich um und hob mich dann huckepack auf seinen Rücken. Ich klammerte mich an seinem Hals fest und schlang meine Beine um seine Hüften. Er schien tatsächlich stark genug zu sein, um mich zu tragen. Und dann rannte er los, direkt auf eine kleine Rasenanlage zu, und ließ sich johlend mit mir ins Gras fallen.

«Nicki!», kreischte ich. Er rollte sich lachend zur Seite, und ich purzelte über ihn. Schließlich lagen wir ineinander verkeilt im Gras und lachten beide wie verrückt. Auf einmal wollte ich nur noch rumalbern, ich wollte, dass der Himmel über mir kippte, ich wollte irgendwas Durchgeknalltes tun.

«Mann, Süße, ich fass es nicht. Sandro wird was erleben!» Sein Gesicht war ganz nah an meinem. Ich legte meine Hand auf seine Brust und umklammerte seinen Tigerzahn, während ich in seinen Armen lag. Ich fühlte mich so herrlich verrückt und so herrlich müde. Am liebsten wäre ich hier mit ihm liegen geblieben und einfach unter dem freien Sternenhimmel eingeschlafen. Und wahrscheinlich wäre das auch passiert, wenn nicht auf einmal die Glocke des Doms mit erschreckender Deutlichkeit elf Uhr geschlagen hätte.

«Oh Mist, wir sollten echt los, was?», sagte Domenico. «Komm, Principessa … ich bring dich nach Hause.» Er zog mich wieder auf die Beine. Ich war noch ganz berauscht von seiner Nähe. In der U-Bahn schlief ich dann tatsächlich an seiner Schulter ein, während durch meine verschwommenen Träume bereits Paps' Schelte zu mir drang.

Es war halb zwölf, als wir aus der U-Bahn umstiegen, und schon beinahe Mitternacht, als wir bei mir zuhause ankamen. In der Küche brannte noch Licht. Am Fenster waren die Umrisse von Mamas Kopf sichtbar. Domenico ließ meine Hand los.

«Buona notte, amore mio!», flüsterte er und ließ seine Finger zärtlich über meine Wange gleiten, ehe er sich vorbeugte und seine wunderbar weichen Lippen auf meine erhitzte Haut legte. «Sugnu pazzu di tia.»

«Hä?», fragte ich verständnislos.

Kaum war er durch das Gartentor verschwunden, öffnete sich auch schon die Haustür, und Mama stand mit strengem Gesicht vor mir.

«Wo wart ihr so lange? Wir hatten elf vereinbart. Und warum hast du mich nicht angerufen?» Sie beugte sich vor und schnupperte an mir. «Habt ihr etwa Alkohol getrunken?»

«N… nur … nur so einen Drink. So was mit Erdbeeren …»

«Geh ins Bett. Wir reden morgen drüber!»

Als ich im Bad stand und mich im Spiegel anschaute, erschrak ich. Meine Augen glänzten fiebrig, meine Wangen waren ganz aufgedunsen und mit roten Flecken übersät. Und meine Haare sahen nicht viel anders aus als die Federn eines zerrupften Huhns. Meine Güte …

Ich wusste irgendwie überhaupt nicht mehr, was unten und was oben war.