6. Verpatzte Ferien

Die Retourkutsche kam am nächsten Morgen. Die ganze Nacht hatte ich wirre Träume gehabt. Ich hatte geträumt, dass Nicki sich dauernd in einen wilden Tiger verwandelte, und jedes Mal, wenn ich vor Angst aufschrie, hatte ich seine weichen Lippen auf meinem Nacken gespürt und seine glühende Haut, die mich wärmte. Dann war ich schweißgebadet und mit fürchterlichen Kopfschmerzen aufgewacht. Ich konnte kaum die Augen öffnen. Mir war speiübel.

Mama setzte sich zu mir ans Bett. Auch Paps kam herein, zog meinen Bürostuhl heran und befühlte meine Stirn.

«Martin, verbreite jetzt keine Weltuntergangsstimmung. Ich bin sicher, es gibt eine Erklärung.» Mama legte mir einen herrlich kühlen Lappen auf die glühende Stirn und löste mir ein Schmerzmittel in Wasser auf.

«Wie spät ist es?», murmelte ich schwach.

«Halb neun. Schlaf ruhig weiter, Maya, ich habe dich in der Schule abgemeldet.» Trotz meines jämmerlichen Zustandes glaubte ich, in Mamas Mundwinkeln ein leichtes Schmunzeln zu registrieren. Irgendwie drang die Tatsache in mein desorientiertes Hirn, dass heute ja der letzte Schultag vor den Ferien gewesen wäre. Mama verabreichte mir das Medikament, und ich verdöste hinterher den ganzen Vormittag mit weiteren nebligen Träumen, während ich in der Ferne die Stimmen und die Diskussionen meiner Eltern hörte. Schließlich brachte mir Mama etwas zu essen hoch. Ich setzte mich zittrig im Bett auf. Meine Schädeldecke platzte beinahe.

«Hier, Maya, iss was!»

«Ich kann nicht …»

«Das hilft. Weiß ich aus eigener Erfahrung!» Mama grinste ein wenig.

«Du weißt …?»

«Ich war in deinem Alter auch nicht immer ein Engel. Aber willst du mir nicht erzählen, was ihr gestern so gemacht habt?»

«Nichts Schlimmes …» Unter meiner Stirn pochte es grausam. «Wir haben nur was getrunken … Ich hatte nur ein Glas, so ein rotes Getränk mit ganz wenig Alkohol, aber … es war gar nicht so schlimm, fand ich …»

«Und Nicki?»

«Ich weiß nicht …» Ich runzelte die Stirn, als ich versuchte, die Erinnerungen an den gestrigen Abend im Gedächtnis zusammenzukratzen.

«Hmm …» Mama wiegte nachdenklich den Kopf. «Komm jetzt, iss. Nun ja, im Großen und Ganzen, denke ich, gibt es wirklich Schlimmeres. Ich halte dich jedenfalls für vernünftig genug, deine Grenzen zu kennen. Aber auf Nicki solltest du besser Acht geben.»

«Acht geben?» Meine Hirnzellen funktionierten nur im Schneckentempo.

«Ich fürchte, dass er sich da nicht so unter Kontrolle hat.» Mama warf mir einen auffordernden Blick zu, dass ich endlich mit dem Essen beginnen sollte. Ich schwieg, als ich vorsichtig in ein Stück Brot biss und darauf herumkaute, als wäre es aus zähem Gummi. Doch allmählich merkte ich, dass die Kaubewegungen meiner Kiefermuskeln auch meinen Kreislauf wieder in Gang setzten. Mama blieb bei mir sitzen, bis ich alles aufgegessen hatte. Ich stellte überrascht fest, dass sie Recht gehabt hatte: Ich fühlte mich wie ein neuer Mensch.

«Ist Paps sehr sauer?», fragte ich.

«Na, du kennst ihn doch.» Mama rollte ein wenig mit den Augen. «Er dramatisiert die Sache ja immer ein bisschen zu arg. Ich denke mal, dein Kater ist Strafe genug.»

«Allerdings …», stöhnte ich. Ich hatte wirklich keinen Bock auf ein zweites Mal. Als Mama wieder gegangen war, schlief ich nochmals eine Runde. Ich wurde das nächste Mal wach, als eine warme, raue, aber zugleich sehr sanfte Hand über meine Stirn strich. Als ich die Augen aufschlug, verschwand die Hand sofort wieder.

«Bist du wach?», wisperte eine leicht heisere Stimme.

«Nicki?» Ich setzte mich schlaftrunken auf. Er saß auf meiner Bettkante und sah mich mitfühlend an.

«Mann, ich wollte das doch nicht», flüsterte er beinahe verzweifelt. «Ich wusste ja nicht, dass du das Zeug nicht verträgst. Ich hätte besser auf dich aufpassen müssen.»

«Es ist nicht so schlimm», versicherte ich, wieder klarer im Kopf. «Aber du …»

«Ja, ich weiß, was du sagen willst.» Er wandte beschämt sein Gesicht ab. «Ich kann ziemlich was ab, aber ich hab wieder mal voll übertrieben, wie so oft, leider. Deine Mutter hat schon mit mir geredet.»

Ich wollte aus dem Bett klettern, doch Domenico legte seine Hand auf meine Schulter und drückte mich fürsorglich auf das Kissen zurück.

«Bleib besser liegen.» Er nahm den feuchten Lappen, tauchte ihn in die Wasserschale neben meinem Bett, wrang ihn aus und legte ihn mir auf die Stirn. Die Tür öffnete sich, und meine Eltern steckten den Kopf herein. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie spät es war. Mein Wecker stand aus irgendeinem Grund nicht an seinem gewohnten Ort.

«Dürfen wir kurz reinkommen?», fragte Paps. Domenico nickte zögernd und richtete sich kerzengerade auf. Paps setzte sich auf den ächzenden Bürostuhl und schaute uns ernst an, während Mama leise die Tür schloss und sich schließlich auf der Bettkante am Fußende niederließ.

Paps' dramatisches Seufzen enthüllte uns sofort seine Unzufriedenheit mit der Situation.

«Also, zuerst muss ich dringend mal loswerden, dass ich ganz und gar nicht erfreut bin und dass ich mir mehr Verantwortungsbewusstsein von dir gewünscht hätte, Nicki. Du kannst meine Tochter nicht mit sechzehn einfach in eine Bar mitnehmen und sie quasi zum Alkohol verführen. Du weißt, was wir miteinander besprochen haben: Es gibt erst dann eine ernsthafte Beziehung mit meiner Tochter, wenn du dich einigermaßen im Griff hast. So lange das nicht der Fall ist, muss ich da einfach eine Grenze ziehen.»

Domenico neigte den Kopf zur Seite und schloss die Augen.

Paps räusperte sich wieder. Ich spürte, wie die Emotionen in ihm tobten und wie er all seine Kraft dafür aufbrachte, den zornigen Sturm zu beruhigen und Nicki nicht nach Strich und Faden die Leviten zu lesen.

«Ich … nun, ich will jetzt keine Moralpredigt halten, aber ich bin der Meinung, dass es noch zu früh ist, euch beide alleine in die Stadt zu schicken. Ich muss einfach erst sicher sein, dass ich mich auf dich verlassen kann, Nicki», brachte er mit knirschenden Zähnen raus.

Domenico nickte niedergeschlagen. Vor meinem Vater hatte er unglaublich viel Respekt.

«Paps …», krächzte ich. «Ich … ich bin genauso schuld. Ich wollte ja auch probieren. Nicki hat zuerst sogar versucht, mich davon abzuhalten.»

«Ist das wahr?» Paps suchte Domenicos Blick.

«Weiß nicht», murmelte Domenico, ohne Paps anzusehen. «Ist ja egal. Hätte besser aufpassen müssen.»

Paps seufzte und erhob sich wieder. «Ich muss leider los, um achtzehn Uhr habe ich den nächsten Patienten.»

Nachdem er verschwunden war, ging Mama kurzerhand auf Nicki zu und nahm ihn in die Arme.

«Nimm es nicht allzu schwer, Nicki», tröstete sie. «Das kann passieren. Du weißt ja, Martin sieht immer alles ein bisschen zu überspannt. Wir machen alle Fehler, und du hast es ja nicht absichtlich getan. Nur eines musst du mir versprechen …»

Domenico hob endlich seinen Kopf und löste sich wieder aus Mamas Armen. Er war es eindeutig immer noch nicht gewohnt, dass jemand so viel Verständnis für ihn aufbrachte.

«Du musst mir unbedingt versprechen, dass du zu uns kommst, wenn du wieder in Versuchung gerätst, mit dem Rauchen rückfällig zu werden. Das ist in deinem Fall ganz wichtig, hörst du? Zehn Jahre lang mehr als vierzig Zigaretten täglich – du weißt, was der Arzt gesagt hat. Du könntest irgendwann ein schweres Lungenemphysem bekommen. Das ist dann nicht mehr heilbar.»

«Weiß ich ja», stöhnte er und stand langsam auf. Als ich einen flüchtigen Augenblick die Gelegenheit bekam, in sein Gesicht zu sehen, glaubte ich, etwas Feuchtes in seinen Augen zu erkennen.

«Nicki …» Ich wollte aufstehen und ihn trösten.

«Ich muss los», sagte er rau und wich meiner ausgestreckten Hand aus. «Ach ja …» Er förderte eine zerknüllte Tüte aus seiner Jackentasche zutage und legte sie hastig auf mein Nachtschränkchen. «Kann ich das bei dir lassen? Ich will das nicht in meinem Zimmer aufbewahren, wenn ich weg bin. Alex macht mir die sonst kaputt, das weiß ich genau. Ich darf mein Zimmer ja nicht mehr selber abschließen. Muss den Schlüssel abgeben.»

«Klar!» Ich nahm die Tüte an mich und spähte kurz hinein. Es war alles drin, was ihm wertvoll war: die Kinderfotos aus Sizilien, die kleine Bibel, die ich ihm mal geschenkt hatte, und das Foto von Mingo.

«Und kann ich Carrie vielleicht eure Handynummer geben?» Seine Stimme hatte jeden Klang verloren. «Falls was ist oder so. Damit sie sich an euch wenden kann.»

«Natürlich.» Mama nickte. «Mach das.»

«Okay.» Er reckte mit frostigem Blick sein Kinn in die Höhe und sah dabei noch so unverschämt cool aus. «Ich geh dann mal. Bis in zwei Wochen. Ciao!»

«Warte!», rief ich, doch da hatte er die Tür schon zugeschlagen.

«Lass ihn», seufzte Mama. «Das hat ihn hart getroffen, fürchte ich.»

«Ich wollte mich doch richtig von ihm verabschieden», klagte ich. Mama starrte die Tür an, als könne sie durch sie hindurchsehen.

«Ich glaube, wenn er so drauf ist, lässt er niemanden an sich heran», sagte sie leise. «Dann kannst du nichts erzwingen. Du musst einfach warten, bis er von selbst wieder aus sich herauskommt.» Ihre Augen wanderten von der Tür wieder zu mir zurück, und ich glaubte, einen leichten Anflug von Schmerz in ihnen zu sehen.

«Ich glaube, wenn du nicht ganz, ganz hart zu ihm bist, wird er es schwer haben, seine Nikotinsucht und sein unkontrolliertes Verhalten jemals völlig in den Griff zu kriegen. Er hatte ja keine Mutter, die ihm zeigte, wie man maßvoll mit Genussmitteln umgeht. Wir müssen ihn wirklich unterstützen, wo wir nur können.»

Ich nickte mit schwerem Kopf. Später, als Mama wieder gegangen war, nahm ich die Fotos zur Hand. Noch nie hatte ich so viel Zeit gehabt, diese Bilder ausgiebig zu studieren. Die beiden Zwillinge sahen sich so ähnlich, dass ich sie nicht auf jedem Foto auseinanderhalten konnte. Und nicht mal Nicki selbst schaffte es. Und dann, in diesem kurzen Moment, in dem ich so in den Anblick dieser Fotos vertieft war, konnte ich für ein paar Sekunden die unvorstellbare Pein erahnen, die Nickis Herz Tag für Tag foltern musste, wenn ihn das Bewusstsein überkam, dass sein Zwillingsbruder nie mehr zu ihm zurückkehren würde.

Wie schaffte er es bloß, damit zu leben? Musste man da nicht verrückt werden? Daran zugrunde gehen? Wertete diese traurige Tatsache nicht jeden einzelnen Fortschritt, den er in seinem Leben machte, umso mehr auf?

Würde ich so was an seiner Stelle überhaupt schaffen?

Die Ferien fingen ziemlich langweilig an, und es sah ganz danach aus, als würde sich daran auch nichts ändern. Wahnsinnig spannende Aussichten hatte ich nicht. Nur einen Berg mit Schulbüchern, die darauf warteten, auswendig gelernt zu werden, und zudem ein klaffendes Loch in meinem Herzen, weil ich mich nicht vernünftig von Domenico hatte verabschieden können. Ich hatte ihn am Abend vor seiner Abreise nicht mal mehr im Heim erreicht, weil er sich laut Monikas Aussage in seinem Zimmer verbarrikadiert hatte. Mir blieb somit nur die bange Hoffnung, dass alles gutgehen würde mit seiner Abreise und er sich bald wieder beruhigen und mir ein Lebenszeichen aus dem Feriencamp senden würde. Es beunruhigte mich, dass er in diesem deprimierten Zustand abgereist war, und ich ärgerte mich gewaltig, dass ich vergessen hatte, ihm seine Handynummer abzuluchsen.

Als mir zu allem Überfluss die Tatsache bewusst wurde, dass fast alle meine Freunde verreist waren, da war die Trübsal komplett. Diese miserablen Aussichten ließen mich rastlos im Haus umherwandern, auf der Suche nach irgendeiner sinnvollen Beschäftigung, die nichts mit Schulbüchern zu tun hatte. Ich half Mama ein wenig beim Bearbeiten der Gartenbeete, doch das lenkte nur meine Hände ab. Mein Gehirn rotierte weiter und erfand lauter unheilvolle Geschichten. Als ich bei der Variante angelangt war, dass Nicki aus dem Feriencamp floh und heimlich per Anhalter nach Sizilien abhaute, musste ich mir schließlich eine andere Aufgabe suchen.

Ich verschanzte mich in meinem Zimmer und betete, dass Gott auf Nicki aufpassen solle. Dann verbrachte ich wieder Stunden damit, seine Bilder und Fotos zu analysieren. Zwischendurch googelte ich im Internet nach weiteren Informationen über seinen angeblichen Vater, doch ich wurde keinen Deut schlauer. Ich fand viele Links zu seinen sportlichen Erfolgen, aber keinerlei Angaben zu seinem Privatleben, außer dass er mit seiner Frau und den Kindern in Norwegen lebte. Alles andere schien er vor Medienleuten komplett abgeschottet zu haben. Ob sich da betreffend Geheimniskrämerei die Gleichung anbot: Wie der Vater, so der Sohn? …

Ich begann, die zweite Ferienwoche regelrecht herbeizusehnen. Bei meinen Verwandten würde wenigstens wieder was los sein.

Erst am Mittwochabend wurde ich teilweise aus diesen ungewissen Gedanken erlöst. Genauer gesagt Mittwochnacht. Denn als ich schon in meinem Bett lag und dabei war, ins Reich der Träume zu dämmern, riss mein Handy mich wieder aus dem Schlaf. Ich kannte die Nummer nicht, aber es gab nur eine Person, die fähig war, zu einer solchen Unzeit anzurufen.

«Nicki?»

«Hey, bist du schon im Bett?», wisperte er heiser.

«Ja. Du nicht?» Ich gähnte herzhaft, aber überglücklich, seine Stimme zu hören.

«Nee. Kennst mich ja. Ich hab mich rausgeschlichen. Ey, ich vermiss dich!»

«Ich vermisse dich auch! Die Ferien sind so öde ohne dich.»

«Was hast du denn heute gemacht?»

«Gelernt. Und mich fürchterlich gelangweilt», beklagte ich mich frustriert.

«Du Ärmste. Ich lieg grad hier draußen auf 'ner Wiese und guck in die Sterne. Ist voll schön … ich wünschte, du würdest hier in meinem Arm liegen.»

«Das würde ich zu gern», seufzte ich. Am liebsten wäre ich gleich durchs Telefon in seine Arme gekrochen.

«Ey, ich geh echt kaputt, wenn ich dran denke, dass ich dich erst in eineinhalb Wochen wieder sehe. Mann, wie halt ich das bloß aus?»

«Wie halte ich das aus?», gab ich zurück. Es war offensichtlich, dass er nicht über das reden wollte, was vor seiner Reise abgegangen war. «Aber ist das Feriencamp wenigstens okay?»

Er schwieg erst eine Weile. Ich glaubte schon, die Verbindung sei unterbrochen, als ich ihn plötzlich ein wenig husten hörte.

«Nicki?»

«Ja, geht schon. Hab mich ein bisschen erkältet. War zu lange draußen.» Er zog tief Luft ein. Es klang verdächtig.

«Rauchst du etwa?»

Ein tiefes Seufzen kam aus seiner Brust. «Na ja … ich hab eine oder zwei geraucht heute … mehr nicht, ich schwör's!»

«Bitte versuch stark zu sein. Du weißt genau, was der Arzt gesagt hat.»

«Ja, Süße …» Seine Stimme klang leicht genervt. «Du hast ja Recht. Aber es ist nicht so leicht, die Typen hier auszuhalten. Ich geb mir ja schon voll Mühe, mit den Regeln hier klarzukommen. Ich war heute beim Gruppenturnier sogar Mannschaftskäpt'n, weil der Hauptleiter gemeint hat, dass ich von allen hier am meisten Grips im Schädel hab. Du glaubst nicht, was hier für Knallköpfe rumrennen. Richtige Ex-Knastis.»

«Ich mach mir einfach nur Sorgen um dich», sagte ich leise.

«Brauchst du nicht. Hey, ich hab's schon im Griff, keine Angst. Wann fahrt ihr denn da eigentlich zu deinen Verwandten?», wechselte er abrupt das Thema, bevor ich näher auf das Dilemma eingehen konnte.

«Am Wochenende. Aber du, Nicki, nochmals zurück zu vorhin …»

«Hey, bin schon okay. Ich muss jetzt auflegen. Hab kein Geld mehr drauf.»

«Schon? Soll ich dich zurückrufen?»

«Nee, ich geh jetzt besser mal rein. Möchte keinen Ärger kriegen. Außerdem müssen wir morgen ganz früh raus. Orientierungslauf. Ciao, Principessa, ti amo!»

Und schon war die Verbindung unterbrochen. Ich starrte das Handy an und legte es dann zurück auf mein Nachtschränkchen. Die Leuchtziffern meines Weckers zeigten Punkt Mitternacht. Wenigstens ging es mir jetzt um einiges besser als vorher.

Doch die nächsten Tage stellten mich auf eine sehr harte Geduldsprobe. Da Domenico offensichtlich kaum mehr Geld auf seiner Prepaid-Karte hatte, unternahm ich den Versuch, ihn zurückzurufen. Doch er ging nicht ran. Stattdessen teilte mir nur die monotone Combox-Stimme mit, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Nach etlichen vergeblichen Experimenten mit jeder erdenklichen Tageszeit (einmal sogar um drei Uhr morgens) probierte ich es mit einer SMS, doch auch darauf erhielt ich keine Antwort. Schließlich klagte ich Mama mein Leid.

«Vielleicht hat er sein Handy verloren?», mutmaßte sie ganz praktisch.

«Meinst du?»

«Du kennst ihn doch», schmunzelte sie. «Er ist ja so ein Chaot.»

In der Tat … so was wäre echt typisch Nicki!

«Du kannst ihn ja dann nächsten Mittwoch von Schleswig aus im Heim anrufen. Tante Ruth lässt dich sicher telefonieren», meinte sie.

Ob Mama sich selber keine Sorgen machte, wusste ich nicht. Aber das mit dem verlorenen Handy war zumindest eine plausible Erklärung. Mit diesem Gedanken ließ es sich wenigstens einigermaßen bis Ende der Woche aushalten, bis durch unsere Abreise nach Schleswig endlich wieder Leben in mein tristes Dasein kam. Ich war froh, wenn diese Tortur der Trennung endlich vorbei sein würde.

Als Kind hatte ich meine Ferien oft in Schleswig bei meinen Verwandten verbracht. Meine beiden Cousinen Melanie und Katja waren sozusagen meine besten Freundinnen gewesen. Tante Ruth, Paps' Schwester, war nach der Heirat mit ihrem Mann in die Nähe der Stadt Schleswig gezogen und lebte nun mit ihrer Familie in einem großen Landhaus.

Ich hatte meine Cousinen immer um dieses Landleben beneidet. Denn dort gab es alles, was mein Kinderherz damals begehrt hatte: herrliche Wiesen und den See, in dem man splitternackt baden konnte. Es gab den verschrobenen Bauern nebenan, in dessen Heuschober wir heimlich Verstecken gespielt hatten, und den Wald ganz in der Nähe, wo wir uns Baumhäuser gebaut und verrückte Schnitzeljagden ausgedacht hatten. Und es gab die zwei Pferde, mit denen Melanie und Katja regelmäßig ausritten.

Am schönsten jedoch war es immer gewesen, wenn der Raps geblüht hatte. Oder wenn wir mit Onkel Wilhelm an die Ostsee gefahren waren. Früher war das hier mein Paradies gewesen, und jedes Mal, wenn ich hierher kam, wünschte ich mir, wieder Kind zu sein.

Paps parkte das Auto in der Einfahrt. Ich stieg aus und nahm einen tiefen Atemzug, füllte meine Lungen bis zum Platzen mit der frischen, unverdorbenen Luft. Sofort stellte ich mir Nicki in dieser gesunden Umgebung vor. Bestimmt hätte ihm das gutgetan. Für ihn als Stadtkind wäre das jedenfalls eine ganz neue Erfahrung gewesen.

Tante Ruth und meine beiden Cousinen kamen aus dem Haus gestürmt und nahmen uns überschwänglich in Empfang. Wir hatten uns schon mehr als ein Jahr lang nicht mehr gesehen. Onkel Wilhelm war offenbar noch in Schleswig, um ein paar Sachen zu besorgen.

Melanie und Katja zogen mich sofort in ihr Refugium, während die Erwachsenen sich in der Küche zusammensetzten. Natürlich hatten die beiden Mädels getrennte Zimmer – Melanie war vierzehn und Katja sechzehn, genau wie ich –, aber zum Tratschen machten wir es uns in Katjas Zimmer gemütlich.

Die beiden hatten nicht ganz so heiße News wie ich. Katja war schon fast ein halbes Jahr mit ihrem Freund Björn zusammen, und Melanie redete praktisch von nichts anderem als ihrem Schwarm Flo, doch letztendlich war ich diejenige, die die spannendste Geschichte zu bieten hatte. Das letzte Mal hatten sie sich meinen Herzschmerz über den Abschied von Domenico angehört, als ich noch geglaubt hatte, dass ich ihn niemals mehr wiedersehen würde. Jetzt waren sie umso überraschter, als ich die geheimnisvollste Miene aufsetzte, zu der ich imstande war.

«Wisst ihr, mit wem ich nun zusammen bin?»

«Das ist nicht wahr!», kreischte Melanie. «Doch nicht mit diesem verrückten Jungen, der damals eure ganze Klasse auf den Kopf gestellt hat?»

Ich grinste wie ein Honigkuchenpferd und bereitete mich darauf vor, den ganzen Nachmittag mit Reden zu verbringen. Melanie und Katja hingen gebannt an meinen Lippen, während ich ihnen als Erstes unsere Reise nach Sizilien beschrieb, die ich mit Paps unternommen hatte, um Domenico, die Liebe meines Lebens, wiederzufinden. Darauf folgte das krasse Wiedersehen mit Nicki, das zuerst alles andere als romantisch gewesen war, weil er nämlich in der Zwischenzeit eine andere Freundin gehabt hatte.

Melanie und Katja kriegten sich kaum noch ein, als ich ihnen in den schillerndsten Farben unseren abenteuerlichen Motorrad-Ausflug schilderte, der mit einem Abstecher auf die Polizeiwache geendet hatte. Ich beschrieb ihnen Domenicos wildes Leben mit den anderen Straßenjungs, das Abbruch-Haus, in dem sie gelebt hatten, Nickis oft so zwielichtiges und rätselhaftes Verhalten und das ganze Techtelmechtel mit seiner Freundin Angel. Und schließlich schmückte ich die Stelle ganz besonders aus, als ich die wunderschönen Bilder in Nickis Zimmer gefunden hatte, die er von mir gemalt hatte, dieser heimliche Liebesbeweis, der sich so tief in mein Herz eingepflanzt hatte, dass ich ihn trotz Nickis Fehlern nie mehr aus mir hatte herausreißen können.

Nach dem Abendessen erzählte ich von Mingo; ich machte einen ausgedehnten Abstecher zu seiner hoffnungslosen Situation mit seinen Drogenproblemen, die schlussendlich zu seinem tragischen Tod geführt hatten, nachdem die Brüder wieder nach Deutschland zurückgekehrt waren. Darauf folgte Domenicos Zusammenbruch, bei dessen Schilderung ich einen besonderen Tribut an meine Eltern zollte, die sich so aufopfernd um ihn gekümmert hatten, dass sogar Paps ihn letztendlich ins Herz geschlossen und mir schließlich vorsichtig die Freundschaft mit diesem verwegenen Jungen erlaubt hatte.

Als ich mit der Geschichte zum Ende kam, war es bereits nach Mitternacht. Unsere Eltern schliefen alle schon. Melanie, die verzaubert auf das Foto von Domenico starrte, das ich ihr (trotz der Tintenkleckse und Fettflecken) unter die Nase hielt, fragte ganz hingerissen: «Kann ich Nicki auch mal kennenlernen?»

«Bestimmt», sagte ich. «Ich möchte ihn unbedingt mal hierher mitnehmen.»

Katja, die Vernünftigere der beiden, runzelte hingegen ziemlich kritisch die Stirn. «Meinst du wirklich, dass das gutgeht, Maya? So, wie du das erzählst, klingt das für mich alles ziemlich … unrealistisch. Ein Straßenjunge … ich weiß nicht …»

«Er lebt ja nicht mehr auf der Straße!», verteidigte mich Melanie.

«Schon …» Katja zögerte. Sie wollte mich nicht beleidigen, aber sie hatte nie viel für blauäugige Schwärmereien übrig gehabt.

«Du hast schon Recht», sagte ich ruhig. «Nicki ist ja auch nicht einfach. Aber wir sind beide ineinander verliebt. Warum sollen wir es nicht wenigstens probieren? Wenn es gar nicht geht, dann können wir uns ja immer noch trennen.»

«Jedenfalls klingt es schon spannend», musste Katja zugeben. «Eigentlich solltest du ein Buch darüber schreiben.»

Ein Buch über Domenico und mich schreiben? Der Gedanke entzückte mich irgendwie. Vielleicht war das gar keine so schlechte Idee …