7. SMS an Mingo

Die Zeit verging nun schneller, als ob die Tage auf einmal nur noch halb so viele Stunden hatten. Dennoch konnte ich kaum den Mittwoch abwarten. Ich hatte keine Ahnung, um welche Uhrzeit Domenico zurückkehren würde, doch ich beschloss, dass acht Uhr abends eine gute Zeit war.

Leider lag ich mit meiner Vermutung falsch, denn im Heim meldete sich nur der Anrufbeantworter. Ich probierte es eine halbe Stunde später nochmals und bekam wieder den gleichen Spruch aufgesagt.

Mir blieb also nichts anderes übrig, als mir eine schlaflose Nacht um die Ohren zu schlagen, in der ich mich vor Sorgen zerfleischen würde, warum Nicki denn noch nicht zurück war. Tatsächlich lief es darauf hinaus, dass der Schlaf so meilenweit von mir entfernt blieb, wie Domenico es von mir war. Ich versuchte zu beten, aber die Last der Sorgen drückte mich zentimetertief in die Matratze rein. Allerdings ahnte ich nicht wirklich, dass diese Sorgen diesmal alles andere als unbegründet waren.

Kaum war ich am nächsten Morgen mit dem Frühstück fertig – was keine große Sache gewesen war, weil ich kaum etwas in meinen aufgeregten Magen hatte stopfen können –, zog ich mich nach Tante Ruths Erlaubnis mit dem Telefon in die Diele zurück. Ich wählte die Nummer, und schon nach dem zweiten Klingeln hatte ich Lukas am Apparat.

«Hallo Maya. Gut, dass du anrufst. Wir konnten dich zuhause nicht erreichen.»

Mein Herz schlug so heftig, dass ich es bis in meinen Kehlkopf hinauf spürte. Der ganze Raum um mich herum schien im Rhythmus meines Herzschlags zu pulsieren.

«W-was ist passiert?» Ich würgte beinahe den Frühstückszopf wieder raus. Denn dass etwas passiert war, war an Lukas' Stimmlage eindeutig erkennbar.

«Domenico hat einen ziemlich schweren Absturz gehabt, nachdem er gestern aus dem Lager nach Hause gekommen ist. Wir mussten ihn heute Nacht in die Jugendpsychiatrie einliefern lassen. Er ist regelrecht durchgedreht. Warum, wissen wir leider nicht genau. Er muss offenbar Wahnvorstellungen gehabt haben. Er hat die halbe Nacht neben dem Grab seines Zwillingsbruders geschlafen, und als die Polizei ihn abführte, hat er wie am Spieß gebrüllt. Ich weiß wirklich nicht, was passiert ist. Drogen haben wir jedenfalls keine gefunden in seinem Zimmer. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es unter anderem daran liegt, dass er die letzten Tage offenbar wieder ziemlich Probleme mit der Lunge hatte und deswegen nicht mehr am Sportprogramm teilnehmen konnte. Ich glaube, das hat ihn recht frustriert. Ich wollte dich gestern anrufen, um dir das mitzuteilen, aber ich habe dich wie erwähnt zuhause nicht erreicht.»

Mehrere Sekunden verstrichen, bis die Botschaft von meinen Ohren in mein Bewusstsein rutschte. Als sie dort gelandet war, ließ ein eisiger Schauer meinen Körper und mein Herz erstarren.

«Was?», brachte ich mit letzter Kraft heraus.

«Es tut mir leid. Wir waren auch alle sehr schockiert.»

Die Diele schien sich um ihre eigene Achse zu drehen, und der Hörer fiel mir einfach aus der Hand. Paps stand auf einmal neben mir und fing ihn gerade noch auf.

«Hallo? Guten Tag, Herr Engler. Hier ist Doktor Fischer.»

Melanie nahm meine schweißnasse Hand und zerrte mich wieder in die Küche auf meinen Stuhl, während Paps sich von Lukas offenbar alles nochmals ausführlich erklären ließ.

«Aha … hmm … das klingt aber gar nicht gut … nein, wir sind grad im Urlaub. In Schleswig. Ja, ziemlich weit von hier … tja, was machen wir da … Wie? Ich habe keine Ahnung, nein, er beteuert ja immer, dass er keine Drogen mehr nimmt. Ich hoffe nicht … nein, wir kommen erst Samstag zurück. Gut, ich sage meiner Tochter Bescheid. Vielen Dank für die Auskunft.»

Ich hatte meinen Daumennagel schon fast bis aufs Fleisch abgenagt, als Paps sich wieder zu uns an den Tisch setzte.

«Können wir heute nach Hause fahren?», drängelte ich. «Ich muss sofort zu ihm!»

«Ruhig Blut, Maya», sagte Paps beherrschter, als mir lieb war. «Wir können jetzt auch nichts machen. Er ist bestimmt in guten Händen. Ich möchte meine Ferien nun auch nicht einfach abbrechen.»

«Aber er braucht mich bestimmt!», heulte ich los.

«Maya!» Paps stand energisch auf. «Ich habe so viel für den Jungen getan. Ich möchte jetzt nicht noch auf meine Ferien verzichten müssen, nur weil er wieder irgendeinen Mist gebaut hat!»

Melanie, Katja, Tante Ruth und Onkel Wilhelm sahen mich mitfühlend an, als ich steinerweichend zu schluchzen anfing.

Mama schwieg. Ihr Haar hing ihr wirr und zerzaust in ihr Gesicht, und irgendwie sah sie auch aus wie ein aufgewühlter Teenager, der seiner ersten Liebe nachtrauert.

«Ich … ach!» Paps zerknüllte seine Serviette und stand auf. Er verließ die Küche, drehte eine Runde im Flur und kehrte dann wieder zurück.

«Ach, es hat ja doch keinen Zweck. Es wird mir mal wieder nichts anderes übrig bleiben. Anders kommt mein Fräulein Tochter ja doch nicht zur Ruhe.»

Erneut verschwand er zur Tür hinaus, und nach einem weiteren Rundgang im Flur blieb er schließlich mitten in der Küche stehen. «Aber eines sag ich dir, Maya, das ist das letzte Mal, dass ich das mitmache. Wenn Domenico wirklich Drogen genommen hat und deswegen durchgedreht ist, werde ich ihm aber gründlich die Flötentöne beibringen, das verspreche ich dir. Die Koffer sind bis in einer Stunde gepackt. Punkt zehn Uhr reisen wir ab. Ich will nachher wenigstens nicht in den Feierabendverkehr kommen!»

Ich zerschlug beinahe meine Kaffeetasse, als ich aufsprang und mich Paps dankbar um den Hals warf.

«Aber das ist wirklich das allerletzte Mal!», sagte er streng.

«Soll das etwa heißen, der Freund von Maya ist drogenabhängig?», fragte Tante Ruth ein wenig befremdet.

«Na ja, nicht unbedingt drogenabhängig. Aber ein gewisses Suchtpotenzial ist vorhanden. Wir versuchen ja, ihm ein wenig unter die Arme zu greifen, damit er festen Boden unter die Füße kriegt.»

«Hm. Und …» Tante Ruth druckste ein wenig herum. Offenbar ließ eine gewisse Frage ihr keine Ruhe. Schließlich fasste sie sich ein Herz. «Und du lässt das einfach so zu, Martin? Also … ich persönlich hätte große Probleme, wenn eine meiner Töchter sich mit so einem Jungen abgeben würde. Ich meine, es geht mich ja überhaupt nichts an, aber ich frage mich, ob so was gutgehen kann. Was ist, wenn dieser Junge deine Tochter auf die schiefe Bahn bringt? Ich würde mir große Sorgen machen an deiner Stelle.»

«Nana, das wird schon nicht passieren», brummte Paps. «Die beiden lieben sich halt. Ich kann mich nicht dauernd dagegen sperren. Ich habe ja auch ein gewisses Verständnis für ihn. Außerdem verhält er sich immer sehr anständig, wenn er bei uns ist, das muss ich ihm lassen. Natürlich wäre mir eine andere Freundschaft lieber, aber ich kann Maya ja nicht zwingen.»

Ich knurrte. Ich hasste es, wenn die Erwachsenen über Nicki und mich redeten.

Sie waren natürlich alle traurig, dass wir so abrupt abreisen mussten, doch ich versprach Melanie und Katja, sie per E-Mail auf dem Laufenden zu halten.

Als wir etliche Stunden später zuhause waren, zog ich weder Schuhe noch Jacke aus, sondern raste nur kurz hinauf in mein Zimmer, um Nickis Bibel zu holen. Die Fotos ließ ich in der Schublade; ich fürchtete, dass sie ihn zu sehr durcheinanderbringen würden. Wir hatten vor, kurz einen Abstecher ins Heim zu machen und ein paar Sachen für ihn mitzunehmen, die er bestimmt brauchen konnte. Insgeheim hoffte ich natürlich auch, ein paar Hinweise zu finden.

Lukas händigte uns den Schlüssel aus. «Es ist leider wieder ziemlich chaotisch in seinem Zimmer.»

Es roch nach schaler Zigarettenasche, als wir in den wie üblich abgedunkelten Raum traten. Domenico zog die Jalousien selten ganz hoch. Das Bett war ungemacht, als hätte eben noch jemand darin geschlafen. Das Erste, was ich mir schnappte, war die Metallica-Jacke von Mingo, während Mama die Buntstiftschachtel unter einem Berg Klamotten ausgrub. Nickis Absturz hatte sich offenbar in seinem ganzen Zimmer bemerkbar gemacht.

Fast automatisch wurde meine Aufmerksamkeit von dem silbernen Pokal auf dem Fenstersims angezogen. Ich ging zu ihm hin und warf einen Blick hinein. Tatsächlich – Nicki hatte ihn als Aschenbecher missbraucht. Ich zählte ungefähr fünfzehn Zigarettenstummel.

«Puh!», meinte Mama und setzte sich auf sein Bett. Und da entdeckte ich das Handy auf dem Nachtschränkchen. Es lag da und sah aus, als würde es ein großes Geheimnis in sich bergen. Er hatte es also doch nicht verloren … Ich streckte meine Hand danach aus.

«Maya?» Mama drehte sich zu mir um. «Was könnte er sonst noch brauchen?»

Ich nahm das Handy und schaltete es zögernd ein. Ich hatte Glück. Erstens hatte es keinen PIN-Code, und zweitens war der Akku noch fast voll.

«Maya, ich habe dich was gefragt …»

«Gleich!» Ich klickte mich rasch zur Anrufliste durch.

«Was machst du da, Maya?»

«Ich muss etwas wissen!» Ich hatte mein Ziel erreicht und öffnete die Rubrik «Gewählt».

«Das macht man nicht, Maya. Das ist seine Privatsphäre.»

«Mama, ich …» Ich befürchtete, gleich eine Liste mit mehreren Mädchennamen präsentiert zu bekommen, doch stattdessen erschien mehrere Male untereinander ein einziger Name: Mingo.

Ich runzelte die Stirn. Mingo? Mein Gehirn versuchte, eine logische Erklärung zu finden. Das Handy hatte einst Suleika gehört, vielleicht hatte sie Mingos Nummer immer noch von früher im Speicher gehabt und nie gelöscht. Aber … der letzte Anruf war gestern gewesen, und die anderen Anrufe davor lagen auch alle nur ein paar Tage zurück. Es konnte sich also nicht um eine versehentliche Wahl handeln … Nicki hatte offensichtlich in den letzten Tagen mehrere Male eine Nummer gewählt, die unter dem Namen Mingo abgespeichert war. Ob er noch einen anderen Jungen mit dem Namen Mingo kannte? Ich stand wieder vor einem Puzzle, bei dem ich nicht wusste, welches Teil wohin gehörte. Und über allem stand die Frage, warum er sich denn nie auf meine Anrufe gemeldet hatte.

Ich klickte auf «Kontakt bearbeiten», um die Nummer zu untersuchen. Laut Vorwahl handelte es sich um eine italienische Nummer. Hatte er auf Sizilien vielleicht einen Kumpel namens Mingo gehabt? Stumm reichte ich Mama das Handy. Sie warf einen Blick darauf, runzelte die Stirn und kombinierte offensichtlich blitzschnell.

«Ob das eine echte Nummer ist?» Auch ihre Stimme klang ziemlich stockend. Wir waren beide irgendwie völlig verstört, als ob wir etwas ahnen würden. Ich nahm das Handy wieder an mich. Ich wusste, was ich tun musste. Mein Herz fing an zu rasen, als ich zaudernd die Anruf-Taste drückte. Wer würde sich am anderen Ende melden?

Nach dem fünften Mal hörte ich ein Rauschen, und dann sprach eine Jungenstimme eine paar abgehackte italienische Worte. Sie klang ein bisschen so, als wäre der Sprecher eben erst aufgewacht, ja, sogar fast, als hätte er Schmerzen. Und trotzdem lag etwas erstaunlich Sanftes in der Stimme. Es war eine Stimme, die ich kannte, und mein aufgewühltes Herz stand einige Sekunden still. Das war doch nicht Mingos Stimme, oder?

«Hallo?», sprach ich verwirrt in den Hörer, doch außer einem schwachen Piepton und einem knisternden Rauschen kam nichts mehr. Ich tauschte mit Mama einen Blick. Offenbar sagte mein verblüffter Gesichtsausdruck genug. Mama streckte mir auffordernd die Hand hin, und ich übergab ihr das Handy. Sie drückte auf die Tasten und hielt das Gerät an ihr Ohr. Ihr Gesicht wirkte hochkonzentriert.

«Es klingt wie eine Combox», sagte sie schließlich. «Eine Combox, die nie gelöscht wurde.»

«Du meinst, das könnte tatsächlich Mingos Stimme sein?», fragte ich fassungslos.

«Hat er ein Handy gehabt?», erkundigte sie sich.

«Ja, damals auf Sizilien hatte er eins. Wo er es dann gelassen hat, weiß ich nicht. Vielleicht verloren. Oder für Drogen versetzt. Bei ihm war ja alles möglich …»

«Wie auch immer, offenbar wurde die Combox nie gelöscht.» Mama gab mir das Handy zurück. Ich saß wie vom Donner gerührt da, denn jetzt setzte mein Gehirn die Fragmente mit enormer Geschwindigkeit zusammen: Nicki hatte offenbar Mingos alte Nummer immer noch auswendig gewusst und sie in seinem Handy abgespeichert. Vielleicht hatte er einfach mal prüfen wollen, wer sich am anderen Ende meldete. Dadurch war er auf diese Combox gestoßen und hatte Mingos Stimme erkannt. Vermutlich war er so schockiert gewesen, dass er diese Combox immer wieder abgehört hatte, nur um die Stimme seines toten Bruders zu hören. Dadurch war die Wunde in ihm erneut aufgeschnitten worden und hatte ihn regelrecht in den Wahn getrieben. Oh Mann!

Mama stöhnte auf und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen – anscheinend dachte sie das Gleiche. Ich klickte mit klammen Fingern auf den Tasten rum. Wieso hatte Nicki mir denn nichts davon gesagt?

«Zeig mal seine SMS, Maya!» Auch Mama schien eingesehen zu haben, dass es sich hierbei um einen Notfall handelte, bei dem man gegen die Regeln der «Tabuzone Privatsphäre» verstoßen musste. Ich öffnete die Mailbox, und es gab nicht den geringsten Zweifel: Nicki hatte tatsächlich sogar mehrere SMS an seinen toten Bruder gesandt. Ich las sie eine nach der anderen durch.

Komm zurük bruder senza di te divento pazzo.

Will entlich mit rauchen aufhören. Dove sei mingo. Kom zurük. Bitte. Nic.

Ey ich heul mir einen ab. Tut alles weh. Mi manchi mingo!

Kacke bruder ich hab wieder angefangen zu rauchen. Meine lunge schmerzt. Kan nicht mer sport machen.

Ey habs foll vergeigt mit maya. Ich kanns einfach nicht mit frauen. Bitte kom zurük!

Wortlos legte ich das Handy beiseite, weil meine Augen sich mit Tränen füllten. Das war mehr, als ich verkraften konnte. Wie abgestürzt musste man sein, um seinem toten Bruder SMS zu senden? So sehr, dass es keinen Weg mehr aus dieser Schlucht gab?