In der letzten Maiwoche hatte Bianca Geburtstag. Frau Schütze, ihre Betreuerin, willigte ein, dass Domenico diesen Tag probeweise ohne Aufsicht des Jugendamtes mit ihr zusammen verbringen durfte. Voraussetzung war jedoch, dass meine Mutter als Begleitperson dabei sein würde.
Mama hatte vorgeschlagen, dass wir alle zusammen einen Ausflug in den Zoo machen und auch Patrik und Jenny dazu einladen. Nicki fand das gut, zumal Jenny und Bianca sich aus der Zeit in Sizilien ja ziemlich gut kannten. Und ich war glücklich, mal einen Tag ohne meine blöden Schulbücher verbringen zu dürfen. Natürlich wusste ich, dass ich der Schule und den Lehrern, vor allem Frau Galiani, irgendwie Unrecht tat, wenn ich wegen des Lernens dauernd solche negativen Gedanken hatte. Aber diese vielen Hausaufgaben und meine Gefühle für Nicki passten im Moment einfach zu nullkommanull Prozent zusammen …
Domenico kam schon am frühen Morgen zu uns. Er war zwar noch ziemlich schläfrig, aber dafür recht pünktlich. Allerdings schien mal wieder so ein Tag zu sein, an dem er sein abstoßend cooles Verhalten zur Schau stellte. Ich merkte es schon bei der Begrüßung an seinem verschlossenen Blick. Bei dieser Erkenntnis sank mein Gemütszustand schon mal um ein paar Grad.
Unterwegs zum Auto wollte ich meine Hand in die seine schieben, doch er zog sie wortlos zurück. Alles klar. Mister Universum war heute unberührbar. Ich konnte mich nur an die mickrige Hoffnung klammern, dass sich seine griesgrämige Laune vielleicht im Laufe des Tages legen würde, und ihn bis dahin in Ruhe lassen.
Wir fuhren zuerst ins Heim, um Bianca abzuholen. Sie wartete bereits in der Eingangshalle mit einer ihrer Betreuerinnen. Bianca zu sehen, ließ in mir jedes Mal zwiespältige Gefühle aufkommen. Einerseits, weil das Mädchen genau wie ihr Bruder einfach unheimlich hübsch war. Die dunklen Rehaugen waren hinter einem prachtvollen Schleier rabenschwarzer Haare beinahe verborgen. Sie hatte die gleichen scharf geschnittenen Gesichtszüge wie Domenico: hohe Wangenknochen, schön geschwungene Augenbrauen und ein spitzes Kinn.
Obwohl Bianca erst neun Jahre alt war, ertappte ich in mir jedes Mal einen Anflug von Neid, wenn ich sie sah. Sie sah viel reifer aus. Ich staunte, wie viel Oberweite sie für ihr zartes Alter schon hatte. Wahrscheinlich würde sie schon mit zehn ihre Regel kriegen und bald ihren ersten Freund haben. Das war die andere Seite an ihr, die mich ziemlich ins Grübeln brachte. Außerdem hatte die Kleine eine noch massivere Mauer um sich herum aufgebaut als ihr Bruder.
Domenico, der sich von Biancas abweisendem Blick nicht irritieren ließ, wollte seine Schwester hochheben, stellte jedoch fest, dass das gar nicht mehr so einfach war.
«Ey, du bist ja bald gar keine Piuma mehr!», bemerkte er und stellte sie keuchend wieder auf die Füße. In der Tat, Bianca hatte einiges zugenommen. Wahrscheinlich hatte man sie im Heim ordentlich aufgepäppelt.
Bianca zog Domenicos Kopf zu sich runter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nicki grinste ein bisschen. Ich stand ziemlich verlassen daneben. Was hatten die beiden miteinander zu tuscheln? Ich trat einen Schritt näher auf sie zu und bekam prompt einen eisgekühlten Blick aus ihren pechschwarzen Augen serviert. Domenico sah mich an und stieß seine Schwester in die Seite. «Ey Piuma. Vidi ca a'a far'a brava ccu idda!»
«Hallo Bianca, herzlichen Glückwunsch!», sagte ich schüchtern und reichte ihr mein Geschenk. Ich hatte ein kleines Armkettchen für sie gekauft. Bianca riss es mir ohne ein Dankeschön aus der Hand und warf ihr üppiges Haar zurück, wohl wissend, dass sie viel besser aussah als ich. Domenico schüttelte tadelnd den Kopf und wies seine Schwester mit weiteren italienischen Worten zurecht, die aber offenbar keinen Eindruck auf sie machten.
Auf dem Weg zum Zoo war Domenicos Aufmerksamkeit ausschließlich Bianca gewidmet. Ich verstand es, schließlich war es ihr Geburtstag. Und trotzdem! Nicki hatte noch kaum ein Wort mit mir gewechselt. Und Bianca schien mich aus unerklärlichen Gründen einfach zu hassen.
Wir erkannten Jenny schon von weitem, als wir etwas später den Besucherparkplatz verließen und auf den Zoo-Eingang zusteuerten. Genau genommen hätte man sie unter Tausenden von Menschen sofort erkannt. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie für ihr Leben gern knallbunte Farben trug, hätte ich sie für ein wandelndes Zirkusplakat gehalten. Aber Jennys oberstes Gebot war, dass die Farben unter keinen Umständen zusammenpassen durften. Heute waren es eine pinkfarbene Baseballmütze, violette Ohrringe, ein leuchtend orangefarbenes T-Shirt und ein langer roter Rock. Ihre Füße, die sie im Sommer am liebsten nackt spazieren führte, steckten in dunkelblauen Turnschuhen. Eine ziemlich absurde Kombination, aber sie sorgte immerhin für bessere Laune.
Jenny hüpfte gerade vor einem Plakat mit einem riesigen Schmetterling auf und ab und redete eifrig auf den armen Patrik ein, der neben seiner schrillen Freundin wie eine graue Maus wirkte. Domenico schmunzelte ein bisschen, als er seine alte Kumpanin aus Sizilien erblickte.
«… und wenn er aus dem Kokon rausjeschlüpft is, denn verjisst er, det er mal 'ne hässliche Raupe war!», beendete sie ihren Satz, ehe sie uns entdeckte und wie ein federnder Gummiball auf uns zugestürmt kam.
«Heyho!»
Domenico grinste. «Hi Stupsnase! Da braucht man ja 'ne Sonnenbrille, wenn man dich angucken will.»
«Hey Pirat, allet paletti mit dir?», fragte Jenny mit ihrem Berliner Dialekt und guckte etwas schief zu ihm hoch. Sie wusste natürlich von Patrik, dass Domenico wieder in der Klinik gewesen war.
«Klar doch!» Domenico packte sie und warf sie sich über die Schulter, und Jenny quietschte wie ein Luftballon und strampelte mit ihren winzigen Füßen, bis Domenico sie wieder auf die Erde stellte. Warum war er zu ihr so offen und zu mir nicht? Oder besserte sich seine Stimmung allmählich? Gleich darauf wandte er sich nämlich Patrik zu und diskutierte mit ihm über einen Film, den er sich am Vorabend im Fernsehen angeschaut hatte. Ich schöpfte langsam Hoffnung.
Doch mir blieb keine Zeit, Nickis Laune genauer zu erforschen, denn Mama und ich wurden total von Jenny in Beschlag genommen und durften uns einen ausführlichen Vortrag darüber anhören, was sie gerade in der Schule durchnahm. Sie quasselte uns über Schmetterlinge und Raupen voll, gelangte schließlich zur Fotosynthese der grünen Pflanzen, um uns dann bis in die feinsten Details die Vorteile von vegetarischer Ernährung zu erläutern.
«Ham wir allet in Bio jelernt!», verkündete sie stolz. «Ick hab nämlich beschlossen, von nu an Vejetarierin zu werden!» Sie bückte sich, um ihren offenen Schnürsenkel neu zu binden. Sie schaffte fast alles mit ihrer einzigen Hand. Jenny war nämlich durch einen Geburtsfehler leicht behindert. Ihr zweiter Arm endete in einem traurigen Stumpf; die Hand fehlte. Doch Jenny dachte nicht im Geringsten daran, deswegen deprimiert zu sein. Schließlich hatte sie ja noch ihre Zähne, die sie zu Hilfe nehmen konnte!
Der Tag hatte beschlossen, mir alle möglichen Schikanen in den Weg zu legen. Trotz des eher verhangenen Himmels hatte offenbar die halbe Stadt die Idee gehabt, sich den Nachmittag mit einem Zoobesuch zu vertreiben. Während wir an der Kasse warteten, wurde Nicki prompt wieder von zwei Mädchen angehimmelt, als er gerade so richtig lässig an einer der vielen Plakatsäulen stand und sein Haar in sein Gesicht hängen ließ. Er verzog keine Miene, doch ich glaubte zu sehen, wie er ihnen mit den Augen folgte. Sofort schleuderte ich ihm einen gekränkten Blick entgegen. Er sah es und zog fragend seine Brauen nach oben. Wie bitte? War ihm nicht klar, was ich meinte?
Mama spendierte uns allen die Eintrittskarte. Jenny machte vor Vorfreude ein paar weitere Luftsprünge, warf ihre Arme in die Höhe und hängte sich dann an Patriks Schultern.
«Ick will zu den Affen!», verkündete sie fröhlich.
«Unglaublich, was dieses Mädchen für eine Energie hat», lächelte Mama. «Der arme Patrik!»
Domenico und Bianca blieben hinter uns zurück. Ich wandte mich immer wieder nach ihnen um und versuchte, mit Nicki Augenkontakt aufzunehmen, doch er gewährte mir nur ein paar unergründliche Blicke. Langsam stieg Verzweiflung in mir hoch. Sollte das denn ständig so weitergehen? Dass es nur bestimmte Tage gab, an denen ich Zutritt zu seiner Welt hatte? Wenn er mich wenigstens über seine Seelenverfassung informieren würde. Oder erwartete er von mir, dass ich Gedanken lesen konnte?
Zu meiner großen Überraschung kam er nun allerdings auf mich zu. «Ey, Maya, meine Schwester muss rasch aufs Klo», erklärte er. «Wo soll ich euch nachher treffen?»
«Ich glaube, Jenny will zu den Affen», sagte ich und warf ihm einen besonders eindringlichen Blick zu. «Ich sag den anderen, dass wir im Affenhaus auf euch warten.»
«Okay. Bis später.» Und ohne weitere Bemerkung zog er mit seiner Schwester los. Bianca hatte den Ausschnitt ihrer Bluse über ihre Schulter gleiten lassen und stolzierte kokett an einer Gruppe Jungs vorüber. Ich sah den beiden nach, bis sie verschwunden waren. Nicht mal über sein Verhalten vorhin bei der Kasse hatte er ein Wort verloren. Oder war ihm sein cooles Posieren etwa schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er sich dessen gar nicht bewusst war?
Ich seufzte und kehrte wieder zu den anderen zurück. Mama und Patrik schütteten sich gerade aus vor Lachen, weil Jenny den Watschelgang eines Pinguins imitierte. Schließlich hopste sie Patrik auf den Rücken, und weil er zu langsam reagierte, hatte er Mühe, sie festzuhalten. Mit der Folge, dass Jenny wieder abrutschte und auf ihrem Allerwertesten landete.
«Paaaaaaaaddy!», kreischte sie gespielt empört. «Du musst mich doch festhalten!»
Ich seufzte. Ach, die beiden kamen so toll zurecht! Sie waren so unbeschwert und hatten Spaß miteinander, obwohl sie genauso grundverschieden waren wie Nicki und ich und auch in ihrem Leben nicht alles perfekt lief. Langsam aber sicher ging mir sein kompliziertes Getue ziemlich auf die Nerven.
«Na, Maya?», fragte Mama. «Stimmt etwas nicht? Wo sind Nicki und Bianca?»
«Die sind aufs Klo. Nicki ist mal wieder total komisch drauf», konnte ich mir nicht verkneifen.
«Oh!» Jenny winkte ab. «Kennen wa doch! Nix Neues. Der und seene üblen Launen. Tja, daran musste dir … äh … dich jewöhnen!»
«Ich weiß nicht …»
«Da kommste nich an ihn ran!», versicherte Jenny. «Musst ihn lassen. Gloob mir. Der kann manchmal tagelang so drauf sein. Und dann – schwupps – isser wieder wie'n umgedrehter Handschuh. Mich hat det auch imma jestresst uff Sizilien. Wusstest nie, ob de lachen durftest oder nich. Sogar der Totensch… ääh … Mingo brüllte manchmal rum, dass seen Bruder seene verkackten Launen nich an ihm rauslassen solle. Wobei der ja keen Haar besser war mit seenen blöden Drugs und dem Messer. Na, ick hoff wenigstens, er bleibt dir treu. Angel war der ja nich immer treu … die Arme hat mir manchmal janz schön leidjetan.»
«Tja, wer weiß!», murmelte ich schwermütig.
Jenny, die immer noch außer Rand und Band war, stürmte voran ins Affenhaus und tauchte in der Menge unter. Die tropische Wärme dort drin roch streng nach Tierdung. Wahrscheinlich hätten wir Jenny in dem Getümmel nicht mehr wiedergefunden, wenn nicht ihr fröhliches Lachen alles andere übertönt hätte.
«Kiekt ma … kihihi … der stopft sich 'ne Banane ins Ohr!»
Wir folgten dem Lachen und sahen Jenny in ihren grellen Farben vor der Schimpansen-Anlage stehen. Patrik konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als er seine Freundin sah, und selbst die Leute in ihrem Umkreis amüsierten sich wohl eher über Jenny als über die Affen. Offensichtlich hatte sich auch der Schimpanse mit ihr angefreundet, denn er schaute sie treuherzig an und war tatsächlich konzentriert damit beschäftigt, mit einer Banane im Ohr herumzupulen.
Doch meine größte Sorge galt immer noch Nicki und Bianca.
«Können wir uns vielleicht mal irgendwo gut sichtbar hinstellen, damit sie uns wiederfinden?», nötigte ich die anderen.
«Sind die immer noch nicht zurück?», fragte Mama erstaunt.
«Nein.»
Jenny sah uns mit ihren hellblauen Kulleraugen an. «Hey, nu aba mal im Ernst: Isset echt wahr, dass der Nico mit dem Rauchen uffjehört hat? Ick meen, dat wär ja echt unglooblich, nich?»
«Ja», sagte ich etwas zögernd.
«Boah, wie kommt er klar damit? Hat mich ja fast aus den Socken jehauen, als Paddy mir det erzählt hat! Ick dachte, der kriegt eines Tages Lungenkrebs! Wat der wegjequalmt hat! Echt plemplem! Ham sich immer alle uffjeregt, weil der ständig die Luft verpestet hat!»
«Ich finde es jedenfalls toll, wie er das jetzt durchzieht!», sagte Patrik und sah an sich runter. «Ich wünschte, ich könnte das auch! Abnehmen, meine ich.»
«Ach!» Jenny knuffte Patrik in den Bauch. «Ich mag's lieba kuschelig.»
Patrik wurde rot. «Na ja, wenn ich Pilot werden will, muss ich aber schon noch abnehmen.»
«Ich finde, wir sollten trotzdem mal nachsehen, wo Nicki und Bianca geblieben sind», meinte Mama besorgt. «Vielleicht warten sie ja draußen auf uns.»
«Der is doch bestimmt abjehauen. Wundern tät's mich nich!», sagte Jenny. «Dem Spinner würd ick det zutrauen!»
Sofort kroch Panik in mir hoch. Daran durfte ich gar keinen Gedanken verschwenden!
Wir traten ins Freie, und mein Blick fiel direkt auf ihn. Er stand mit dem Rücken zu mir, halb hinter einem Gebüsch verborgen, das ihm aber nicht genug Deckung bot, um das zu tarnen, was offensichtlich nicht für meine Augen bestimmt sein sollte. Ich sah die blitzschnelle Bewegung, mit der er sich hastig etwas in die Hosentasche schob, und die Mädchengruppe, die auffallend nah an dem Gebüsch vorbeischlenderte, kichernd und beschwingt, als hätten sie sich gerade unsterblich verliebt. Ich wusste natürlich sofort, was da abgegangen war!
«Hey Nico, suchste etwa Nilpferde im Jebüsch?», gackerte Jenny und stob auf ihn zu, doch er quittierte diese Aussage nur mit einem seiner frostigen Blicke. Doch noch frostiger war mein Herz. Es gefror innerhalb von Sekunden auf den absoluten Nullpunkt.
«Nicki, darf ich dich mal was unter vier Augen fragen?» Meine Stimme klang wie aus der Tiefkühltruhe. Er wandte mir sein Gesicht zu und zog fragend die rechte Augenbraue hoch.
«Was hast du vorhin mit diesen Mädchen geredet?», fragte ich grimmig, nachdem wir uns ein paar Meter hinter die anderen abgeseilt hatten. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu schreien.
«Nix. Was soll ich mit denen geredet haben?», erwiderte er genervt. «Ich kenn die halt. Darf ja wohl noch Hallo sagen.»
«Hast du etwa Zigaretten geschnorrt?»
«Wie kommst du denn darauf?» Durch seine schmalen Augenschlitze blitzte und funkelte es.
«Weil du irgendwas in die Hosentasche gesteckt hast!»
Doch da wurde er echt sauer.
«Ey, sag mal, spinnst du? Muss ich dir für jede Bewegung, die ich mache, Rechenschaft abgeben?», grollte er.
Ich wollte gerade zu einer passenden Antwort ansetzen, doch sein kochender Blick verbot mir, den Mund nochmals aufzumachen. An solchen Tagen fasste man Nicki wirklich am besten nicht mal mit einer Kneifzange an, wie Jenny sich mal ausgedrückt hatte.
Vielleicht hätte ich es wenigstens geschafft, meine Tränen zurückzuhalten, wenn sich nicht Bianca plötzlich vor mir aufgebaut und mich mit ihren zornigen, bösen Blicken bombardiert hätte.
«Frag nicht, du dumme strega!» Sie schlug mich einfach mit ihren Händen auf den Bauch, im Takt ihrer Worte. «Lass ihn! Frag nicht! Tu ihm nicht weh!»
«Piuma!» Domenico packte sofort Biancas Hände und hielt sie fest. «Làssala iri!»
Ich schaffte es nicht mehr, mich zu beherrschen. Die ganze Wut und Verzweiflung kullerte in Form von Wasser meine Wangen runter. In Domenicos Augen trat sofort ein bestürzter Ausdruck, und er ließ Bianca wieder los.
«Süße …» Er wischte mir die Tränen mit seinen Daumen weg. «Hey. Ich wollte dir nicht wehtun …»
«Ich finde das nicht lustig», schniefte ich.
«Es … es tut mir echt leid …» Er senkte seinen Blick. In sein Gesicht trat auf einmal die Erschöpfung all der vergangenen Jahre. «Ich … habe nichts mit diesen Mädchen, Maya. Es ist nicht, wie du denkst …»
«Hey, wo bleibt ihr?», rief Jenny fröhlich. «Wir haben Hungeeeeeer!»
Ich holte tief Luft und verzichtete auf eine Antwort.
Domenico blieb an meiner Seite, als wir den anderen ins Selbstbedienungs-Restaurant folgten, doch wir sprachen kein Wort miteinander. Hunger hatte ich überhaupt keinen. Nicki offenbar auch nicht. Er nahm sich nur ein kleines Sandwich. Ich stand ziemlich ratlos vor der Theke und füllte mein Glas mit Fanta, doch statt mich auf den Automaten zu konzentrieren, beobachtete ich Nicki, der sich gerade geduldig von seiner Schwester einen ihrer Ringe über den kleinen Finger streifen ließ.
Und schon passierte es wieder: Meine Hand verfehlte ihr Ziel, und bevor ich wusste, was mir geschah, war alles voll klebriger Fanta. Meine Jacke, meine Hose, mein Pullover – und Domenicos Jeans! Na wunderbar!
«Sorry, Nicki …», murmelte ich.
«Easy», sagte Domenico sanft, nahm ein neues Glas, füllte es mit Fanta und stellte es mir aufs Tablett. «So was hab ich doch früher jeden Tag erlebt.» Er zupfte eine Serviette aus dem Halter und wischte mir umsichtig die klebrige Hand trocken. Als er mit Bianca zur Kasse ging, stand ich wie in Blei gegossen da, unfähig, irgendeinen brauchbaren Gedanken zustande zu kriegen. Es war wohl das Beste, wenn ich meine Gefühle an diesem heutigen Tag einfach erstarren ließ.
Jenny plapperte während des Essens munter drauflos, und ich war froh, dadurch abgelenkt zu sein. Domenico versuchte Bianca die Hälfte von seinem Sandwich anzudrehen, aber die Kleine rümpfte nur die Nase. Die beiden hatten sich in ihre eigene Welt zurückgezogen und beteiligten sich mit keinem Wort an der Unterhaltung. Kaum waren sie halbwegs fertig mit Essen, verließen sie ohne weitere Erklärung den Tisch und verzogen sich schon wieder Richtung Toilette.
«Mach dir mal kein Kopp draus, Maya», versuchte Jenny treuherzig, mich zu trösten. «Der wird schon wieda. Lass ihn am besten in Ruhe!»
«Bianca scheint ihm sehr viel abzuverlangen», meinte Mama nachdenklich.
«Det is 'ne Jöre, sag ick euch!» Jenny verdrehte die Augen. «Die raucht ja ooch schon und liest Bravo-Zeitschriften und so. Und macht dauernd Jungs an. Hat se wohl von ihrm Bruder! Uff Sizilien isse imma bauchfrei und mit 'nem Piercing im Nabel rumjerannt. Ick gloob, die hat auch schon mit 'nem Jungen rumjefummelt, aber sicha bin ick nich. Die Zwillinge ham se auch einmal inne Disco rinjeschmuggelt, weil se unbedingt mitjehen wollte, aba dort isse dann vonner Polizei rausjeworfen worden. Ick meen, zieht euch det mal rinn! Die war damals erst acht!»
«Ja, Frau Schütze hat mir auch gesagt, dass das Kind abnormal frühreif ist», sagte Mama. «Wahrscheinlich wurde sie durch ihr Leben regelrecht dazu gezwungen, genau wie Nicki. Frau Schütze meint auch, dass Bianca sich vermutlich insgeheim nach ihrer Mutter sehnt. Das könnte der Grund sein, warum sie sich ähnlich wie ihre Mutter stylt.»
«Meinste?» Jenny riss ihre Kulleraugen auf.
«Das vermutet jedenfalls der Kinderpsychologe. Bianca hat auch Bilder gemalt, auf denen immer wieder ihre Mutter drauf ist. Aber Leute: Bitte kein Wort davon zu Domenico, ja? Jenny, versprichst du mir das?»
«Klar. Piratenehrenwort. Oder meinste, ick will, dass der Nico ausrastet? Nee, nee, ick kann schon schweigen, wenn et sein muss.»
«Gut. Aber Jenny, da du ja Bianca ein bisschen besser kennst als wir: Gibt es einen Trick, wie man sie zum Reden kriegt?»
«Pfff …» Jenny gluckste. «Die redet nur, wenn se will. Wenn du et versuchst, dann sagt se extra nix. Aba ick quassel dann eenfach doppelt so viel drufflos. Dann muss se gar nix sagen. Dann isse zufrieden, und ick ooch!» Sie grinste.
Ach ja, ich beneidete Jenny um ihre Gabe, alles immer so easy zu nehmen. Patrik schmunzelte ebenfalls:
«Na ja, ich b-brauche ja meistens auch nicht v-viel zu reden.»
«Paddy, mein Schatz!» Jenny warf sich ihm um den Hals und übersäte ihn mit Küsschen. «Du bist der Allerbeste!»
Ich musste trotz allem lachen. Ein komischeres Paar als Jenny und Patrik hatte ich echt noch nie gesehen!
Nach etwa zehn Minuten schaute ich ungeduldig auf die Uhr. «Wo bleiben die bloß?»
«Ach, det is doch ma wieda typisch. Komm, der is doch am Qualmen auffer Toilette!», winkte Jenny ab. «Kannst mir doch nich erzählen, dass der det jemals schafft uffzuhörn.»
«Ich g-glaube daran, d-dass er es schafft.» Patrik sah uns mit festem Blick an. «N-nicki ist stark.»
Ich schob die Unterlippe vor. Hatte ich auch so viel Glauben an Nicki? Ich verschob die Antwort auf später und stand kurz entschlossen auf.
«Ich gehe mal nachgucken!» Und schon jagte ich den Pfeilen Richtung Toilette nach. Kurz vor dem Ziel wurde ich durch einen welterschütternden Schrei gebremst, der gellend durch den Flur hallte. Das furchtbare Kreischen kam direkt aus der Damentoilette. Es war eine Mädchenstimme, und sie heulte wie eine Sirene.
Ich öffnete leise die Tür und trat langsam ein.
Domenico kniete mitten auf den Fliesen und hielt seine wimmernde Schwester fest in seinen Armen. Er scherte sich überhaupt nicht um die empörten und verwirrten Blicke der Frauen, die gerade beim Händewaschen waren.
«Kann ich helfen?», fragte ich zögernd.
Domenico schaute zu mir hoch. Die langen Haarsträhnen fielen mitten in sein Gesicht. Sofort stieg mir der unverkennbare Geruch nach einer eben gerauchten Zigarette in die Nase. Ich biss mir auf die Unterlippe.
Bianca schluchzte immer noch. Domenico streichelte ihr liebevoll das Haar. «Schscht. Andrà tutto bene, Piuma. Rimango da te. Er kann dir nie mehr was tun.»
«Was ist passiert?», erkundigte ich mich scheu.
«Die Klotür ging nicht mehr auf», erklärte Domenico. «Sie hatte 'ne Panikattacke. Ihr Alter hat sie manchmal tagelang im Keller eingesperrt. Manchmal ohne Essen. Und hat dann der Schule einfach gemeldet, sie sei krank.»
«Oh Mann, echt?» Ich war richtig schockiert.
«Mingo und ich haben sie da mal rausgeholt. Weil wir genau wussten, dass der so was macht. Wir haben ihm den Schlüssel geklaut und sie befreit.» Der leise Tonfall, den Domenico anschlug, klang, als würden Eiskristalle auf den blanken Bodenfliesen zerschellen.
«Aber warum hat man da nie was unternommen? Warum hat das Jugendamt nicht reagiert?» Ich kauerte mich zu Domenico und Bianca hinunter.
«Weil er sie alle hinters Licht geführt hat.» Der blanke Hass auf seinen Ex-Stiefvater blitzte in seinen Augen auf, gefährlicher als eine Felskluft, die sich auftat, um jeden zu verschlingen, der sich an Bianca vergreifen würde. Ich schaute schnell weg, weil ich diesen Blick nicht ertrug. Er machte mir echt Angst.
Domenico drückte seine Schwester schützend an seine Brust. «Verstehst du jetzt, warum die Kleine so ist?»
Ich nickte zögernd. Ich streckte vorsichtig meine Hand aus, um Biancas wunderschönes Seidenhaar zu berühren. Doch er riss meine Hand blitzschnell weg.
«Fass sie nicht an!»
Ich kniff meine Lippen fest zusammen. Auf einmal stand Mama in der Tür.
«Wo bleibt ihr denn? Wir müssen los. Wir sollen Bianca doch um fünf Uhr abliefern. Was ist denn passiert?»
Domenico erklärte es ihr kurz. Mamas Gesicht war schwer zu deuten. Sie blieb ruhig, als wir zu den anderen zurückgingen. Bianca hing wie ein kleines Mädchen in Domenicos Arm.
Die Verabschiedung später beim Parkplatz fiel nicht sehr gesprächig aus. Sogar Jenny war um Worte verlegen. Als wir ins Auto stiegen, bettete Domenico Bianca auf seinen Schoß. Er redete erst wieder mit uns, nachdem wir seine Schwester im Heim abgeliefert hatten.
«Wenn die Bianca zu diesem Dreckskerl zurückschicken, dann knallt's aber echt!», grollte er und ballte so wütend die Fäuste, dass die Knöchel weiß hervortraten.
«Das werden sie nicht machen», beruhigte ihn Mama.
Er zitterte nun am ganzen Körper. Irgendetwas in ihm war kurz davor zu explodieren.
«Ich mein, er hat sie misshandelt! Und uns hat er mit 'nem Gürtel durchgehauen, damit wir die Klappe halten und keinem erzählen, dass er mit Drogen und Pornos gehandelt hat! Ich könnte bei der Polizei glatt Anzeige gegen den erstatten, versteht ihr? Ich könnte den voll fertigmachen!»
«Nicki, das musst du alles, alles dem Jugendamt sagen, ja?», sagte Mama ruhig. «Mach dir keine Sorgen. Bianca wird nicht zu ihm zurückgeschickt.»
Mama parkte in der Einfahrt und ließ uns aussteigen. Domenico hatte die Hände in die Jackentasche gesteckt und ging mit gesenktem Kopf vor mir her. Ich holte ihn ein. Er blieb stehen und schaute hoch; sein Blick wirkte gehetzt, als wäre er auf der Flucht.
«Ich geh jetzt gleich los. Muss um sechs im Heim sein.»
«Nur kurz. Was … habe ich mit deiner Schwester falsch gemacht?»
Er sah mich an. «Nichts.»
«Aber was hat sie denn gegen mich?»
«Ist dir das nicht klar? Sie ist eifersüchtig.»
«Eifersüchtig!» Ich schnappte nach Luft. «Warum?»
«Weil sie außer mir niemanden hat, ist doch logo. Mingo ist ja tot.» Er zuckte wütend mit den Schultern, drehte mir den Rücken zu und schob seine Hände in die Jackentaschen.
«Du … hast vorhin auf dem Klo geraucht, was?», fragte ich leise. Er wandte sich wieder um und schoss einen lodernden Blick auf mich ab.
«Ey, krieg dich wieder ein, Süße!»
«Du könntest wenigstens ehrlich sein», zischte ich.
«Ey, ich hab nicht geraucht, capito? Hör auf mit dem Blödsinn! Außerdem hab ich jetzt ganz andere Sorgen.» Seine Augen drohten mir regelrecht, so dass ich ins Schwanken kam. Ich senkte den Kopf und wusste nichts mehr darauf zu erwidern.