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2. Kapitel

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... Tiefliegende Wolken verdeckten die Sonne. Aus westlicher Richtung wehte ein leichter Wind, und das unruhige Wasser der Bucht war gekräuselt.

Der Zug erreichte die kaum benutzte Bahnstation Tiburon, einen kleinen Jachthafen gegenüber von San Francisco. Auf dem Bahnsteig standen mit Gewehren bewaffnete Beamte der Bahnpolizei und des Justizministeriums. Die wenigen Neugierigen wurden schnell abgedrängt.

Der Zug, der nur aus einer Lokomotive und zwei Personenwagen bestand, hielt.

Bei den Waggons handelte es sich allerdings nicht um normale Personenwagen. Die Fenster wurden durch Stahlverstrebungen und Gitter gesichert, die Böden extra mit Eisenblech verstärkt. In Drahtgitterkabinen zu beiden Seiten der Ausgänge standen bewaffnete Posten.

Es handelte sich um einen Gefangenentransport.

An der Kaimauer hatte eine kleinere Eisenbahnfähre festgemacht.

Die Gefangenenwaggons wurden auf die Fähre rangiert, die sich gleich darauf vom Ufer löste. Ein Küstenwachschiff begleitete die Fähre. Hinter der Reling sah man bewaffnete Posten.

Das Ziel lag auf der anderen Seite der Bucht und war in dem leichten Dunst, der über dem Wasser lag, noch nicht auszumachen. Die Häftlinge hätten ohnehin nichts gesehen, denn aus den gesicherten und verriegelten Fenstern war nichts zu erkennen.

Sie kannten allerdings das Ziel, und schon der Name hatte sich wie ein beklemmender Ring um ihre Brust gelegt. Sie schwiegen. Die Wächter hätten allerdings sowieso jeden Sprechversuch unterbunden.

Sie waren siebenunddreißig.

Siebenunddreißig als unverbesserlich eingestufte Schwerverbrecher. Sie wussten alle, dass sie kaum noch eine Chance hatten, und sie nahmen es mit äußerlicher Gelassenheit hin. Für die meisten war es nicht der erste Gefängnisaufenthalt, aber wahrscheinlich ihr letzter. Denn es waren ausnahmslos Lebenslängliche.

Einer der Häftlinge war erst neunzehn Jahre alt. Auch er hatte lebenslänglich bekommen, und als ihm klar wurde, was dies bedeutete, dass er – kaum erwachsen – nie wieder frei sein würde, begann sich sein Verstand zu ändern. Langsam und unmerklich. Sie würden ihn nie zerbrechen. Irgendwann würde er hier herauskommen und sich rächen, an allen, die dafür verantwortlich waren.

Hier hatte er nur eine Nummer, und langsam begann er auch seinen Namen zu vergessen: Tonio Murano, wegen Mordes zu lebenslänglich verurteilt.

Die leicht stampfende Fähre hielt ihren Kurs, und allmählich tauchte aus dem Dunst das Ziel auf. Eine kleine Insel, nicht größer als fünf Hektar, die bis zu einer Höhe von vierzig Metern über der Bucht von San Francisco aufragt.

Sie lag etwa in nördlicher Richtung des Telegraph Hill von San Francisco und südlich von Angel Island. Wenn man aus Richtung Berkeley über die Bucht kam, konnte man hinter der Insel die Golden Gate Bridge erkennen.

Der Name der kleinen Insel sollte im Verlauf weniger Jahre einen düsteren Klang bekommen.

Alcatraz!

Hier befand sich das sicherste Gefängnis der Welt. Die nächste Entfernung zur Küste betrug gut zwei Meilen, und durch die reißende Strömung schwimmend hinüberzugelangen, war praktisch unmöglich.

Alcatraz – der Name rührte von den spanischen Entdeckern her, die die Insel Isla de los Alcatraces – Insel der Pelikane – genannt hatten. An sechs Punkten, von denen aus jeder Meter der Insel zu übersehen war, ragten jetzt Wachttürme auf, bestückt mit Maschinengewehren. Ein fast vier Meter hoher Zaun, oben noch mit Stacheldraht geschützt, umgab den Arbeitstrakt. Stacheldrahtbarrieren säumten auch das Ufer. Alle Siele und Rohrleitungen, die ins Wasser mündeten, waren abgedichtet worden. Man hatte alles getan, um eine Flucht unmöglich zu machen.

Die Häftlinge auf der Fähre wussten das. Und sie wussten auch, dass bisher noch keinem Gefangenen die Flucht geglückt war.

Als die Fähre gegen die Kaimauer von Alcatraz stieß, lösten die Wärter die Fußfesseln der Gefangenen, die Handschellen blieben geschlossen. Je zwei und zwei stolperten die Häftlinge aufs Festland, mit geschwollenen Gelenken und steifen Muskeln von der langen Bahnfahrt. Zwischen zwei Reihen Wächtern marschierten sie die steile Straße empor, die sich zur Spitze der Insel hinaufwand.

Die Wächter hatten steinerne Mienen und betrachteten die Häftlinge mit abschätzenden Blicken, als würden sie im Geiste prüfen, ob bei den Neuen Schwierigkeiten zu erwarten waren.

Tonio Murano befand sich ziemlich weit vorn, in der dritten Reihe. Zu zweit ging es dann zum Direktor, der sich alle Neuen sofort ansah. Tonio wartete apathisch, bis er an die Reihe kam.

Ein Wärter nahm ihm und seinem Gefährten die Handschellen ab und führte sie zu einem Schreibtisch am Hintereingang des Gefängnisses. Der Begleiter des Transportes reichte dem Direktor die Haftpapiere, der sie kurz musterte und mit einer Kennnummer versah. Immer noch war kein Wort gesprochen worden.

Der Direktor stutzte, als er Tonios Papiere erhielt. Er sah auf und starrte lange auf den Gefangenen. „Sie sind noch sehr jung“, sagte er schließlich.

Tonio antwortete nicht. Was sollte er auch sagen? Er kniff die Lippen zusammen und versuchte dem Blick des Direktors zu begegnen.

„Der Nächste“, sagte der Direktor, und Tonio Murano war eine Nummer in Alcatraz.