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10. Kapitel

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Steve McCoy zögerte einen Moment, bevor er die Tür aufdrückte. Aus der Bar schlug ihm eine Wolke von Alkohol, Tabakqualm und abgestandener Luft entgegen. Angewidert verzog er die Nase.

Es war noch früh am Abend, und das Lokal war noch nicht sonderlich gut besucht. Die Gegend, in der es lag, gehörte nicht gerade zu den schönsten Ecken von Chicago. Steve fühlte sich an Harlem erinnert, wo man am besten die Scheiben hochkurbelte, wenn man mit dem Wagen durchfuhr. Hier war es ähnlich.

Einige Köpfe drehten sich zu ihm herum, als ein leichter Luftzug ankündigte, dass ein neuer Gast eintrat. Manche musterten ihn, bis er die Theke erreicht hatte, wo er sich auf einen freien Hocker schob. Als er sich um niemanden zu kümmern schien, wurden die Gespräche, die bei seinem Eintreten verstummt waren, langsam wieder aufgenommen. Der Barkeeper schlurfte auf ihn zu und wischte mit einem dreckigen Lappen flüchtig über den Tresen. „Was darf’s denn sein?“

„Eine Cola“, sagte Steve leise. „Mit Eis und Zitrone, wenn das möglich ist.“

Der Barkeeper unterbrach seine Wischerei und nahm Steve näher in Augenschein. „Habe ich richtig gehört?“, erkundigte er sich. „Eine Cola?“

„Sagte ich doch.“

Der Keeper schüttelte den Kopf. „So einen Wunsch habe ich lange nicht mehr gehört. Sie wollen wirklich nicht irgendetwas zu der Cola haben? Einen Rum vielleicht?“

Steve schüttelte den Kopf. „Pur.“

Der Keeper legte seine Stirn in Falten. „Ich weiß nicht, ob das geht. Dies hier ist ein Nachtklub. Mit Mindestverzehr. Ich glaube, Sie sollten einen Rum dazu bestellen.“

Steve stützte sich auf den Tresen. „Hören Sie, dies ist ein ganz gewöhnliches Lokal. Von einem Mindestverzehr steht draußen nichts angeschrieben. Sie wollen doch Ihre Lizenz nicht verlieren? Ich habe ruhig und höflich eine Cola bestellt, und die will ich jetzt haben.“

Der Keeper grinste. „Hoffentlich habe ich noch welche. Mein Lieferant ist überfällig.“ Er beugte sich nach unten und öffnete eine Klappe. Ächzend kam er wieder hoch. „Tatsächlich. Nicht eine Cola mehr da! Tut mir leid.“

Steve öffnete gerade den Mund, als sich zwei Hocker weiter ein anderer Gast einmischte. „Hey, gib mir mal ’ne neue Cola. Die hier ist schon warm!“ Dabei grinste er frech zu Steve herüber.

„Sofort“, sagte der Keeper und förderte eine Colaflasche zutage, die er geschickt öffnete und vor den anderen Mann hinstellte.

Steve hatte schon längst begriffen, dass man ihn provozieren wollte. Er sah aus wie der salopp gekleidete liebe Junge aus der Provinz, und die Männer dachten, dass sie sich mit ihm einen kleinen Spaß erlauben konnten, der etwas Abwechslung in den langweiligen Abend brachte. Schließlich konnten sie nicht wissen, wer Steve wirklich war. Es gehörte zu seiner Tarnung, dass man ihn unterschätzte.

Er hatte in den ihm zur Verfügung gestellten Unterlagen gelesen, dass hier einer der Haupttreffpunkte von Fiscettis Leuten war. Einige seiner Leibwächter und Unterführer hatten das Lokal zu ihrer Stammkneipe erkoren. Steve hatte sich die Fotos der einschlägigen Typen angesehen. Der Mann neben ihm gehörte dazu. Zwar konnte er sich an den Namen nicht erinnern, aber das war auch nicht so wichtig.

Eigentlich hatte er keinen besonderen Grund gehabt, hierher zu kommen, aber irgendwo musste er schließlich anfangen. Warum also nicht hier?

„Sie haben also doch Cola“, sagte Steve langsam und tat so, als ob ihn das ziemlich verwunderte.

„Sie sind ein ziemlich hartnäckiger Typ“, meinte der Keeper giftig. „Ich habe Ihnen doch eben erklärt, dass ich keine Cola habe. Wollen Sie mich zum Lügner stempeln?“

„Wenn Sie so direkt fragen: Ja.“ Der Keeper lief rot an, stieß einen Wutschrei aus und versuchte, mit beiden Armen über den Tresen zu langen, um Steve am Hals zu erwischen. Steve wich ohne Anstrengung aus und fegte die Arme mit einer lässigen Bewegung zur Seite.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Der Nachbar war herangekommen. „Wir mögen es nicht gerne, wenn ein Fremder hereinkommt und in unserem Lokal eine Prügelei anfängt – noch dazu mit dem Wirt, der ja schließlich unser Bier zapfen soll.“

„Sie wissen genau, dass ich nicht angefangen habe“, antwortete Steve.

Der andere blies Steve seinen Atem ins Gesicht. Er war etwa ebenso groß, aber mindestens um die Hälfte schwerer als Steve. Und es war kein Fett, was er am Körper hatte, sondern Muskelpakete. „Das Bürschchen wird frech“, zischte er und holte aus.

Steve duckte sich ab, und der Schwinger ging ins Leere. Blitzschnell rutschte Steve von seinem Hocker und riss den Fuß hoch. Sein Gegner jaulte auf und taumelte zwei Schritte zurück. Die anderen Gäste waren inzwischen aufmerksam geworden und würzten das Geschehen mit Kommentaren.

Steve warf einen raschen Blick in die Runde, aber niemand machte Anstalten einzugreifen.

„Bisschen langsam, was?“, fragte einer der Gäste hämisch.

Steves Gegner grunzte und griff wieder an. Er war trainiert, aber zu schwerfällig. Einer der Typen, die ihre Gegner mit Masse erdrücken. Schnellen Auseinandersetzungen mit allen möglichen Tricks war er nicht gewachsen.

Steve ließ den Mann wieder ins Leere laufen und versetzte ihm einen ziemlich schmerzhaften Schlag mit der Handkante.

Der andere brüllte auf und wollte erneut losstürzen, als ihn eine scharfe Stimme bremste: „Schluss jetzt!“

Steve wandte sich um. In der Tür stand ein elegant gekleideter Mann, ebenso groß wie er selbst, etwa Ende Dreißig. Sein Anzug war maßgeschneidert, die Schuhe handgenäht, die seidene Designerkrawatte der neueste Look. Seine kalten Augen streiften über das Lokal, dann kam er langsam näher.

Die Gespräche waren verstummt, und die anderen Gäste verzogen sich wieder in ihre Ecken. Steves Gegner hatte sofort die Fäuste sinken lassen, als er die Stimme hörte. Er starrte den Näherkommenden ängstlich an und wischte sich fahrig den Schweiß von der Stirn.

Steve kletterte auf seinen Hocker und sagte zu dem Wirt, der ebenfalls ängstlich auf den Mann starrte: „Eine Cola, bitte.“

Der Keeper warf ihm einen mörderischen Blick zu und knallte endlich die bestellte Flasche auf den Tresen. Steve lächelte und goss die dunkle Flüssigkeit in sein Glas.

Er trank ruhig, ohne den Blick zu wenden, obwohl er spürte, dass der Neuankömmling neben ihm stand und ihn aufmerksam musterte. Der Schlägertyp hatte sich ein Stück zurückgezogen. Es war klar, dass es sich bei dem Eleganten um einen wichtigen Mann handeln musste – und um einen gefährlichen.

„Das war eine hübsche Vorstellung“, sagte die kalte Stimme. „Unser Johnny lässt sich üblicherweise nicht verprügeln.“

Steve drehte langsam den Kopf und setzte sein Glas ab. „Ich bin nicht hergekommen, um mich zu prügeln. Ich wollte nur ein Glas trinken. Ich wollte mich außerdem nicht unterhalten, weil ich nachdenken will. Eben habe ich es geschafft, mein Glas zu bekommen, und jetzt werde ich schon wieder gestört. Ich habe es nämlich auch nicht gerne, wenn man mich von der Seite ungefragt anquatscht.“

Der Elegante runzelte die Stirn. „Es kommt selten vor, dass jemand so mit mir spricht“, entgegnete er heiser. „Einmal ist immer das erste Mal. Sehen Sie sich vor. Sie scheinen keine Ahnung zu haben, wo Sie sich befinden und mit wem Sie es hier zu tun haben.“

Steve zuckte die Achseln. „Dies ist Chicago und eine viertklassige Kneipe, die dringend mal gelüftet werden müsste. Normalerweise verkehre ich nicht in solchen Etablissements, wo der Putz schon von der Decke fällt und wo die Gäste aussehen, als gehörten sie ins Zuchthaus.“ Der Elegante lächelte. „Damit haben Sie nicht mal Unrecht. Sie sind ein mutiger Mann. Woher kommen Sie?“

Steve machte eine abwehrende Handbewegung. Der andere hatte angebissen und wurde neugierig. Es war zwar noch nicht abzusehen, ob das irgendetwas half, aber Steve hatte im Augenblick keine andere Möglichkeit, seinen Fall weiterzuverfolgen. „Ich komme von der Ostküste. Früher habe ich allerdings in Kalifornien gelebt, da ist das Klima wesentlich gesünder.“

„Und warum sind Sie weggegangen?“

„Weil es klimatische Bedingungen gibt, die nicht unbedingt vom Wetter abhängen.“

„Verstehe. Sie wollen ein wenig aus dem Rampenlicht verschwinden. Ich kenne Ihre Sorte. Mir können Sie nichts vormachen. Sie haben keinen richtigen Beruf, das sieht ein Blinder. Wovon leben Sie also? Ich will es Ihnen sagen: von der Arbeit anderer Leute. Sind Sie Spieler oder so etwas?“

Steve grinste. „Selbst wenn es so wäre, was ginge Sie das an?“

Der andere grinste zurück. „Es gibt immer jemanden, der für Leute wie Sie Verwendung hat. Ich habe Sie vorhin beobachtet. Sie kämpfen mit Geist, nicht so wie diese hirnlosen Schlägertypen. Falls Sie im Augenblick nichts zu tun haben, könnte ich Ihnen sicher einen Job vermitteln.“

„Sind Sie vom Arbeitsamt?“

„Machen Sie sich nicht lustig. Sie wissen genau, was ich meine.“

Steve nickte. „Na klar, Sie brauchen dringend gute Leute, weil man einen der großen Bosse abgeknallt hat. Sie fürchten, jetzt gibt es Krieg. Und ab sofort sind die Rekrutierungsbüros geöffnet – vor allem für Leute, die die andere Seite noch nicht kennt. Nein, ich glaube, das ist nichts für mich.“

Das Gesicht des Eleganten hatte sich verdüstert. „Ich wusste, dass Sie ein intelligenter Mensch sind, aber wer hat Ihnen denn diesen Blödsinn erzählt? Ein Bandenkrieg in Chicago? Nur weil es einen Toten gegeben hat, wie es alle Tage vorkommt? Der Tote war ein ganz normaler Bürger. Was hat er mit Banden zu tun?“

Steve grinste noch stärker. „Sie sollten es mal beim Theater versuchen. Solche ausdrucksstarken Charakterrollen werden immer wieder verlangt. Ich kenne mich ein bisschen in der Branche aus. Ich weiß genau, wer Fiscetti war. Und selbst wenn Sie von der anderen Seite sind, das ist nichts für mich. Ich habe keine Lust, mich für ein Trinkgeld abknallen zu lassen.“

Der andere schüttelte den Kopf. „Es wird keinen Krieg geben. Wir wüssten ja nicht mal, gegen wen.“ Er zog eine Karte aus seiner Tasche und drückte sie Steve in die Hand. „Wenn Sie es sich doch noch überlegen sollten, kommen Sie zu dieser Adresse. Man wird Ihnen weiterhelfen.“

Steve studierte die Karte und steckte sie ein. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie der Elegante einem anderen Mann im Hintergrund des Lokals ein unauffälliges Zeichen gab. Steve wusste, was es bedeutete. Man würde ihn beschatten, um herauszufinden, wer er war. Er hatte sich absichtlich so weit vorgewagt, um das Interesse der anderen Seite zu erregen. Sie würden auf jeden Fall wissen wollen, wer dieser Mann war, der so zutreffende Ansichten über die augenblickliche Lage in Chicago zum Besten gab.

Der Elegante tippte an seinen Hut. „Vielleicht sehen wir uns wieder, Mister.“

Steve wartete noch drei Minuten, nachdem der andere verschwunden war, dann warf er eine Münze auf den Tresen und kletterte vom Hocker. Im Vorbeigehen merkte er sich das Gesicht des Mannes, dem der Elegante ein Zeichen gegeben hatte.

Als Steve in der Tür stand, sah er, wie der Kerl austrank und sich ebenfalls erhob. Er ging nach draußen und schlenderte ohne große Eile die Straße entlang. Er wollte dem anderen die Verfolgung nicht zu schwer machen. Noch nicht.