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15. Kapitel

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... Tonio Murano hob die Hand und gab das vereinbarte Zeichen. Frank und Cliff kamen aus ihrer Deckung gerannt und warfen sich neben ihm in den Staub. Sie atmeten heftig, was weniger auf die Anstrengung als auf die Aufregung zurückzuführen war.

Sie hatten den Ausbruch lange geplant und alles hin und her überlegt.

Jetzt war es zu spät. Sie hatten den Anfang gemacht und das erste Hindernis überwunden. Ab jetzt waren sie vogelfrei. Sobald es Alarm gab, mussten sie damit rechnen, dass ein Wächter auf sie schoss, ohne dass er sich lange mit Warnrufen aufhielt.

Tonio war der Rädelsführer gewesen. Er hatte lange gebraucht, bis er zwei weitere Gefangene dazu überredet hatte, mit ihm einen Ausbruch zu wagen. Jeder in Alcatraz wusste, wie gefährlich es war. Und jeder wusste auch, dass es noch keinem gelungen war. Nicht umsonst war dies das sicherste Gefängnis der Welt.

Tonio hatte sich jedoch davon nicht abschrecken lassen. Er war noch jung und wollte nicht hinter Gittern versauern. Die meisten der Berufsverbrecher, die hier saßen, waren älter als er. Sie riskierten keinen Ausbruch, dessen Chancen ihnen zu gering schienen. Sie versuchten es lieber mit juristischen Mitteln, obwohl auch da die Erfolgschancen nicht gerade rosig waren. Es gab ab und zu eine Meuterei, um die Arbeitsbedingungen im Gefängnis zu verbessern, und hin und wieder wurde auch ein Wächter tätlich angegriffen, aber diese Art von Widerstand wurde schnell gebrochen.

Tonio Murano wollte das Unmögliche möglich machen. Schließlich fand er zwei Mithäftlinge, die einen Ausbruchsversuch riskieren wollten. Sie waren etwas älter als Tonio und sahen keine Chance mehr, vor Ablauf der nächsten zwanzig Jahre entlassen zu werden. Und das war eine zu lange Zeit für sie.

Tonio hatte sich alles genau überlegt. Er hatte die Sicherheitseinrichtungen vom ersten Tage an studiert. Er wusste, in welchen Abständen die Wächter ihre Patrouillengänge machten, kannte ziemlich genau die Blickrichtungen der Posten auf den Wachttürmen, und er war überzeugt davon, dass es ihm gelingen musste.

Vor ihnen lag ein Stück offenes Gelände ohne jede Deckung. Dann kam die graue Mauer, die es zu überwinden galt. Tonio wusste auch, wie es dahinter aussah, aber das interessierte ihn im Augenblick nicht. Erst musste die Mauer genommen werden.

Sie zuckten zusammen, als hinter ihnen die halbstündige Glocke losschrillte. Tonio biss die Zähne zusammen. Sie waren knapp mit der Zeit. Bald würde man ihre Flucht entdecken, und dann wurde die Jagd eröffnet. Wenn sie bis dahin nicht von der Insel herunter waren, hatten sie keine Chance mehr.

„Los jetzt!“, zischte Tonio. „Frank, du gehst zuerst.“

Auf Franks Stirn bildeten sich Schweißtropfen, die ihm langsam über das Gesicht rannen. Er nickte. Dann sprang er auf und rannte geduckt über die offene Fläche.

Nichts geschah.

Tonio starrte zu dem Wachtturm hinüber. Der Wächter döste oder sah nach San Francisco hinüber. So wie er es vermutet hatte. Die Überwindung dieser Stelle war am gefährlichsten. An der Mauer waren sie wieder im toten Winkel. Hier konnte sie der Wächter nicht mehr sehen. Zumindest dieser Wächter nicht. Aber es war jederzeit möglich, dass man sie aus einer anderen Richtung bemerkte.

Allmählich spürte Tonio, wie er nervös wurde. Bei den Vorbereitungen hatte er nicht gewusst, wie der Ernstfall wirklich sein würde. Er ahnte, wie schwierig die Flucht war – aber es gab kein Zurück mehr.

„Cliff, jetzt du!“, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

Sein Gefährte spannte sich und blickte zum Wachtturm hinüber. „Er wird auf mich schießen“, flüsterte er.

„Quatsch! Er sieht dich gar nicht.“

Cliff stemmte sich hoch und rannte zu der Stelle hinüber, an der Frank bereits kauerte.

Tonio wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte über die freie Fläche, die von der Nachmittagssonne beschienen wurde und richtig friedlich aussah. Dann war er auch auf den Beinen und rannte los. Sein Atem flog, als er sich neben den beiden anderen in Deckung warf. In diesem Winkel der Mauer konnte sie der Wächter auf dem Turm nicht sehen.

Tonio starrte nach oben und erkannte gerade noch den Lauf des Maschinengewehrs, das in die Richtung zeigte, aus der sie eben gekommen waren.

Er griff unter seine Jacke und zerrte ein zusammengerolltes Seil hervor. „Den Haken!“, flüsterte er drängend.

Cliff zog aus seiner Jacke einen in der Werkstatt heimlich zusammengeschweißten Haken hervor, den Tonio am Seil befestigte. Der Haken war mit Stoff umwickelt, damit es beim Aufprall nicht zu stark schepperte. Dann war es so weit.

Tonio stand auf und ließ den Haken kreisen, so, wie er es geübt hatte. Dann ließ er los, und das Seil glitt durch seine Hände.

Mit einem leisen Klirren flog der Haken über die Mauerkrone. Tonio zog am Seil – und es hielt.

Dann begannen sie hinüberzuklettern, in der vorher festgelegten Reihenfolge. Es dauerte nur wenige Sekunden, aber es kam ihnen wie Stunden vor, besonders, wenn sie völlig ungeschützt auf der Mauerkrone saßen.

Dann kam der letzte Teil der Hindernisse. Der Weg über die steilen Klippen hinunter zum Wasser. Der Stacheldrahtverhau, der noch überwunden werden musste, war nicht so schwierig.

Sie hatten sich entschlossen, den Weg zum Festland schwimmend zurückzulegen. Es war die einzige Möglichkeit, die sie hatten. An ein Boot heranzukommen, war völlig ausgeschlossen. Sie wussten alle drei, wie gefährlich die Strömungen um die Insel waren, aber sie hielten sich für geübte Schwimmer. Die Strecke war zu schaffen – mit etwas Glück, wie sie glaubten.

Aber sie sollten nicht dazu kommen, diesen Versuch zu unternehmen. Wahrscheinlich hätte es ohnehin ihren Tod bedeutet.

Sie hatten den Stacheldraht überwunden und kletterten weiter nach unten, als plötzlich hinter der Gefängnismauer die Alarmklingel losschrillte. Sie blieben einen Moment stehen und sahen sich kurz an, dann kletterten sie schweigend weiter. Es gab jetzt nichts mehr zu sagen.

Plötzlich ratterte ein Maschinengewehr los. Weit vor ihnen spritzten Steinsplitter aus den Felsen. Sie wussten nicht, ob der Schütze sie nicht sah oder ob er nur schlecht zielte. Sie hatten nur eine Möglichkeit, es herauszubekommen. Weitermachen!

Die nächste Salve ratterte los. Sie lag bedeutend näher. Dann klangen hinter ihnen Stimmen auf. Hundegebell ertönte.

Tonio wusste, dass damit alles vorbei war. Man hatte ihre Flucht zu früh entdeckt. Sie hätten noch zehn Minuten gebraucht. Aber diesmal meinte es das Schicksal schlecht mit ihnen.

„Bleibt stehen!“, schrie eine Stimmer hinter ihnen.

„Leck’ mich!“, brüllte Cliff zurück und kletterte weiter.

Frank blickte unsicher zu Tonio, der stehen geblieben war und zu den Verfolgern hochblickte, die gerade mit ihren Köpfen hinter den Felsen auftauchten.

Tonio ging in die Knie, als er sah, wie einer der Wächter sein Gewehr an die Schulter legte. Er wollte etwas rufen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt.

Ein Schuss krachte, und Cliff wurde wie von einem gewaltigen Fausthieb nach vorn geworfen.

Frank sprang auf und schrie: „Cliff!“

Der nächste Schuss krachte, und mit einem Aufschrei kippte Frank zur Seite.

Tonio sah die Schulterwunde, aus der das Blut sickerte, denn Frank lag keine zwei Meter von ihm entfernt. Er sah, wie sich seine Lippen bewegten, aber er rührte sich nicht.

Als die Wächter kamen, hockte er immer noch in dieser Haltung. Sie zerrten ihn hoch, und er ließ sich widerstandslos mitschleifen.

Eine lange Zeit musste er sehr aufpassen. Man steckte ihn in die Dunkelzellen und verbot ihm den Kontakt zu anderen Gefangenen. Später erfuhr er, dass Cliff tödlich getroffen worden war. Frank lag einige Wochen im Gefängnishospital und wurde dann in ein anderes Gefängnis überführt. Tonio sah ihn nur noch ein einziges Mal, aber Frank grüßte ihn nicht und wandte sich ab.

Dann war er weg, und es gab niemanden mehr, der den letzten Teil der Flucht kannte. In den Augen der anderen war Tonio ein Held.

Er hatte sich einen Namen gemacht, und andere wurden auf ihn aufmerksam. Tonio wurde nach einiger Zeit in die Wäscherei versetzt, ohne dass man ihn vorher informiert hätte. Er ahnte gleich, dass dies seinen besonderen Grund hatte. Selbst in Alcatraz waren einige Dinge möglich, die nicht in der Gefängnisordnung standen.

In der Wäscherei arbeitete zu dieser Zeit auch einer der prominentesten Häftlinge von Alcatraz: Al Capone.

Tonio hatte ihn bisher immer nur aus der Ferne gesehen und noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Capone war damals schon seine eigene Legende. Er war der ungekrönte König der Unterwelt von Chicago gewesen, bis man ihn wegen Steuerhinterziehung zu elf Jahren verurteilte – die höchste Strafe, die es wegen dieses Deliktes bis dahin in den Vereinigten Staaten gegeben hatte.

Tonio Murano freute sich darauf, endlich diesen berühmten Mann aus der Nähe sehen zu dürfen. Es dauerte gar nicht lange, bis Al ihn holen ließ, um mit ihm ein paar Worte zu wechseln. Es waren völlig unverbindliche Worte, aber Tonio fühlte sich geehrt. Er meinte erkannt zu haben, dass Capone ihn mit großem Interesse musterte.