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23. Kapitel

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Joe Scalise legte den Telefonhörer langsam auf. „Der erste Hinweis, der uns vielleicht weiterbringt. Ein Mann hat in einem der Läden, die wir kontrollieren, hundert Patronen 44er Magnum gekauft.“

Scalise setzte sich und blickte in die Runde. Rechts von ihm saß der bullige Vincente, der auf einer erloschenen Zigarre herumkaute und nervös an seiner Krawatte herumfingerte. Er kontrollierte den Norden der Stadt und war ein Mann, der ungern Gewalt anwendete – wenn es sich vermeiden ließ.

Daneben saß Drucci. Er war schlank und blass. Ein Magengeschwür machte ihm zu schaffen, wie Scalise wusste. Druccis Spezialität waren Pferderennen. Seine Buchmacher bescherten ihm stolze Umsätze.

Gegenüber hockte Aurelio. Er galt als unberechenbar und jähzornig. Er war erst dreißig Jahre alt und doch schon eine wichtige Figur in der Chicagoer Unterwelt. Man wusste, dass er persönlich schon einige Morde begangen hatte, was zum Beispiel bei Vincente schwer vorstellbar war. Aurelios Einflussbereich lag im Osten der Stadt. Er grenzte an Vincentes Gebiet, aber beide hatten ihre Interessensphären bisher peinlich genau beachtet. Dort hatte es seit Jahren keine Zwischenfälle mehr gegeben. Ein Zustand, der jetzt beendet schien.

Der letzte im Raum war Masseria. Ihn konnte keiner leiden. Er war ein selten hässlicher Mensch, der anderen nur schwer in die Augen blicken konnte. Es hieß auch, dass er seine Familie vernachlässigte. Für Sizilianer eine ganz unmögliche Sache. Masseria war schon über sechzig, aber sein Einfluss war trotz allem sehr groß. Früher hatte er sich sein Gebiet rücksichtslos erobert und war über Leichen gegangen. Er hatte immer noch die meisten gun-men unter seinem Kommando. Die anderen hatten ein wenig Furcht vor ihm, obwohl sie wussten, dass sich auch Masseria bisher an die ungeschriebenen Regeln gehalten hatte. Aber seit Fiscetti und Lombardo tot waren, musste über die Regeln neu gesprochen werden. Das ging alle etwas an.

„Was ist so ungewöhnlich an hundert Magnum-Patronen?“, fragte Vincente.

„Es ist das gleiche Kaliber, mit dem Fiscetti und die Lombardos erschossen wurden. Unser Gewährsmann im Präsidium hat es mir gesagt. 44er Magnum-Patronen der Firma Remington.“

„Wird diese Munition häufig verwendet?“ bohrte Vincente nach.

Scalise schüttelte den Kopf. „Die häufigste Munition ist 38er. Die Magnum ist ein sehr schweres Kaliber, das einen geübten Schützen verlangt. Außerdem sind die Waffen ziemlich unhandlich und schwer. Da sie unter der Kleidung ziemlich schlecht zu verbergen sind, ziehen unsere Jungs meistens andere Waffen vor.“

„Was für ein Mann war das?“, warf Drucci ein.

„Er war schon über sechzig, schätzte der Verkäufer.“

Aurelio sprang wütend auf.

„Willst du uns verarschen, Scalise? Komm’ bloß nicht damit, dass jetzt Rentner auf uns Jagd machen.“

„Stopp!“, befahl Masseria. „Wir sollten die Situation gründlich analysieren. Ich finde es zumindest gut, dass Scalise seine Leute angewiesen hat, nach solchen Dingen die Augen aufzuhalten. Es ist immerhin eine Möglichkeit, etwas zu erfahren. Der Killer befindet sich in dieser Stadt. Er wohnt irgendwo, er isst, er bewegt sich von einem Ort zum anderen – er kauft vielleicht Munition. Das heißt, er wird auch von anderen gesehen.“

„Wir wissen doch nicht, wie er aussieht!“, schrie Aurelio.

„Aurelio, du bist ein Dummkopf“, meinte Masseria sanft. „Wenn wir den Mann finden, auf den ein paar Dinge zutreffen, wissen wir, wie er aussieht. Danach wird er allerdings nicht mehr so aussehen. Ich hoffe nur, dass es niemand ist, den ich kenne.“

„Wir brauchen nicht darum herumzureden“, mischte sich Scalise ein. „Der Killer ist entweder von einem unter uns angeheuert worden, oder von außerhalb geschickt. Es steckt ein Plan dahinter, an Zufälle glaube ich nicht.“

„Das ist eine ziemliche Beleidigung“, meinte Vincente langsam. „Ich denke, dass ich mir so etwas nicht anzuhören brauche. Ich kann auf mich aufpassen, und ich warne jeden, der einen solchen Anschlag bei mir versucht.“

„Blödsinn“, sagte Masseria. „Keiner kann sich gegen einen Angriff aus dem Hinterhalt schützen. Viel einfacher wäre es, wenn wir den Killer finden und aus dem Verkehr ziehen. Und das möglichst schnell. Ich will auch nicht von vornherein ausschließen, dass der Killer ein älterer Mann ist. Erstens gibt es hervorragende Masken, und zweitens kümmert es die Waffe nicht, wie alt der Mann ist, der sie bedient. Ich schlage vor, dass Scalise diesen Waffenhändler ausquetschen lässt. Wir brauchen eine genaue Beschreibung, damit wir den Kerl finden. Ich möchte auch, dass wir den Kerl schneller finden als womöglich die Polizei. Dies ist unsere Angelegenheit.“

„Ich möchte nur wissen, wer dahintersteckt“, knurrte Aurelio. „Ich habe den Verdacht, dass einer all seine Konkurrenten ausschalten und sich allein an die Spitze setzen will.“ Scalise schüttelte den Kopf. „Das ist ein schwerer Vorwurf gegen uns alle, Aurelio. Diese Zeiten sind vorbei. Es ist für uns alle genügend da. Wir brauchen das Geschäft der anderen nicht.“

„Du hast hier verdammt wenig zu sagen, Scalise. Du bist nur hier, weil Fiscetti tot ist. Wenn die Nachfolge geregelt ist, wirst du wieder dort sein, wo du hingehörst. Vielleicht bist du sogar der Killer. Du hättest sogar einen Grund. Fiscetti hast du umgelegt, um seinen Platz einzunehmen. Die Lombardos waren nur Ablenkungsmanöver. Und dann erfindest du einen alten Mann, der ausgerechnet in einem deiner Läden die passende Munition kauft.“ Aurelio blickte sich triumphierend um. „Wie klingt das?“

Drucci wiegte den Kopf. „Es klingt zwar logisch, aber ich halte es für unwahrscheinlich. Wir alle kennen Scalise lange genug. Das ist nicht seine Art.“

Masseria hob kaum die Stimme. „Das dachten wir früher auch immer. Ich bin der Einzige, der die alten Zeiten noch erlebt hat. Alle waren sie damals ein Herz und eine Seele. Meinen Freund Silvio haben sie im Friseursalon umgelegt. Ein Bekannter schüttelte ihm die Hand und hielt ihn damit fest, während der Killer sein Magazin in ihn hineinpumpte. Seitdem – gebe ich keinem Menschen mehr die Hand.“

„Sehr interessant“, höhnte Aurelio. „Aber die Erinnerung an alte Zeiten hilft uns nicht weiter. Wir haben nämlich ein ganz aktuelles Problem, und das ist ein Killer.“

„Nimm dich in acht, Aurelio“, drohte Masseria leise. „Vielleicht willst du dein Gebiet auf Kosten anderer erweitern. Ich weiß, dass du schon lange zu den Lombardos hinüberschielst.“

„Das ist eine Lüge!“, schrie Aurelio und wollte sich auf Masseria stürzen.

„Was soll das?“, brüllte Scalise. „Lasst den Unsinn!“

Aurelio keuchte. „Er hat mich beleidigt. Das lasse ich mir nicht bieten. Das habe ich nicht nötig. Ihr könnt es ja versuchen, mich auch aus dem Weg zu räumen, aber ich warne euch. Den ersten fremden Kerl, den ich in meiner Nähe sehe, lege ich um. Und ihr könnt beten, dass es keiner eurer Leute ist. Ich bin auf alles vorbereitet. Wenn ihr den Krieg haben wollt, könnt ihr ihn bekommen.“

Er ging zur Tür und verschwand grußlos. Im Raum herrschte drückendes Schweigen.

Scalise goss sich aus einer Kristallkaraffe einen Bourbon ein und stürzte ihn mit einem raschen Schluck hinunter. Es war genau das eingetreten, was er eigentlich verhindern wollte. Er hatte diese Zusammenkunft organisiert, damit sich die Bosse der verschiedenen Familien aussprechen konnten, damit keiner auf den Gedanken kam, dass einer von ihnen den Killer bestellt hatte. Aber dieser aufbrausende Aurelio musste natürlich alles kaputtmachen! Es war sogar möglich, dass er Recht hatte. So richtig konnte er keinem mehr trauen.

„Wie geht’s jetzt weiter?“, fragte Vincente. „Wir müssen irgendetwas unternehmen. Ich möchte nicht der Nächste auf der Liste dieses übergeschnappten Killers sein. Ich bin auf so etwas nicht vorbereitet.“

Masseria sah ihn scharf an. „Ich kann dir ein paar von meinen Leuten geben, wenn du knapp bist.“

Vincente hob abwehrend die Hände. „Das ist nicht nötig. Ich komme schon zurecht.“ Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen, und in seinen Augen lag die Angst.

Das Misstrauen zieht Kreise, dachte Scalise. Wahrscheinlich hatte Vincente Angst, dass die angebotenen Leibwächter den Auftrag hätten, ihn umzubringen statt zu beschützen. Das wäre ja auch sehr einfach durchzuführen.

Masseria zuckte nur die Achseln. Es war ihm ziemlich egal, was die anderen von ihm dachten. Er hielt sie sowieso für Feiglinge, die nicht wie er in den schwierigen Jahren ihre Erfahrungen machten.

„Was wirst du als Nächstes tun?“, wandte sich Drucci an Scalise.

„Wir werden der einzigen Spur nachgehen, die wir haben. Aber ich schwöre euch, dass wir den Kerl kriegen. Der alte Mann, der die Patronen gekauft hat, kann harmlos sein. Aber ich möchte mich selbst davon überzeugen. Es gibt ein Motiv, und das möchte ich herausbekommen. Wir müssen das Maßtrauen unter uns beseitigen.“

Masseria lachte kurz auf. „Du bist zu kurz im Geschäft, mein Junge. Misstrauen wird es immer geben, und das ist auch gut so. Aber ich gebe dir völlig recht, dass wir zumindest wissen müssen, ob einer von uns seine Finger in diesem dreckigen Spiel hat.“

Scalise ärgerte sich über den väterlichen Ton von Masseria, der so tat, als hätte er als Einziger die Weisheit mit Löffeln gefressen.

„Du warst doch früher mit Fiscetti und Lombardo zusammen?“, fragte er lauernd.

„Ja, und? Das ist lange her. Es gab noch viele andere. Das war noch in den goldenen Zeiten von Capone. Wir haben damals riesige Geschäfte gemacht, und auch die Polizei hat ein Auge zugedrückt. Wir hatten unsere Leute in der Stadtverwaltung, bei den Gerichten, bei den Zeitungen, überall.“ Er machte eine unwillige Handbewegung. „Wie auch immer, es ist vorbei.“

Scalise lächelte böse. „Vielleicht liegt der Grund für die Morde in der Vergangenheit. Dann bist du als Nächster dran.“

Masseria zog die Augenbrauen zusammen, und in seinen Augen funkelte unterdrückte Wut. Jeder spürte, wie die Spannung im Raum stieg. „Halte deine Zunge im Zaum, mein Junge. Du weißt nicht, wovon du sprichst.“

Masseria versank wieder in Schweigen, und Scalise merkte, dass er über die letzten Worte nachdachte.

„Also warten wir ab und versuchen wir uns zu schützen, so gut es geht“, sagte Vincente. Er stand auf. „Ich glaube, mehr kommt bei dieser Besprechung nicht heraus. Ich habe den Eindruck, dass ich in meinen eigenen vier Wänden noch am besten aufgehoben bin.“

Alle starrten ihm nach, als er das Zimmer verließ. Als Nächster erhob sich Drucci. „Ja, dann ...“ Er ließ den Satz unschlüssig in der Luft hängen. „Ich glaube, ich muss mich auch wieder um meine Geschäfte kümmern.“ Ein unfrohes Grinsen glitt über seine Züge, und sein Blick irrte unruhig zwischen Masseria und Scalise hin und her.

Ohne einen weiteren Gruß verschwand er ebenfalls.

Masseria stemmte sich aus seinem Sessel hoch. Sein Gesichtsausdruck wirkte verkniffen. „Ich gehe besser auch. Die anderen denken sonst, wir knobeln irgendetwas aus. Sie haben sicher einen Mann postiert, der genau auf uns achtet. Aber es ist natürlich richtig. Ich würde es nicht anders machen.“

Er ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. „Die Vergangenheit ist tot. Sie muss tot sein.“

Scalise schwieg und nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas.