Steve McCoy drückte sich tiefer in den Schatten und musterte die Umgebung. Die Mauer war nicht sehr hoch, aber sie war gesichert. Stacheldraht und ein weiterer Draht, der todsicher mit einer Alarmanlage verbunden war. Von dem Haus auf dem Grundstück war nur ein Teil des flachen Daches zu erkennen. Das Tor, an dem er vorbeigekommen war, wurde von bewaffneten Posten bewacht.
Giuglio Masseria verstand sich zu schützen.
Steve hatte erneut mit Alec Greene gesprochen und ihm kurz von seinem Verdacht erzählt, dass der Schlüssel für die Morde eventuell in der Vergangenheit läge. Er hatte ihn gebeten, alle vorhandenen Unterlagen durch die Computer laufen zu lassen, ob es irgendwelche Querverbindungen gäbe. Dann hatte er ihm noch alle Namen genannt, die er sich aus der Zeitung abgeschrieben hatte. Und bei Masseria hatte der Colonel eingehakt.
Deshalb war Steve jetzt hier. Masseria gehörte wie Fiscetti und der alte Lombardo zur alten Garde. In den Zeitungsartikeln war sein Name öfter erschienen. Für ihn traf danach das Gleiche zu wie für die bereits Ermordeten. Nach Steves Theorie war auch Masseria gefährdet, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie Al Capone etwas damit zu tun haben konnte.
Steve hatte Greene gebeten, vorsichtshalber alle ehemaligen Freunde Capones zu ermitteln und ihren Aufenthalt festzustellen. Es war nur ein vager Verdacht, aber mit den technischen Möglichkeiten vom Department of Social Research konnte es nicht allzu schwierig sein.
Auf dem Grundstück war es ruhig. Steve näherte sich der Mauer und zog sich mit einem raschen Klimmzug hoch. Er trug Handschuhe, um seine Finger vor dem scharfen Draht zu schützen. Er warf einen Blick über die Mauer und registrierte die Einzelheiten.
Das Haus war im Bungalowstil erbaut und hatte ziemliche Dimensionen. Daneben befand sich ein überdachter Swimmingpool von olympischen Ausmaßen. Die Wasserfläche glitzerte silbern. Das Ganze lag in einem gepflegten Park von vielleicht fünftausend Quadratyard Größe. Steve vermochte den Preis eines solchen Grundstücks in dieser Lage nicht einmal zu schätzen. Das nötige Kleingeld hatte Masseria – seine illegalen und legalen Geschäfte warfen ordentlich etwas ab. Wobei Letztere nur dafür gedacht waren, das Finanzamt zu beruhigen. Bei einem solchen Lebensstandard hätte Masseria niemand abgenommen, dass er von einer Rente lebte. Er gehörte zu den Blutsaugern der Mafia, denen man nie etwas nachweisen konnte, obwohl die Polizei wusste, dass seine Haupteinnahmequellen illegal waren.
Gedanken an Jills Tod schossen ihm durch den Kopf. Der Schmerz war immer noch da, und das würde er auch bleiben. Steve hätte schon aus diesem Grund dem feinen Herrn gern das Handwerk gelegt, aber zunächst musste er Schlimmeres verhindern. Und dazu gehörte, dass er auch dafür sorgte, dass Masseria nichts zustieß. Allerdings sagte sich Steve, dass er sich bei dieser Bewachung keine großen Sorgen zu machen brauchte. Außerdem war er gewarnt.
Steve sank wieder auf den Boden. Die Mauerkrone war nicht so einfach zu überwinden. Er hatte keine Hilfsmittel bei sich. Allerdings brachte es auch nicht viel ein, in Masserias Gelände einzudringen. Am Ende hielt man ihn noch für den geheimnisvollen Killer. Masserias Männer würden nicht zögern, ihn voll Blei zu pumpen.
Steve zog sich zu seinem Beobachtungspunkt zurück, von wo er zwei Mauerfronten überblicken konnte. Er hatte sich vorher alle Seiten angesehen. Wenn jemand über die Mauer kommen wollte, dann an einer dieser beiden Seiten. Er hätte jedenfalls so gewählt.
Steve blickte auf seine Uhr. Das Warten gehörte leider zu den ermüdendsten Aufgaben seines Jobs. Aber mittlerweile war er geduldiger geworden. Er wusste, wie wichtig diese Eigenschaft war.
Nach einer Stunde hatte sich immer noch nichts gerührt. Ein Wagen hatte das Grundstück verlassen und war nach wenigen Minuten zurückgekommen. Vielleicht brauchte einer der Bodyguards Zigaretten und war zum nächsten Drugstore gefahren.
Steve veränderte seine Position, damit seine Beine nicht einschliefen. Er spürte jetzt die Kälte, die langsam von unten in seinen Körper drang.
Und dann bemerkte er aus den Augenwinkeln die winzige Bewegung. Es war nur ein Schatten in der Nacht, aber seine scharfen Augen hatten es doch registriert. Steves Sinne waren plötzlich hellwach. Seine Instinkte reagierten automatisch. Er wusste, dass sich dort eine unbekannte Gefahr befand.
Er hatte so oft um sein Leben kämpfen müssen, dass er eine Art sechsten Sinn entwickelt hatte. Dies war zwar keine Garantie für sein Überleben, aber es vergrößerte seine Chancen.
Steve rührte sich nicht. Er war sicher, dass der andere ihn nicht gesehen hatte. Ja, der andere. Steve war davon überzeugt, dass er einen anderen Mann gesehen hatte. Es konnte natürlich auch eine Frau sein, korrigierte er sich in Gedanken.
Steve durchbohrte mit seinen Augen die Dunkelheit. In dieser Gegend gab es nicht viele Straßenlaternen. Der Himmel war bewölkt. Langsam konnte er weitere Einzelheiten ausmachen. Die dunkle Gestalt war kaum dreißig Yards von ihm entfernt und beschäftigte sich mit irgendetwas, dass nicht genau zu erkennen war.
Einige Minuten später konnte Steve mehr erkennen. Der Mann – er sah an den Bewegungen, dass es ein Mann war – schleppte ein Bündel zur Mauer. Die Wolkendecke riss auf, und die Sicht wurde besser.
Der Mann hatte eine Art Leiter bei sich, die man teleskopartig zusammenschieben konnte. Es gab kaum ein Geräusch, als er sie an die Mauer lehnte. Er befestigte irgendwelche Stützstreben auf der Mauerkrone, sodass er beim Hinüberklettern den Draht nicht berühren würde.
Dann fummelte der Mann in seiner Tasche herum und zog einen riesigen Revolver heraus. Er musterte ihn kurz und schob ihn dann wieder in die Tasche. Vorsichtig begann er die Leiter hinaufzusteigen.
Steve hielt allmählich den Zeitpunkt seines Eingreifens gekommen. Er näherte sich dem Mann völlig lautlos, aber der andere musste Reflexe wie ein Raubtier besitzen. Er fuhr herum, noch ehe er zur Hälfte oben war. Mit einem lautlosen Satz war er wieder auf dem Boden und griff unter seinen dunklen Mantel.
Steve zog seine Beretta im Laufen und warf sich nach vorn. Aber die Entfernung war noch zu groß. Eine Mündungsflamme leckte ihm entgegen, und gleichzeitig donnerte der schwere Revolver los. Die Kugel verfehlte ihn nur knapp.
Der andere wandte sich zur Flucht und feuerte erneut. Das Geschoss bohrte sich unmittelbar vor Steve in den Boden. Er warf sich zur Seite und hob seine Pistole. Aber er brachte es nicht fertig, den anderen in den Rücken zu schießen. Für einen gezielten Schuss mit seiner Pistole wär auch das Licht viel zu schlecht. Und noch etwas hatte ihn überrascht. Für einen Augenblick hatte er das Gesicht des Mannes gesehen. Es war alt und runzlig wie das einer uralten Indianerfrau. Und darüber hatte er weiße Haare gesehen.
Das gab es doch nicht! Ein alter Mann, den er üblicherweise nachmittags auf einer Parkbank vermutet hätte. Und doch hatte er den Hauch des Todes gespürt, als der Revolver auf ihn zielte.
Steve ließ die Beretta sinken und schob sie wieder ins Holster an der Hüfte. Hinter der Mauer wurden Stimmen laut. Die Schüsse waren auch nicht zu überhören gewesen. Masseria würde jetzt seine Truppen mobilisieren, und denen wollte Steve lieber ausweichen.
Der alte Mann war verschwunden, als hätte ihn die Nacht verschluckt. Steve rannte hinterher, aber er hörte nichts außer seinen eigenen Schritten. Seinen Wagen hatte er in einiger Entfernung geparkt. Die Richtung stimmte, also konnte er ruhig noch versuchen, den Mann zu finden, der mit dem Revolver so schnell bei der Hand war. Über die Leiter mochten sich Masserias Leute den Kopf zerbrechen.
Steve blieb stehen und lauschte. Nichts. Er hörte nur den gleichmäßigen Geräuschpegel der Stadt in der Ferne. Obwohl die Straße jetzt gut zu überblicken war, hatte sich der andere in Luft aufgelöst. Pech. Aber es konnte nicht immer klappen.
Immerhin hatte er mit hoher Wahrscheinlichkeit den geheimnisvollen Killer gesehen, der dabei war, einen Mafiakrieg auszulösen. Einen Krieg, den Steve unter allen Umständen verhindern sollte.
Vor seinen Augen stand immer noch die seltsame Erscheinung, die ihn so verblüfft und seine Reaktion verlangsamt hatte. Sein Verdacht wurde immer stärker, dass die Lösung in der Vergangenheit lag. Alec Greene müsste ihm unbedingt die notwendigen Informationen liefern. Dieser Mann war schließlich kein Gespenst, er war nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Er musste einen Namen haben und eine Wohnung. Und er musste auch eine Vergangenheit haben. Es konnte nicht unmöglich sein, das herauszufinden. Dieser Mann hatte ein Motiv.
Steve schloss den Wagen auf und schwang sich hinter das Lenkrad. Er war noch mit Scalise verabredet. Sein neuer Arbeitgeber, der dringend Revolvermänner brauchte.
Der Wagen sprang sofort an. Steve fuhr los. Auf seinem Gesicht lag ein nachdenklicher Ausdruck.