Der alte Mann beruhigte sich nur langsam wieder. Er erinnerte sich, dass er Tonio Murano hieß und eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Eine Aufgabe, bei der er eben fast versagt hätte. Nur seinem eisernen Training und seinen in der langen Gefängnishaft erworbenen Überlebensinstinkten hatte er es zu verdanken, dass seine Mission noch nicht zu Ende war. Er hörte den Wagen davonfahren und atmete auf. Er war gerade noch entkommen.
Er spürte, wie sein Herz gegen die Rippen hämmerte. Solche körperlichen Leistungen konnte er nicht mehr oft verkraften. Sein Glück hatte ihm diesen dunklen Winkel gezeigt. Auf offener Straße hätte er seine Flucht nicht lange durchhalten können. Aber jetzt war die Gefahr beseitigt.
Allerdings hatte er auch seinen Plan nicht ausführen können. Er hatte lange gebraucht, bis er eine Möglichkeit gefunden hatte, in Masserias Gelände einzudringen. Auch bei den anderen hatte er eine Möglichkeit gefunden. Fiscetti. Die Lombardos. Sie waren erledigt. Aber Masseria lebte noch. Und er war einer der schlimmsten. Er musste auf jeden Fall sterben – sonst war seine Aufgabe nur zur Hälfte erfüllt.
Murano kroch aus seiner Ecke und richtete sich auf. In seiner Tasche spürte er das beruhigende Gewicht der Magnum. Er hätte gern gewusst, wer der andere war. Er war jung und geschmeidig gewesen, und er hatte eine Waffe in der Hand gehabt. Aber egal, wer es war. Wer sich ihm in den Weg stellte, musste sterben.
Langsam ging er zu Masserias Haus zurück. Dort war alles hell erleuchtet. Vor dem Tor standen mehrere Männer. Murano drückte sich in den Schatten und schlich vorsichtig näher.
Ein Wagen kam aus der Einfahrt gekurvt und fuhr ein Stück an der Mauer entlang, bis er mit seinen Scheinwerfern die Stelle beleuchtete, an der die zurückgelassene Leiter lehnte.
Und dann hörte Murano die Stimme.
Masseria.
Er war es persönlich. Murano hatte all seine Opfer wochenlang beobachtet und belauscht, bevor er zum ersten Mal zuschlug. Er kannte ihre Stimmen. Auch das hatte er in Alcatraz gelernt: Stimmen zu unterscheiden. Das war sehr wichtig. Sein Gehör war so gut wie eh und je. Adrenalin schoss in seine Adern.
Er hatte sein Opfer in Reichweite, näher, als er heute geglaubt hatte. Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Vielleicht diente der Zwischenfall nur dazu, sein Opfer aus dem Haus zu locken. Es war wie eine höhere Fügung.
Masseria stand vor der Einfahrt und starrte zu der Leiter hinüber. Er sagte etwas zu einem Mann neben ihm. Was aber nicht zu verstehen war. Die Entfernung betrug immerhin fast vierzig Yards.
Der alte Mann zog die Magnum heraus. Er hatte die Trommel noch nicht wieder nachgeladen, aber er musste sowieso mit den restlichen Schüssen auskommen. Er musste mit dem ersten Schuss treffen. Danach gab es nur noch Flucht, denn Masseria hatte dort drüben ein halbes Dutzend Männer zur Verfügung.
Murano kniete sich hin, um für den linken Arm eine Stütze zu haben, mit dem er wiederum den rechten Arm am Handgelenk festhielt. Auf diese Weise lag die Waffe fest in seiner Faust. Auf diese Entfernung einen Treffer zu erzielen, war sehr schwierig – aber nicht unmöglich.
Murano spannte langsam den Hahn und visierte sein Ziel mit angehaltenem Atem an. Masseria drehte sich halb herum und zeigte ihm jetzt das Profil. Murano korrigierte ein letztes Mal und zog dann mit einer sanften Bewegung den Abzug durch.
Die Magnum brüllte auf und riss durch den Rückstoß seine Faust hoch, dass sein Handgelenk schmerzte.
Masseria wurde wie von einer unsichtbaren Faust gepackt und vom Boden gehoben. Mit Armen und Beinen wirbelnd wurde er gegen das Gittertor geworfen, an dem er langsam herunterrutschte.
Für einen Augenblick herrschte drüben völlige Erstarrung. Dann liefen und schrien alle durcheinander. Fäuste fuchtelten mit Pistolen, ohne ein Ziel zu finden.
Murano war sofort nach dem Schuss aufgesprungen und rannte in die Dunkelheit, den Revolver noch in der Hand.
Eine tiefe Befriedigung breitete sich in ihm aus. Seine Aufgabe war fast erfüllt. Jetzt fehlte nur noch einer. Aber der war am stärksten verbarrikadiert. Er hatte immer schon zu den Misstrauischen gehört. Er würde ihn auch noch erwischen.
Murano lief langsamer, als er spürte, wie rasend sein Herz klopfte. Sein Atem ging keuchend, und er musste sich an einer Hauswand festhalten. Er steckte den Revolver ein und blickte sich um. Niemand schien ihn zu verfolgen. Er rang nach Luft. Seine Beine wurden schwach, und Ringe kreisten vor seinen Augen.
Er musste sich ausruhen, bevor er den letzten Teil seiner Aufgabe er füllte. Er musste vorsichtiger mit seiner Kraft umgehen. Schließlich war er kein junger Mann mehr, der über genügend Reserven verfügte. Er hielt sich nur noch mit eisernem Willen aufrecht.
Langsam ging er weiter, eine Hand auf die schmerzende Brust gepresst. Er erreichte eine Bushaltestelle, an der er zurück in die Stadt gelangen konnte. Als der Bus kam, setzte er sich in die letzte Reihe. Es war etwa elf Uhr abends, und der Bus war nur schwach besetzt. Niemand kümmerte sich um ihn.
Er musste nur einmal umsteigen, aber zu diesem Zeitpunkt hatte er sich schon einigermaßen wieder erholt. Seine Gedanken kreisten bereits um den nächsten Mord. Er würde von allen am schwierigsten sein – aber er würde es schaffen.
Murano war so in Gedanken versunken, dass er beinahe seine Haltestelle verpasst hätte. Hastig schob er sich aus seinem Sitz, und es gab ein dumpfes Geräusch, als der schwere Revolver gegen ein Metallrohr stieß. Es kümmerte sich jedoch niemand darum.
Er stand auf der Straße und atmete tief die Luft ein. Nach all den langen Jahren kam jetzt die Abrechnung. Und dann kam die Belohnung. Der große Capone würde ihn nicht im Stich lassen, das hatte er nie bei seinen Leuten getan. Nur Verräter hatte er nicht leiden können. Er hatte sie erbarmungslos verfolgt. Und jetzt war er – Murano – das Werkzeug. Bald hatte er es geschafft. Und dann würde er laut lachen können über alle jene, die ihn nicht für voll genommen hatten.