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5. Kapitel

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Lucio Aurelio zählte erst dreißig Jahre und galt doch schon als eine der wichtigsten Figuren der Chicagoer Unterwelt. Er war unberechenbar und jähzornig. Sein Einflussbereich lag im Osten der Stadt. Es grenzte an das von Don Vincente, einem bulligen Mann, der ungern Gewalt anwendete – wenn es sich vermeiden ließ.

Trotz der gegensätzlichen Charaktere hatten beide in den letzten Jahren ihre Interessensphären peinlich genau beachtet. Außer einigen kleinen Prügeleien ihrer jeweiligen Rackets hatte es keine Zwischenfälle gegeben, die nicht mit einem Telefonanruf aus der Welt zu schaffen gewesen wären.

Seit allerdings der Mann aus Alcatraz, Tonio Murano, seine blutige Spur durch die Chicagoer Mafia gezogen hatte, war einiges anders geworden. Zunächst hatten sich die verschiedenen Mafiafamilien gegenseitig verdächtigt, den Killer beauftragt zu haben. Fiscetti war das erste Opfer gewesen und Scalise hatte seine Nachfolge angetreten. Das war ein Punkt, der Aurelio von Anfang an nicht gefallen hatte. Hier glaubte er ein Motiv zu erkennen. Außerdem konnte er Scalise sowieso nicht leiden.

Dann hatte es die Lombardos erwischt, und schließlich Masseria, den mächtigsten Boss der Stadt. Innerhalb seiner Familie war die Nachfolge noch nicht entschieden. Aurelio war einen Augenblick versucht gewesen, sich einzuschalten, musste sich dann aber eingestehen, dass dieser Brocken eine Nummer zu groß für ihn war.

Inzwischen war der wahnsinnige Killer tot – wie er zugeben musste, von Scalises Leuten erledigt. Bei dieser Gelegenheit fiel Scalise etwas in die Hände, was außerordentlich nützlich sein musste.

Einer von Scalises Leuten hatte den Mund nicht halten können und es Aurelio hinterbracht. Dieser hatte beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Und da traf es sich gut, dass er ohnehin mit dem Gedanken spielte, seinen eigenen Einflussbereich ein wenig zu erweitern – und zwar auf Kosten von Scalise, der ihm am schwächsten schien, zumal er nicht die Legitimation jahrelanger Tradition besaß.

Lucio Aurelio nippte an seinem Rotwein und lächelte befriedigt. Seine Pläne sahen gut aus, und die Lage in Chicago auch. Die wichtigsten Bosse waren von einem Wahnsinnigen umgebracht worden, sodass es in den jeweiligen Familien Nachfolgeprobleme gab. Dort hatte man also andere Dinge im Kopf. Der einzige, wichtige Mann, der von der alten Garde übrig geblieben war, war Vincente. Der würde jedoch nichts unternehmen, solange man ihn in Ruhe ließ. Das konnte er haben; an Vincentes Gebiet war Aurelio nicht interessiert.

An Scalises dagegen umso mehr. Dieser war das geeignete Angriffsziel. Ihm standen die wenigsten Leute zur Verfügung, und er saß sicher auch noch nicht fest genug im Sattel, nachdem er erst vor wenigen Wochen die Nachfolge des toten Fiscetti angetreten hatte. Außerdem soll dieser Kerl auch noch die Papiere des toten Killers besitzen, die angeblich noch von Al Capone stammen.

Aurelio konnte sich das zwar nur schwer vorstellen, aber es war nicht auszuschließen. Wenn es sich tatsächlich so verhielt, konnten diese Papiere sehr wohl eine gewisse Bedeutung haben. Scalise fand sie jedenfalls überaus wichtig.

Aurelio zündete sich eine Zigarette an und starrte aus dem Fenster über die kleine Grünanlage. Sein Grundstück könnte wesentlich größer sein, dachte er, aber so sah er in der Ferne die Skyline von Chicago allzu deutlich. Der Vorort, in dem er wohnte, war zwar ruhig, doch für seinen Geschmack saßen ihm die Nachbarn zu dicht auf dem Pelz. Außerdem war es schlecht für die Sicherheit. Sein Haus und sein Grundstück waren sehr leicht angreifbar.

Er verdrängte die düsteren Gedanken und widmete sich der hoffentlich besseren Zukunft. Leider hatte der erste Schachzug nicht ganz den erhofften Erfolg gebracht. Er hatte fest damit gerechnet, dass seine Killer Scalise ebenfalls erwischen würden, da er sich meistens in seinem Club aufhielt. Aber ausgerechnet an diesem Abend befand er sich nicht dort. So war es nur gelungen, Scalises Streitmacht entscheidend zu schwächen. Das war immerhin etwas.

Scalise ahnte sicher, wer hinter diesem Anschlag stand. Er hatte jedoch keine Beweise. Die Killer waren aus einer anderen Stadt angeheuert worden. Sie kannten ihren Auftraggeber nicht, sondern führten nur den Job aus, für den sie bezahlt wurden. Sie hatten die Stadt bereits wieder verlassen. Aurelio spielte mit dem Gedanken, sie erneut zu engagieren. Sie hatten keine schlechte Arbeit geleistet.

Zu bedenken war, ob Scalise einen Gegenschlag im Sinn hatte. So etwas konnte sehr wohl weitere Kreise ziehen, vor allem, wenn die Interessen anderer Familien berührt werden sollten.

Es war Zeit, einen neuen Plan festzulegen. Lucio Aurelio drückte auf einen Knopf.

Zwei Minuten später stand ein Typ im Raum, wie ihn ein Filmregisseur besser nicht erfinden konnte. Er trug einen schmal gestreiften Anzug vom Maßschneider, Lackschuhe, ein blütenweißes Hemd mit einer schwarzen Krawatte, und an fast jedem Finger einen Ring.

Dies war Carlo Coletti, Aurelios Capo. Er strömte einen schwachen Geruch nach einem teuren Rasierwasser aus. Sein Haar war sorgfältig frisiert und mit einer beträchtlichen Menge Haarcreme witterungssicher gelegt worden. Seine Stimme klang genauso affektiert, wie er selbst aussah. Aber man durfte sich von seinem Äußeren nicht täuschen lassen. Er war gefährlicher als ein Nest Klapperschlangen und galt als leidenschaftsloser Killer. Seine Hobbys waren Pferderennen mit den üblichen Wetten und Frauen. In dieser Reihenfolge.

„Carlo, wir haben Probleme“, sagte Aurelio.

Coletti grinste, und sein künstliches Gebiss glitzerte wie eine Zahnpastareklame. „Doch hoffentlich wohl keine, die man nicht lösen könnte. Sie wissen doch, dass ich im Lösen von Problemen aller Art große Klasse bin.“

Aurelio hob die Hand. „Ich weiß nur, dass du im Sprücheklopfen große Klasse bist. Im Ernst: Wir haben Probleme, die mit Fingerspitzengefühl erledigt werden müssen.“

Coletti fasste sich gegen die linke Schulter, unter der sich der Kolben einer großkalibrigen Waffe abzeichnete. „Ich dachte, unsere derzeitigen Probleme müssten eher mit dem hier gelöst werden.“

„Schon richtig“, nickte Aurelio. „Aber wir müssen mit äußerster Vorsicht vorgehen. Wenn irgendeiner beweisen kann, dass wir hinter der Geschichte im Cleopatra-Club stecken, dann ist in der Organisation die Hölle los. Du weißt, dass die hohen Herren in der Commissione kein großes Aufsehen lieben. Ich kann es mir nicht leisten, auch mit denen noch Ärger zu kriegen. Die bringen es fertig und mischen sich hier ein. Und dagegen kann man überhaupt nicht angehen.“

Coletti polierte seine Ringe am Jackenrevers. „Heißt das, dass wir alles abblasen?“

Aurelio seufzte. „Carlo, manchmal stellst du dich ziemlich dämlich an. Wenn ich sage, dass wir vorsichtig sein müssen, heißt das doch nicht, dass wir unsere Pläne begraben. Wir dürfen nicht noch einmal so ein Massaker veranstalten, das drei Wochen lang in der Presse breitgetreten wird und die Öffentlichkeit erregt. Dann ruft gleich alles wieder nach mehr Polizei und die Staatsanwälte beeilen sich, einige Anklagen, die sie seit Monaten vor sich her schieben, durch die Instanzen zu peitschen. Es ist eben alles sehr unerfreulich.“

Coletti nickte mit einem verständnisvollen Ausdruck im Gesicht. Dazu war der Boss eben da, dass er sich die richtigen Gedanken machte. Er würde am liebsten immer losmarschieren und die Dinge mit der Knarre in der Hand erledigen. Aber er sah ein, dass es nicht immer auf diese Weise ging.

„Ich hatte geglaubt, dass wir die ganze Geschichte mit der Sache im Club aus der Welt schaffen können“, sagte Aurelio. „Leider war Scalise nicht anwesend und wir stehen immer noch an der gleichen Stelle. Es ist fast noch schlimmer geworden, denn jetzt weiß er, dass man es auf ihn abgesehen hat. Er wird Gegenmaßnahmen treffen.“

Coletti verzog verächtlich das Gesicht. „Er hat nicht viele Leute. Die meisten davon können mit ’ner Kanone nicht umgehen. Die würden sich eher selber erschießen.“

Aurelio runzelte die Augenbrauen. „Ich habe gehört, dass er einen Gunman eingekauft hat. Der soll gut sein.“

Coletti machte eine abwehrende Handbewegung. „Wer auch immer das sein mag, er ist kein Problem für mich. Sagen Sie mir, was aus ihm werden soll, dann kann Scalise jetzt schon einen Kranz bestellen.“

„Keine schlechte Idee“, meinte Aurelio nachdenklich. „Wenn sein neuer Mann gleich aus dem Verkehr gezogen wird, ist Scalise noch mehr verunsichert. Noch lieber wäre es mir jedoch, wenn wir Scalise erwischen. Mit ihm steht und fällt alles. Dann bricht seine ganze Organisation auseinander, und wir können sein Gebiet ernten wie einen reifen Apfel.

Mit den anderen Familien werde ich das schon regeln. Vielleicht kann ich sogar einigen ein paar kleine Brocken abgeben, dann sind sie beruhigt. Und alles ist wieder friedlich wie in alten Zeiten – bis auf einen kleinen Unterschied: Es gibt eine Familie weniger. In der Industrie geht der Trend auch zur Konzentration.“ Diese Vorstellung schien Aurelio stark zu erheitern.

„Was soll ich tun?“, fragte Coletti sachlich.

Aurelios Gesichtsausdruck wurde hart. „Schaff mir diesen verdammten Scalise vom Hals. Und zwar möglichst bald.“

Coletti nickte. „Dazu brauche ich Unterstützung. Alleine schaffe ich es nicht.“

„Du kannst dir Hilfe nehmen so viel du willst. Unsere eigenen Männer stehen dir zur Verfügung, und du kannst auch gerne Profis von außerhalb engagieren.“

„Wird ein paar Dollar kosten.“

„Es kann so viel kosten wie es will.“ Aurelio hieb mit der Faust auf den Tisch. „Ich will Scalises Gebiet haben! So eine Chance kommt nicht wieder. Jetzt oder nie!“

„Wird erledigt.“

»Und denk’ an das, was ich dir gesagt habe. Es muss alles still und leise erledigt werden. Aufsehen können wir nicht mehr gebrauchen. Es muss gut vorbereitet werden und dann blitzschnell über die Bühne gehen. Dann kann ich alle anderen vor vollendete Tatsachen stellen.“

Coletti grinste. „Scalise ist schon so gut wie tot. Er weiß es nur noch nicht.“