Lucio Aurelio befand sich nicht in der allerbesten Stimmung. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Seine Leute, die ihn lange genug kannten, gingen ihm in solchen Fällen aus dem Weg. Er war dann unberechenbar, und sein sizilianischer Jähzorn konnte mit ihm durchgehen.
Nur Carlo Coletti wagte es, in solchen Momenten mit dem Boss zu reden. Der Capo trug heute einen taubenblauen Anzug mit Weste von französischem Schnitt, ein hellblaues Hemd mit einer dezent gestreiften Krawatte, sowie die üblichen Lackschuhe.
Aurelio rümpfte die Nase. „Carlo, du solltest etwas weniger Eau de Cologne nehmen. Du riechst wie ein ganzer Puff.“
Coletti zog empört die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts. Jedes Widerwort an dieser Stelle wäre zu viel gewesen. Er wusste, dass Aurelio angestrengt nachdachte und dass diese Bemerkung nur der Ablenkung diente. Er schwieg weiter.
Nach drei Minuten sagte Aurelio: „Was ist mit diesen drei Leuten?“
„Unser Gewährsmann bei der Polizei konnte nicht sehr viel sagen, da er mit dem Fall nichts zu tun hat. Es ist für ihn ziemlich schwierig, sich Informationen zu besorgen, an die er normalerweise nicht herankommt.“
Aurelio machte eine unwillige Handbewegung. „Dafür bekommt er eine Menge bezahlt. Jetzt ist die Zeit gekommen, für dieses Geld etwas zu tun. Also weiter.“
„Er sagt, dass die Polizei gestern Abend drei Männer festgenommen hat, und zwar auf den Tipp eines anonymen Anrufers hin. Zwei der Männer waren verletzt, den dritten hatte man mit Handschellen an die hintere Stoßstange gefesselt. Im Kofferraum lagen mehrere Schusswaffen. Die Untersuchungen laufen noch, aber es ist schon die Vermutung laut geworden, dass diese Männer mit den Mördern unserer Leute identisch sein könnten. Wenn die Ergebnisse der ballistischen Vergleichsuntersuchung vorliegen, werden wir es genau wissen.“
„Das ist alles?“
„Nein. Nach den ersten Erkenntnissen hat es einen Schusswechsel zwischen den dreien und weiteren Leuten gegeben. Es fanden sich Spuren eines anderen Autos. Wahrscheinlich hat einer von diesen Leuten auch die Polizei angerufen. Dort hält man die Geschichte mittlerweile für eine Auseinandersetzung unter Gangstern, und die Vermutung liegt nahe, dass sie uns für diese Geschichte verantwortlich machen wollen, wenn sich herausstellt, dass die drei tatsächlich die Killer von gestern Nachmittag sind.“
Aurelio runzelte ärgerlich die Stirn. „Haben diese Typen denn noch nichts gesagt. Man wird sie doch vernommen haben.“
Coletti zuckte mit den Achseln. „Der eine hat viel Blut verloren und liegt im Krankenhaus. Die Ärzte haben ihn mit Medikamenten vollgestopft. Der zweite hat eine Gehirnerschütterung und kann sich an nichts erinnern. Das glaubt sogar die Polizei. Und der dritte schweigt eisern. Er behauptet nur, sie seien überfallen worden, als sie eine friedliche Spazierfahrt machten. Die Waffen stammten nicht von ihnen, und im Übrigen wüsste er nicht, was die ganze Sache zu bedeuten hätte.“
„Hat man die drei schon identifiziert?“
Coletti nickte. „Sicher. Sie sollen alle bestens bekannt gewesen sein. Aber unser Informant konnte die Namen noch nicht erfahren. Die verantwortlichen Beamten sind zugeknöpft wie alte Jungfern.“
„Ich muss diesen einen Kerl haben.“ Aurelio ballte die Fäuste. „Ich will ganz genau wissen, wer diesen Mord befohlen hat.“
„Scalise. Das ist doch ganz klar.“
„Ich will es aus seinem Mund hören.“
Coletti verzog das Gesicht. „Ich wüsste nicht, wie wir den Kerl aus der Untersuchungshaft herausholen könnten. Das würde doch ein viel zu großes Aufsehen geben. Unser Informant sagte mir, dass die Polizei von oben sowieso deutliche Anweisungen bekommen hat, entschlossen durchzugreifen. Man will unter allen Umständen weitere Schießereien verhindern.“
Aurelio lachte kurz auf. „Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, wie ich meine Geschäfte führe. Diese Wanze Scalise muss zerquetscht werden, und wenn ganz Chicago es verhindern will. Ich muss nur wissen, ob er wirklich den Mord an meinen Männern angeordnet hat.“
„Wie kommen wir denn an ihn heran?“
Aurelio dachte nach. „Ein Anwalt könnte doch mit diesem Typen reden?“
„Natürlich. Jeder Angeklagte hat schließlich das Recht auf juristischen Beistand.“
„Gut. Da Scalise nicht so dumm sein wird, einen Mann seines Vertrauens die Verteidigung übernehmen zu lassen, werden wir das eben tun. Kein Mensch kann sich etwas dabei denken, wenn ein Anwalt mit diesem Typ ein Gespräch unter vier Augen führt. Er kann ihm ganz deutlich sagen, was wir von ihm erwarten. Entweder er sagt uns, ob Scalise hinter diesem Anschlag steckt, oder er ist binnen vierundzwanzig Stunden ein toter Mann.“
„Das ist eine glänzende Idee“, erwiderte Coletti erfreut. „Ich weiß auch, wen wir nehmen werden. Er soll noch heute mit dem Mann reden. Ich bin sicher, dass er überzeugend genug ist.“
„Sehr schön. Dann sollten wir noch überlegen, wie wir weiter vorgehen. Sobald wir die Informationen haben, will ich Scalise ein für alle Mal ausschalten. Der Plan muss so angelegt sein, dass er keine Gelegenheit hat, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ich muss die anderen Familien vor vollendete Tatsachen stellen. Wenn Scalise erst weg ist, werden sie die neuen Verhältnisse akzeptieren, vor allen Dingen, wenn sie selbst nicht betroffen sind oder sogar kleinen Vorteil haben.“
„Es ist kein Problem, Scalise mit einem Schlag auszulöschen. Er hat nicht sehr viele Leute. Wir sind wesentlich stärker.“
„Wie viele hat er?“
„Höchstens ein Dutzend. Wahrscheinlich weniger. Zu Fiscettis Zeiten war das anders. Scalise hat die ganze Organisation umgekrempelt. Viele sind freiwillig gegangen, andere hat er vor die Tür gesetzt.“
Aurelio ballte die Hände. „Ein Dutzend! Das dürfte kein Problem sein. Eines ist dabei aber ganz wichtig. Scalise darf nicht entkommen. Ich will ihn tot sehen. So schnell wie möglich.“
„Das ist auch kein Problem. Wir kennen sein Hauptquartier. Dort können wir ihn jederzeit ausräuchern.“
Das Telefon klingelte. Aurelio streckte seinen Arm aus und nahm den Hörer ab. „Ja?“
Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich immer mehr, und sein Mund wurde zu einem schmalen Strich. Dann legte er auf, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
„Unangenehme Nachrichten?“, erkundigte sich Coletti.
„Wir kannten Scalises Hauptquartier“, antwortete Aurelio langsam. „Ich habe einen Mann hingeschickt, der es unter Beobachtung halten sollte. Er rief gerade an: Der Vogel ist ausgeflogen. Sie sind alle weg. Er ist schließlich in das Haus gegangen, als sich überhaupt nichts regte. Und dort stellte er fest, dass Scalise mit seiner Mannschaft ziemlich überstürzt abgehauen sein muss. Sie haben das Meiste stehen lassen, doch natürlich sind die Unterlagen weg. Dieses Schwein ist untergetaucht.“
„Das spricht dafür, dass er den Mord an unseren Leuten befohlen hat. Er hat Angst vor einem Gegenschlag. Wahrscheinlich ist ihm jetzt erst klar geworden, auf was er sich eingelassen hat.“
Aurelio nickte finster. „Das wird ihm noch viel klarer werden. Egal, wohin er sich verkrochen hat. Du setzt alle verfügbaren Leute für die Nachforschungen ein. Ich will schnelle Ergebnisse haben. Wer ihn gefunden hat, soll uns sofort benachrichtigen und nichts auf eigene Faust unternehmen. Ich will selbst dabei sein, wenn wir ihn endgültig erledigen.“
„Er wird ja nicht gleich nach Florida gegangen sein“, meinte Coletti. „Ich vermute, dass er entweder die Stadt nicht verlassen hat oder ganz in unmittelbarer Nähe steckt. Wenn er sich zu weit entfernt, bricht seine Organisation binnen einer Woche auseinander. Er hat sie bei Weitem nicht genügend unter Kontrolle.“
„Soll mir recht sein. Dann können wir sie umso eher übernehmen.“ Coletti putzte sich ein unsichtbares Stäubchen von seinem Anzug. „Dann werde ich jetzt alle erforderlichen Maßnahmen einleiten.“
Aurelio grinste breit. „Du brauchst dich nicht so gewählt auszudrücken. Ich weiß ja, dass du eine Schwäche für feine Menschen hast.“
„Ich war schließlich auf dem College“, antwortete Coletti pikiert.
„Ja. Ein Semester.“ Aurelio lachte herzlich.