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10. Kapitel

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Steve McCoy überprüfte rasch seine Beretta und schob sie anschließend wieder an ihren angestammten Platz. Es wurde Zeit. Die Straße lag schon seit Stunden ruhig vor ihm. In diesem Kaff gingen die Menschen früh zu Bett. Am nächsten Morgen hatten sie einen langen Weg nach Chicago, zu ihren Arbeitsplätzen zurückzulegen.

Steve hatte seinen nagenden Hunger zwischendurch mit einem Hot-Dog und einer Cola gestillt. Manchmal brachte sein Job ziemlich unangenehme Begleiterscheinungen mit sich.

Er hatte das Tageslicht noch ausgenutzt, um sich das Grundstück von allen Seiten anzusehen und eventuelle Sicherheitseinrichtungen ausfindig zu machen. Die Überprüfung war relativ befriedigend verlaufen. Es gab weder Hunde noch elektronische Alarmanlagen, um das Gelände zu sichern. Er hatte auch eine Stelle ausfindig gemacht, die von dem Posten auf dem Dach nicht ohne Weiteres einzusehen war. Letzteres allerdings war nicht von ausschlaggebender Bedeutung, denn nachts konnte der Posten sowieso nicht allzu viel sehen.

Es gab zwar einige Lampen, aber sie reichten nicht aus, um die Umgebung des Hauses ausreichend zu beleuchten. Scalise verließ sich offensichtlich mehr darauf, dass niemand sein Versteck kannte.

Steve bewegte sich lautlos und nutzte dabei jede Deckung aus. Auch wenn die Gefahr gering war, blieb er vorsichtig. Er wusste, dass die Friedhöfe voll von Leuten waren, die sich sicher gefühlt hatten. Es gab genug gefährliche Situationen, als dass man sie noch provozieren musste.

Er hatte den Zaun erreicht und prüfte die Stärke des Maschendrahtes. Der Zaun war übermannshoch und noch ziemlich neu. An der Oberkante hatte man zusätzlich Stacheldraht gespannt. Durch seine Nachgiebigkeit war ein solcher Zaun nicht gerade einfach zu überklettern.

Steve schüttelte den Kopf. Nein, das hatte keinen Zweck. Er würde zwar hinüberkommen – eine zerrissene Hose war dabei nicht weiter schlimm – aber die Gefahr, dass er sich durch zu laute Geräusche verriet, war viel größer. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als den Weg über das Tor zu nehmen.

Wie ein Schatten bewegte er sich dicht am Zaun entlang. Er wusste, dass das Tor bewacht wurde. Den Posten auf dem Dach hatte man inzwischen eingezogen.

Als Erstes bemerkte er das Aufglühen einer Zigarette. Der Posten hockte hinter dem Tor auf einer Sitzgelegenheit, die in der Dunkelheit nicht zu erkennen war. Vom Haus her drang ein schwacher Lichtschein herüber. Dort brannten zwei Lampen an der Fassade. Sie reichten nicht aus, alles zu erhellen. Der Erbauer des Hauses hatte bestimmt nicht damit gerechnet, dass eines Tages eine sicherheitsbedürftige Gangstertruppe in sein Haus einziehen würde.

Steve hatte sich am Tage bereits alle Einzelheiten eingeprägt, sodass er auch jetzt eine gute Vorstellung von den Gegebenheiten hatte. Das Nächstliegende Problem war, den Posten abzulenken, um ungesehen auf das Grundstück kommen zu können. Steve bückte sich und hob einen flachen Stein auf. Er wusste, dass die ältesten Tricks nicht immer die schlechtesten waren. Er wollte es zumindest ausprobieren.

Mit einer weit ausholenden Bewegung schleuderte er den Stein ins Gelände. Der Aufprall war deutlich zu hören. Es war ein dumpfes Geräusch, gefolgt von anderen undefinierbaren Lauten, die der Stein beim Weiterrollen verursachte.

Auch der Posten hatte das Geräusch gehört. Er zog scharf die Luft ein und stand auf. Steve sah, wie er die Zigarette mit seinem Absatz austrat. Anschließend nahm er eine langläufige Waffe in die Hand und bewegte sich vorsichtig auf die Quelle des Geräusches zu.

Steve zögerte nicht lange. Er wartete, bis der Mann vielleicht fünfzehn Yards entfernt war, dann schwang er sich mit einer gleitenden Bewegung an den Metallstäben des Tores hoch und landete eine Sekunde später auf der anderen Seite. Sofort ging er in die Knie und verharrte bewegungslos.

Der Posten kam zurück.

Steve verschmolz mit dem Boden und wand sich wie eine Schlange durch das Gras, bis er den Schatten der nächsten Büsche erreichte, die hinter der Hecke gepflanzt waren.

Der Posten nahm seine alte Position wieder ein und zündete sich eine neue Zigarette an. Er schien dem Geräusch keine weitere Bedeutung zuzumessen. Vielleicht glaubte er, dass es sich um ein Tier gehandelt hatte.

Steve entfernte sich immer weiter von ihm, war aber jetzt um völlige Lautlosigkeit bemüht. Ein zweites Geräusch würde den Posten erheblich misstrauischer machen.

Dann hatte er es geschafft. Er konnte aufstehen und kam jetzt schneller voran. Er musste das Haus allerdings umgehen und sich von der Rückseite nähern, sonst hätte er sich vor dem erleuchteten Hintergrund deutlich abgezeichnet. Er konnte schließlich nicht davon ausgehen, dass der Posten auf beiden Augen mit Blindheit geschlagen war.

Den ganzen Tag über hielt er sich im Schutze der Hecke. So weit reichte das Licht nicht, das von den Lampen am Haus ausging. Der Bungalow war im Stil eines Atriumhauses gebaut, wobei eine Seite offen war. Hier befand sich ein kleiner Swimmingpool.

Die offene Seite des Hauses lag auf der Rückfront. In dem durch die drei Seiten des Hauses gebildeten Viereck befand sich ein kleiner Steingarten. Es wirkte alles sehr gutbürgerlich. Mittendrin standen eine Hollywoodschaukel und ein Tisch mit ein paar Stühlen.

Das Haus selbst wirkte ziemlich groß und musste über eine ganze Reihe von Zimmern verfügen. Aus diesem Grunde war es von Scalise vermutlich auch ausgewählt worden. Er hatte wohl schon damit gerechnet, eines Tages mit seinen Leuten ausweichen zu müssen.

Vorsichtig näherte Steve sich der Rückseite des Hauses. Aus einem der Fenster drang durch einen Vorhangspalt ein schwacher Lichtschimmer. Es lag im rechten Seitenflügel.

Steve befand sich auf einer mit Marmorfliesen gekachelten Terrasse und musste vorsichtig auftreten. Langsam schob er sich an das Fenster heran. Es war einen Spalt nach innen gekippt. Als er näherkam, konnte er Gesprächsfetzen verstehen.

Schließlich hatte er das Fenster erreicht. Wenn jetzt jemand aus dem Haus trat, musste er ihn unweigerlich sehen, denn er hob sich deutlich gegen die helle Hauswand ab. Dieses Risiko musste er eingehen. Vielleicht konnte er hier etwas erfahren.

Der Spalt im Vorhang war breit genug, um einen Ausschnitt des Raumes erkennen zu können. Zwei Männer befanden sich in Steves Blickfeld. Er kannte sie beide. Scalise und Marengo. Der Boss und sein Killer.

„Und Sie sind sicher, dass uns hier niemand findet?“, fragte Marengo gerade.

„Ganz sicher“, antwortete Scalise überzeugt, und Steve musste unwillkürlich lächeln.

„Wie lange wollen wir uns hier versteckt halten?“, erkundigte sich Marengo weiter.

„Auf jeden Fall ein paar Tage. Wir müssen warten, bis sich die Erregung über den Tod der beiden Leute von Aurelio gelegt hat. Vielleicht ist es auch möglich, mit Aurelio ein Abkommen zu schließen.“

„Ein Abkommen?“, fragte Marengo erstaunt.

Scalise hob die Schultern. „Das ist nicht auszuschließen. In der Geschichte unserer Organisation hat es immer Kriege gegeben, und man hat sich auch immer wieder geeinigt. Ich habe nachgedacht und inzwischen eingesehen, dass ich gegen Aurelio nicht gewinnen kann. Doch ich habe etwas, an dem er auch sehr interessiert ist. Wir können uns miteinander verbünden. Dann sind wir stärker als alle anderen.“

Marengo verzog zweifelnd das Gesicht. „Sie meinen diese geheimnisvollen Papiere?“

Scalise nickte. „Ja. Das Vermächtnis des Al Capone. Die Papiere sind Gold wert, wenn man sie geschickt auswertet. Wir können diese Stadt wieder in den Griff bekommen – so wie es früher war.“

Marengo schüttelte den Kopf. „Die Zeiten haben sich geändert. Ich glaube nicht, dass man die Uhr zurückdrehen kann. Capone und seine Zeit sind vorbei. Das müssen Sie sich aus dem Kopf schlagen. Heutzutage wird mit anderen Methoden gearbeitet.“

„Marengo, Sie kommen aus Atlanta. Das ist nicht Chicago. War es nie. Ich kenne diese Stadt. Sie ist anders.“

„Atlanta oder Chicago – wo ist da der Unterschied?“

Scalise beugte sich vor. „Das will ich dir sagen, Tony. Hier will ich an die Spitze kommen. Hier in Chicago. Und ich werde es schaffen. Ich gebe zu, wir haben einen augenblicklichen Rückschlag zu verzeichnen, doch das spielt keine Rolle. In ein paar Tagen kann alles ganz anders aussehen. Den nächsten Zug müssen wir machen.“

„Ich denke immer noch darüber nach, was aus den drei Leuten geworden ist, die wir zu Aurelio geschickt haben. Da stimmt etwas nicht. Aurelio hat sie nicht. Ist es möglich, dass sie der Polizei ins Netz gegangen sind?“

„So viel Dämlichkeit wäre den Typen vermutlich zuzutrauen. Wenn es so ist, können wir ohnehin nichts daran ändern. Aber sie kennen dieses Ausweichquartier auch nicht. Wir haben nichts zu befürchten, und es ist auch nicht zu beweisen, dass wir mit denen etwas zu tun haben.“

„Das ist richtig, Scalise. Ich finde die ganze Geschichte nur sehr merkwürdig. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass hier noch irgendeine unbekannte Kraft mit im Spiel ist. Denken Sie nur an den Mann, der mir in die Quere kam, als ich Buddy ausschalten wollte. Wer war dieser Mann?“

Steve nickte anerkennend, als er die Bemerkung hörte Dieser Marengo war nicht zu unterschätzen.

Scalise zuckte mit den Achseln. „Ich habe keine Ahnung. Ich nehme an, dass es einer von Aurelios Leuten war. Denn Buddy muss doch die Geschichte mit den Papieren erzählt haben. Er war als Einziger dabei. Und ich kenne ihn. Wenn man ihn unter Alkohol setzt, erzählt er alles, was man wissen will.“

„Ich denke, es war noch ein dritter Mann dabei, als dieser Mann aus Alcatraz erledigt wurde und man die Papiere fand.“

Scalise knetete seine Hände ineinander. „Ja. Ein gewisser Steve. Ich hatte ihn kurzfristig angeheuert, weil ich zu wenige Leute hatte. Er machte einen ganz guten Eindruck – als ob er sowohl mit einer Kanone als auch mit dem Kopf umgehen kann. Und ich hatte ja auch Recht. Er hat den Kerl gefunden, der hier seine blutige Spur zog, der Fiscetti und all die anderen umgelegt hat.“

„Was ist aus diesem Steve geworden?“

Scalise zuckte mit den Achseln. „Ich habe keine Ahnung. Als der Killer tot war, brauchte ich ihn nicht mehr. Ich hatte ihn verfolgt, als er seinerseits dem Killer auf der Spur war. Ich kam gerade im richtigen Augenblick und habe ihn niedergeschlagen, bevor er sich den Inhalt der Kassette ansehen konnte. Dann habe ich mich mit Buddy aus dem Staub gemacht.“

„Und er ist nie wieder aufgetaucht?“

„Ich hatte ihn vergessen. Schließlich hatte ich Wichtigeres zu tun. Vermutlich hat er die Stadt verlassen, nachdem seine Karriere hier ein so schnelles Ende nahm. Wenn er sich weiter in den einschlägigen Kreisen herumgetrieben hätte, hätte ich davon gehört.“

Steve lächelte an seinem einsamen Lauschposten. Scalise war für einen Mafiaboss eine ziemliche Fehlbesetzung.

Auch Marengo schien allmählich zu dieser Ansicht zu kommen, denn Steve konnte dessen Gesicht ziemlich gut erkennen, und es sprach Bände. Marengo war mit Sicherheit gefährlicher als Scalise, das wurde Steve in diesem Augenblick klar.

Scalise war durch seinen plötzlichen Aufstieg an die Spitze der Organisation des ermordeten Fiscetti deutlich überfordert. Er mochte vorher einen guten Eindruck in der Hierarchie des Verbrechens gemacht haben, aber da brauchte er bloß Befehle auszuführen. Jetzt jedoch musste er selbst nachdenken, und dazu reichte es wohl nicht ganz. Und ausgerechnet dieser Typ war in der Lage, einen blutigen Mafiakrieg zu entfesseln.

„Man hätte diesen Steve nicht laufen lassen dürfen“, mischte sich Marengo ein. „Er war schließlich an einer ziemlich wichtigen Geschichte beteiligt. Bei uns in Atlanta hätte man das anders erledigt.“

Scalise winkte ab. „Wir in Chicago wissen schon, was wir tun. Ich habe dich als Bodyguard engagiert. Ich bin zwar an deinem Rat interessiert, doch die Entscheidungen treffe ich.“

„Sicher, Sie sind der Boss.“ Marengo nagte an seiner Unterlippe. Man merkte, wie er an dieser Zurechtweisung kaute.

Steve veränderte leicht seine Position, damit seine Muskeln nicht zu sehr einseitig beansprucht wurden. Er musste hier in jeder Sekunde voll einsatzfähig sein.

„Ich brauche einen Mittelsmann zu Aurelio“, sagte Scalise nachdenklich. „In ein paar Tagen will ich versuchen, ihm ein Angebot zu unterbreiten, das er nicht abschlagen kann.“

„Dafür bin ich wohl nicht der richtige“, erwiderte Marengo.

„Nein. Ich fürchte, dich wird Aurelio auch nicht akzeptieren. Er schätzt Killer nicht – außer seinen eigenen.“

Steve wusste, dass er eine mögliche Zusammenarbeit zwischen Scalise und Aurelio verhindern musste. Zwar würde es in diesem Falle keinen Krieg geben, aber ein solches Bündnis war genauso schlimm. Zumal, wenn der wesentlich intelligentere Aurelio die Papiere in die Hand bekam.

Steve glaubte eigentlich nicht daran, dass Aurelio ein solches Bündnis einging. Bei Mafiabossen wusste man natürlich nie genau, wie sie reagierten. Es waren schließlich keine normalen Leute, sondern Verbrecher. Das durfte man nie vergessen, selbst wenn sie manchmal den Eindruck machten, als handelten sie wie ganz normale Geschäftsleute. Sie kannten keine Moral, sondern ausschließlich ihren eigenen Nutzen. Und dazu war ihnen jedes Mittel recht.

Scalise stemmte sich aus dem Sessel. „Wir können morgen weiter reden. Ich bin müde.“ Er gähnte ungeniert, dann verschwand er aus Steves Blickfeld.

„Ich gehe auch gleich“, verkündete Marengo. „Gute Nacht.“

Was für eine Idylle, dachte Steve. Sie benahmen sich wie ganz normale Menschen. Dabei waren es Verbrecher, denen ein Leben nichts galt. Steve wusste, dass die Mafiosi versuchten, mehr und mehr gesellschaftsfähig zu werden, dass sie so taten, als seien sie gute und gesetzestreue Bürger wie die meisten Amerikaner. Es gab viele, die darauf hereinfielen. Aber die Mafia änderte sich nicht. Sie mochte ihr Gesicht verändern, jedoch niemals ihre Ziele: Das Streben nach Macht und Einfluss, nach Geld und Kontrolle. Und dies um jeden Preis.

Marengo stand mitten im Raum und sah Scalise hinterher, der offenbar das Zimmer verlassen hatte. Steve konnte die Tür nicht sehen. Es handelte sich um einen ziemlich großen Wohnraum.

Er wollte sich schon abwenden, als er sah, wie Marengo zu einem kleinen Tisch ging, auf dem ein Telefon stand. Interessiert drückte Steve wieder das Ohr an die Scheibe.

Marengo stand mit dem Rücken zu ihm, sodass er nicht sehen konnte, welche Nummer der Mafioso wählte. Auf jeden Fall war es eine längere.

Marengo sprach sehr leise, als die Verbindung hergestellt war, sodass Steve Mühe hatte, ihn zu verstehen.

„Hör zu, hier ist Tony. Ich habe eine wichtige Nachricht für die großen Bosse.“

Die großen Bosse, dachte Steve. Damit konnte eigentlich nur die Commissione gemeint sein, der oberste Rat der Mafia. Es war eine Instanz, die zwar den einzelnen Familien keine direkten Befehle geben konnte, deren Einfluss aber so groß war, dass ihre Wünsche gleichsam als Befehle galten. Es kam hin und wieder vor, dass Streitigkeiten zwischen den einzelnen Familien der Commissione vorgetragen wurden, die dann den Streit entschied. Niemand würde es wagen, den Spruch der großen Bosse infrage zu stellen. Es sei denn, er war Selbstmörder.

Marengo murmelte ein paar Sätze, die Steve nicht verstand, dann wurde es wieder besser. „Es wird Zeit, dass in Chicago eingegriffen wird, sonst kommt es zu sehr unangenehmen Entwicklungen. Am besten wäre es, man schickt einen Schiedsrichter.“

Das war außerordentlich interessant. Entweder war Marengo selbst ein Mann der Commissione, hergeschickt, um die Situation zu prüfen, oder er wollte sich einen Stein im Brett verschaffen. Wie auch immer, es bedeutete eine weitere Zuspitzung.

„Der neue Mann ist ein Traumtänzer“, bemerkte Marengo. „Er will sich einigen, doch er weiß nicht, dass der andere sich darauf nicht einlassen wird. Es kann sehr blutig werden, und das ist für alle Beteiligten schlecht.“

Damit hatte er sogar Recht, dachte Steve. Grundsätzlich war die Commissione nicht an blutigen Auseinandersetzungen interessiert, weil damit nur die öffentliche Meinung aufgerüttelt wurde. Das war schlecht für die Geschäfte. Streitigkeiten sollten lieber unter der Hand erledigt werden. Still und endgültig. Die Commissione hatte für solche Zwecke eigene Killer. Die Besten natürlich. Sie erledigten ihre Aufträge mit der allergrößten Diskretion. Von den Opfern fand man entweder überhaupt keine Spur mehr oder sie hatten einen plötzlichen Unfall, der nicht als Mord zu erkennen war. Steve kannte diese Praktiken zur Genüge, und er wusste, dass die Polizei oft nichts beweisen konnte. Die Akten wurden daraufhin geschlossen.

Mit „dem Traumtänzer“ meinte Marengo offensichtlich Scalise. Er hatte inzwischen begriffen, dass sein neuer Boss nicht gerade eine Zierde der Organisation war. Natürlich konnte der Commissione nichts daran gelegen sein, einen solchen Mann weiter an der Spitze einer Familie zu belassen, zumal er nicht der rechtmäßige Nachfolger des ermordeten Fiscetti war. In dieser Hinsicht würde es also keine Probleme geben. Eigentlich brauchte Aurelio gar nichts zu tun, sondern nur abzuwarten, bis sich das Problem von selbst erledigte.

Es kam selten vor, dass Steve so tiefen Einblick in die Praktiken der Mafia gewann. Meistens stand er zu weit abseits, um solche Einzelheiten zu erfahren. Er wusste natürlich, wie die Mafia arbeitete. Die Archive vom Department of Social Research hatten ihm sehr dabei geholfen. Er hatte in den Zeiten, in denen er im Hauptquartier in Washington war, sehr viele Akten studiert. Mittlerweile galt er als wahrer Experte auf diesem Gebiet.

„Tu, was du kannst“, sagte Marengo gerade. „Ich warte solange ab und unternehme nichts.“ Dann legte er auf.

Steve beobachtete den Killer. Marengo blieb noch einen Augenblick nachdenklich stehen, dann ging er zur Tür und löschte das Licht.

Steve sah auf seine Uhr. Es war weit nach Mitternacht. Im Haus schien allmählich Ruhe einzukehren. Er konnte sich vorstellen, dass den Männern nach ein paar Tagen die Decke auf den Kopf fallen würde. Sie hatten keine Abwechslung, keine Frauen.

Steve hob den Kopf. Das hieß, eine Abwechslung hatten sie schon. Die Geräusche waren ihm bisher noch nicht aufgefallen, da er sich zu sehr auf das Gespräch konzentriert hatte. In der jetzt herrschenden Stille hörte er die Geräusche ganz deutlich. Es waren die typischen Geräusche einer Pokerrunde.

Er hörte das Klirren von Münzen, das Gemurmel der Spieler und die typische atemlose Stille vor dem Aufdecken der Karten.

Leise schlich Steve zur anderen Seite des offenen Innenhofes. Als er die Mauer erreicht hatte, wurden die Geräusche deutlicher. Auch hier war ein Fenster einen kleinen Spalt geöffnet. Allerdings war der Vorhang ganz zugezogen, sodass kaum ein Lichtschimmer nach draußen drang.

Steve unterschied mindesten drei verschiedene Stimmen. Es lag auf der Hand, dass nicht alle Männer Scalises zu dieser Zeit schon zu Bett gehen wollten. Sie waren vermutlich einen anderen Tagesablauf gewöhnt.

Das Problem war, wie er jetzt ins Innere gelangen sollte. Das Risiko war ziemlich hoch. Wenn er den Posten abrechnete, hielten sich immerhin acht Männer im Hause auf. Davon schliefen längst nicht alle. Aber er hatte keine andere Wahl. Jetzt war er schon so weit vorgedrungen, dass es unsinnig gewesen wäre, zu einem anderen Zeitpunkt einen zweiten Versuch zu starten. Es wäre auch nicht besser gewesen.

Schließlich hatte er eine Idee.

Wenn der Posten von unten auf das Dach gelangt war, musste es dort einen Zugang geben. Soweit er es beurteilen konnte, war ein Eindringen durch die Türen oder Fenster unmöglich. Außerdem hatte er kein geeignetes Werkzeug bei sich, um eventuell ein Schloss zu öffnen, geschweige denn, sich durch einen Fensterrahmen zu bohren.

Er musterte aufmerksam die Wand, soweit es bei der herrschenden Dunkelheit möglich war. Sofort entdeckte er die einzige Möglichkeit. Ein Spalierrahmen, an dem ein paar Gewächse vor sich hin kümmerten. Er huschte hinüber und prüfte die Haltbarkeit der Holzlatten. Es war nicht gerade das, was man stabil nennen konnte, doch er hatte nichts anderes.

Vorsichtig griff er nach oben und stellte den rechten Fuß auf die erste Sprosse. Sie knackte leicht – aber sie hielt. Seine Fingerspitzen tasteten sich weiter und krallten sich um die nächste Latte. Langsam zog und schob er sich nach oben.

Die nächste Schwierigkeit war das überhängende Dach. Wieder prüfte er die Haltbarkeit der umlaufenden Regenrinne. Sie machte einen recht stabilen Eindruck.

Jetzt kam ein gewagtes Manöver. Er griff fest mit beiden Händen nach der Regenrinne. Sein Körper hing schräg in der Luft, nur noch von den Füßen am Spalier gehalten.

Kurz darauf stieß er sich ab. Sein ganzes Gewicht hing nun an den Fingern, an denen sein pendelnder Körper schmerzhaft zerrte. Den Rückschwung nutzte er aus, um ein Bein an der Regenrinne festzuhaken.

Es gelang, und der Rest war ein Kinderspiel. Er rollte sich mit einer letzten Anstrengung auf das Dach und blieb für ein paar Sekunden bewegungslos liegen, bis sich sein Atem wieder normalisierte.

Das Dach war leer – bis auf einen kleinen Schornstein und eine Fernsehantenne. Und dann gab es natürlich noch den etwas erhöhten Deckel einer Luke. Dort war sein Ziel.

Steve robbte vorsichtig über das Dach. Wenn er aufgestanden wäre, hätte ihn der Posten am Tor möglicherweise gesehen.

Er zwängte seine Hand unter den Deckel und versuchte ihn anzuheben. Er schien Glück zu haben. Der Deckel war nicht verschlossen. Der Posten hatte wohl nicht vermutet, dass ausgerechnet auf diesem Wege hier nachts jemand eindringen könnte. Scalise befürchtete wohl auch mehr einen Feuerüberfall, wie er in seinen Kreisen üblich war, als das heimliche Eindringen eines einzelnen Mannes. So etwas war in seiner Strategie nicht vorgesehen.

Steve klappte den Lukendeckel ein Stück hoch und blickte nach unten. Er sah in einen Flur, der mit einem Teppich ausgelegt war. Die Leiter war mit irgendeinem Mechanismus nach oben geklappt worden, an den er nicht herankam.

Er schob den Kopf durch die Öffnung und sah sich um. Es war ein kleiner Flur, der von der Haupthalle abging. Vermutlich lagen hier die Küche oder andere Arbeitsräume.

Von der Halle fiel schwaches Licht in den Flur.

Steve zwängte sich unter den Lukendeckel und ließ sich langsam durch die Öffnung nach unten gleiten. Schließlich hielt er sich nur noch mit einer Hand an der Kante fest, mit der anderen stützte er den Deckel ab. Dann ließ er sich fallen, wobei gleichzeitig der Deckel wieder auf die Öffnung klappte. Es gab nur ein schwaches Geräusch, da der Deckel in eine sorgfältig gearbeitete Halterung glitt, die auch gegen Witterungseinflüsse gut abgedichtet sein musste.

Er ging in die Knie und zog die Beretta, um einem eventuellen Angriff begegnen zu können. Nichts rührte sich. Niemand schien sein Eindringen bemerkt zu haben.

Zunächst musste er sich einmal orientieren. Er rief sich den Grundriss des Hauses ins Gedächtnis. Er befand sich im Hauptflügel. Direkt vor ihm lag die Haupthalle mit dem Haupteingang, den man von der Straße aus sehen konnte. Der kleine Flur hatte auf der Rückseite eine Tür, die in den Innenhof führte. Rechts von ihm lag der Seitenflügel, in dem das Gespräch zwischen Scalise und Marengo stattgefunden hatte. Auf der linken Seite gab es die Pokerrunde.

Interessant konnte für ihn nur die Seite sein, in der sich Scalise aufhielt. Dort mussten sich auch die Papiere befinden, um derentwillen schon so viel Blut geflossen war.

Um in den Seitenflügel zu gelangen, musste er die Haupthalle durchqueren. Der Raum lag im Halbdunkel. Es war kein Mensch zu sehen. Steve hielt sich eng an der Wand.

Schließlich befand er sich im Seitenflur. Hier gab es nur auf einer Seite Türen. Steve wusste nicht genau, wo sich der große Wohnraum befand, in dem die beiden Gangster miteinander gesprochen hatten. Vorsichtig öffnete er eine Tür.

Es war nicht die richtige. Er erkannte sofort, dass der dahinterliegende Raum viel zu klein war. Außerdem hörte er die leisen Atemzüge eines Schlafenden. Millimeter um Millimeter schloss er die Tür wieder.

Es musste der nächste Raum sein.

Er hatte Glück. Steve huschte hinein und sah sich um. Es war ziemlich dunkel, aber er konnte es nicht wagen, Licht einzuschalten. Das wäre zu unvorsichtig gewesen.

In der Mitte des Raumes sah er undeutlich die Sitzgruppe, in der sich Scalise und Marengo befunden hatten. Weiter rechts gab es eine zweite Polstergarnitur mit schweren Ledermöbeln vor einem Kamin. Auf der anderen Seite stand ein Schreibtisch.

Steve ging vorsichtig hinüber und zog eine Schublade auf. Leer! Das wäre auch zu einfach gewesen. Wahrscheinlich hatte Scalise die Papiere unter seinem Kopfkissen, dachte Steve in einem Anflug von Selbstironie. Auch die anderen Schubladen waren bis auf ein paar uninteressante Kleinigkeiten leer. Die Gangster hatten ja auch nicht vor, sich hier für längere Zeit einzurichten.

Sinnend starrte Steve auf den leeren Schreibtisch, als er ein unterdrücktes Geräusch hörte. Sofort richtete er alle inneren Antennen auf die Quelle des Geräusches.

Es kam von der Tür. Und es kam von jemand, der sich ganz besonders bemühte, leise zu sein.

Ehe er noch seine Position verändern konnte, flog die Tür auf. Eine breite Lichtbahn flutete in den Raum, in der sofort mehrere Gestalten sichtbar wurden.

Sie mussten ihn trotz seiner Vorsicht gehört haben – oder er hatte den Schläfer nebenan aufgeweckt. Wie auch immer, jetzt ging es um sein Leben, denn einen Kampf gegen die Übermacht aufzunehmen, war Selbstmord. Die einzige Möglichkeit bestand in einer raschen Flucht.

In den Bruchteilen von Sekunden, in denen die Angreifer in den Raum stürmten und Licht machten, um ihre Waffen auf das Ziel zu richten, fasste Steve seinen Entschluss und handelte.

Wie von einer Feder geschnellt sprang er auf das Fenster zu, durch das er das Gespräch belauscht hatte. Er hielt die Hände schützend vor den Kopf und wusste, dass der schwere Vorhang ihn vor Verletzungen schützen würde, wenn er durch die Scheibe schoss.

Besser: Er hoffte es. So etwas konnte immer schiefgehen. Ein Zacken der Scheibe konnte sich in seinen Körper bohren. Die Scheibe konnte womöglich dem Anprall standhalten.

All diese Gedanken rasten durch sein Hirn, während er mit einem gewaltigen Satz die Entfernung überwand. Die ersten Schüsse peitschten auf. Querschläger fegten durch den Raum, und Stimmen schrien durcheinander.

Steve spürte den dicken Vorhangstoff und dann den heftigen Anprall. Glas splitterte. Ein rasender Schmerz schoss durch seine Unterarme. Er war durch! Wie eine Rakete beschrieb er eine ballistische Bahn, deren Endpunkt auf der Marmorterrasse lag.

Sein ständiges Training machte sich bezahlt. Mit einer gekonnten Rolle fing er die Aufprallenergie mit seinem gesamten Körper ab. Der Schwung war noch stark genug, sodass er sofort wieder auf die Füße kam. Er wusste, dass er von diesem Kraftakt noch eine Weile seine Knochen spüren würde, aber er wusste auch, dass er nicht verletzt war.

Die Verfolger waren schon am Fenster, als er kaum zwei, drei Yards zurückgelegt hatte. Er schlug Haken wie ein Hase. Schüsse krachten wie ein Feuerwerk, und er hörte die Geschosse rings um sich einschlagen. Bei der schlechten Beleuchtung war ein genaues Zielen nicht möglich.

Endlich befand er sich auf dem dunklen Rasen. Zum Tor konnte er nicht. Der Posten hatte dort ein Gewehr und konnte ihn abschießen wie auf dem Schießstand. Er rannte zur Rückseite des Grundstücks, während hinter ihm die ersten Taschenlampen aufflammten.

Es ging um Sekunden. Sein Leben hing wieder einmal von seiner Schnelligkeit ab. Dann hatte er die Hecke erreicht. Er zwängte sich durch das dichte Geäst, wobei die Zweige seine Haut zerkratzten – mehr als es die Glasscheibe getan hatte.

Der Maschendrahtzaun war ein Kinderspiel. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung zog er sich hoch. Irgendetwas riss an seiner Kleidung auch der Stacheldraht forderte seinen Tribut – schließlich war er auf der anderen Seite.

Minuten später hatte er seinen Wagen erreicht und betrachtete sein Gesicht im Rückspiegel. Er sah im Augenblick nicht gerade vertrauenerweckend aus. Er war entkommen, und alles war so schnell gegangen, dass die anderen ihn noch nicht einmal erkannt haben dürften. Diese Runde war unentschieden ausgegangen.