Ernesto Gucci betrachtete seine Fingernägel, als könnten sie ihm ein großes Geheimnis enthüllen. Er war etwas über vierzig Jahre alt und sah recht unscheinbar aus. Trotzdem wussten die beiden Männer, die ihm gegenübersaßen, dass sie einen wichtigen – und sehr gefährlichen Mann vor sich hatten.
Lucio Aurelio bezähmte sich mühsam. Er hatte seine Fäuste um die Sessellehne gekrampft und mahlte mit den Backenzähnen. Er hätte diesen Gucci am liebsten hinausgeworfen, wusste aber, dass eine solche Maßnahme ziemlich unangenehme Folgen haben könnte. Er war zwar der Commissione über seine Maßnahmen keine Rechenschaft schuldig, doch wenn die großen Bosse fanden, dass übergeordnete Interessen berührt wurden, war es besser, ihren Ratschlägen zumindest zuzuhören.
Carlo Coletti zupfte nervös an seiner kanariengelben Krawatte. Er sah aus, als bekäme er keine Luft mehr. Über sein Gesicht rannen dicke Schweißtropfen. Heute trug er eine farblich sehr gewagte Kreation. Von schreiend gelb bis dunkel violett reichten die farblichen Abstufungen von Anzug, Hemd und sonstigem Zubehör. Gucci hatte ihn anfangs angestarrt wie eine Sehenswürdigkeit.
„Ich begreife nicht ganz, was Sie eigentlich von mir wollen“, brachte Aurelio mit vor unterdrückter Wut leicht zitternder Stimme heraus. „Seit wann kümmert man sich um ein so kleines Licht wie mich?“
Gucci lächelte amüsiert. „Nicht so bescheiden. Wir haben Informationen, dass Sie in Kürze ein nicht mehr so kleines Licht sein wollen.“
„Jeder hat das Recht, vorwärtszukommen!“
Gucci zündete sich eine Zigarette an. „Dagegen hat niemand etwas einzuwenden. Hier geht es nur darum, dass zu viel Unruhe in die Landschaft kommt. Wir lieben kein großes Aufsehen. Das führt immer nur zu verstärkten Anstrengungen der Justiz und zu großen Artikeln in der Presse. Und so etwas schlägt auf alle zurück. Aus diesem Grund haben andere durchaus ein Recht, sich zu informieren.“
„Sich zu informieren!“ Aurelio lachte bitter. „Dann müssen Sie sehr merkwürdige Informationen haben. Zwei Leute von mir wurden auf offener Straße erschossen. Ohne Grund! Und Sie kommen zu mir und behaupten, ich bringe Unruhe in die Landschaft. Wenn ich angegriffen werde, verteidige ich mich.“
Gucci lächelte milde. „Es ist nicht auszuschließen, dass der Mord an Ihren Leuten nur ein Racheakt war. Ich kann mich erinnern, in der Zeitung über ein ziemlich brutales Massaker gelesen zu haben.“
Aurelio lief dunkelrot an. „Das ist eine Verleumdung. Ich kenne die Typen, die solches Geschwätz verbreiten. Sie wollen mich nur ausschalten. Ich muss mich jetzt gegen einen Kerl wie diesen Scalise, der mich aus der Stadt drängen will, wehren.“
„Scalise!“, betonte Gucci „Mit dem werde ich mich auch noch unterhalten. Wir werden keine ungeprüften Behauptungen übernehmen. Sie können sicher sein, dass wir gründlich vorgehen. Ich wollte Ihnen nur die Bitte vortragen, in der nächsten Zeit einen Waffenstillstand einzuhalten, bis die Sache geklärt ist. Genau dasselbe werde ich allen anderen Beteiligten mitteilen. Dann wird es einen Schiedsspruch geben, der von allen Seiten einzuhalten ist.“
„Scalise ist verschwunden“, knurrte Aurelio. „Sonst hätte ich mich schon mit ihm getroffen. Vielleicht hätte man die Sache noch klären können. Durch seine Flucht hat er ja zugegeben, dass er der Schuldige ist. Kein Mensch weiß, wo er zurzeit steckt.“
„Ich werde ihn schon finden. Die Organisation hat Mittel und Wege, über die Sie nicht verfügen. Sie sollten nicht den Fehler machen, uns zu unterschätzen. Man ist sich nämlich einig, dass nicht zugelassen werden darf, dass die Vorgänge in Chicago eskalieren.“
„Dann reden Sie mit Scalise. Sie werden merken, mit was für einem Mann Sie es zu tun haben. Er hat die Macht in der Familie an sich gerissen, als Fiscetti erschossen worden ist. Vorher gab es in dieser Stadt keine Probleme. Scalise ist der Mann, über den Sie sich Gedanken machen sollten.“
„Ich sagte schon, dass ich mich mit ihm ebenfalls beschäftigen werde. Nur der Krieg muss aufhören.“
Aurelio winkte verächtlich ab. „Das kann man doch keinen Krieg nennen. Solche Zeiten sind in dieser Stadt längst vorbei. Es handelt sich nur um diesen Störenfried Scalise.“
Gucci erhob sich: „Wir werden alles überprüfen. Ich möchte Ihnen nur ganz deutlich sagen, dass wir weitere Schießereien nicht dulden werden. Da eine Klärung zwischen den Beteiligten offenbar nicht möglich ist, haben wir die Sache in die Hand genommen. Und wir werden eine befriedigende Lösung finden.“
Guccis Lächeln war bei diesen Worten wie weggewischt. Er hatte eine Drohung ausgesprochen, und er wollte, dass sie auch als eine solche verstanden wurde. Er verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.
Aurelio und Coletti sahen sich stumm an. Es schien Minuten zu dauern, bis Aurelio das Schweigen brach.
„Dieser verdammte Kerl bringt unsere ganze Planung durcheinander. Ich möchte bloß wissen, wer die Commissione informiert hat. Von allein sind die bestimmt nicht darauf gekommen. Dazu waren die Vorgänge hier viel zu unbedeutend. Dieser Kerl hat es gewagt, mir zu drohen! Das ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert.“
„Wir müssen vorsichtig sein“, beschwichtigte Coletti ihn. „Es hat keinen Sinn, sich mit denen anzulegen. Ich kannte einige Leute, die es versucht haben. In dieser Beziehung verstehen sie keinen Spaß. Gucci ist doch einer von denen, die alle Vollmachten haben.“
Aurelio grinste geringschätzig. „Er ist allein.“
„Ja. Aber die Commissione steht hinter ihm. Wir dürfen ihn keinesfalls unterschätzen.“
„Ich habe eine Idee“, sagte Aurelio. „Wenn dieser Gucci so sicher ist, dass er Scalise findet, hat er sicher bessere Informationen als wir. Es kann nicht so schwer sein, sich an ihn anzuhängen. Er wird uns zu Scalise führen. Schicke sofort einen guten Mann hinterher.“
Coletti griff zu einem Telefon. „Ich bin’s, Carlo. Der Mann, der eben bei uns war, muss verfolgt werden, doch er darf nichts merken. Wechselt euch ab, nehmt ein ganzes Team ... es spielt keine Rolle ... Gut ... Dann nichts wie hinterher.“
Er legte auf. „Er stieg gerade in sein Auto. Sie können sich leicht dranhängen. Vermutlich kennt er sich in Chicago nicht so gut aus wie meine Jungs. Wenn er Scalise findet, dann haben wir ihn auch.“
„Das ist sehr gut. Und dann werden wir diese Ratte erledigen, egal, wohin sie sich verkrochen hat.“
„Und Gucci?“
Aurelio nickte langsam. „Den werden wir bei der Gelegenheit gleich mit ausschalten. Anschließend schieben wir Scalise die Schuld in die Schuhe. Die Commissione wird mir noch dankbar sein. Wir werden wie rettende Engel auf der Bildfläche erscheinen. Aber leider ist es dann schon zu spät. Alle sind tot.“
Coletti strahlte. „Das ist ein ausgezeichneter Plan. Wir stehen sauber da und haben unser Ziel erreicht. Wir müssen nur alles gründlich arrangieren, damit nichts schiefgeht. Ich werde meine Jungs bereithalten.“
„Vielleicht geht es schnell. Gucci war sich seiner Sache ja sehr sicher. Er muss einfach wissen, wo sich Scalise aufhält. Dass wir ihn bloß nicht aus den Augen verlieren!“
„Bestimmt nicht.“
„Dann wollen wir mal abwarten.“ Aurelio lehnte sich zurück. Von seinem Gesicht waren die Zornesfalten verschwunden. Die Welt war wieder in Ordnung. Dass er soeben über den Tod einiger Menschen gesprochen hatte, störte ihn nicht im Geringsten. Das waren für ihn nur störende Elemente, die aus dem Weg geräumt werden mussten.
Und Coletti machte sich seine eigenen Gedanken