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2. Kapitel

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Das Lagerhaus hatte schon bessere Tage gesehen. Und auch einen besseren Inhalt. Die riesige Halle war ein Trümmerhaufen, mit Schutt, Abfällen und Gerümpel gefüllt. Das bedeutete einerseits viele Verstecke, andererseits befand sich die Halle so abgelegen, dass niemand eventuelle Schüsse hören würde.

Steve war sich nicht sicher, ob sie ihn schon gesehen hatten. Das Dämmerlicht war nicht gerade ideal. Er wusste, dass sie da waren. Er hörte auch die Geräusche – aber er sah sie noch nicht.

„Hey!“, schrie plötzlich eine laute Stimme. „Wir wissen, dass du hier drin steckst. Es wäre besser, wenn du freiwillig rauskommst. Mit erhobenen Armen. So, wie man’s in den Filmen immer sieht.“ Ein dreckiges Lachen folgte, in das die anderen einstimmten.

Steve rührte sich nicht vom Platz. Er wusste, dass sie ihn nur provozieren wollten, um sein Versteck ausfindig zu machen. Eines war sicher, es gab nur einen einzigen Ausgang aus dieser Halle, und dort lauerten seine Gegner. Nur ein Wahnsinniger hätte versucht, durch einen Haufen Bewaffneter durchzubrechen, wenn er nichts weiter als eine Pistole hatte.

„Pass auf, dass dich die Ratten nicht anknabbern!“, rief die Stimme wieder. „Wenn du dich nicht bewegst, werden sie dich für tot halten.“

„Es dauert sowieso nicht mehr lange, bis er das ist“, rief ein anderer, und die Stimme brach sich hallend an den kahlen Beton- und Ziegelwänden. Dieser Witz rief wieder Gelächter hervor.

Steve konnte noch nicht einmal genau herausfinden, woher die einzelnen Stimmen kamen. Die akustischen Verhältnisse waren zu schlecht. Einige der Männer hielten sich in jedem Fall auf der Galerie auf. Von dort oben gab es natürlich einen besseren Überblick. Steve wusste, dass seine Verfolger zum Teil mit Gewehren und Maschinenpistolen ausgerüstet waren. Es handelte sich um eine erdrückende Übermacht.

„Der Kerl muss die Hosen so voll haben, dass er sich nicht traut aufzustehen“, kam wieder die erste Stimme.

„Wie wär’s, wenn wir hier ein bisschen Feuer machen“, schlug ein anderer vor.

„Wir kriegen ihn auch so“, mischte sich eine autoritäre Stimme ein. „Wir gehen jetzt systematisch vor, sonst stehen wir hier noch ewig herum. Der Boss will den Kerl haben.“

Lucio Aurelio, dachte Steve. Der Mafiaboss ging über Leichen, notfalls auch über die seiner Freunde. Um die Papiere in die Hand zu bekommen, hatte er einen Mafiakrieg vom Zaun gebrochen, der schon eine Menge Opfer gekostet hatte. Er war noch nicht einmal davor zurückgeschreckt, sich mit dem Vollstrecker der Commissione anzulegen, obwohl er wusste, dass dieser Mann alle Vollmachten hatte.

Nein, Lucio Aurelio kannte keine Hemmungen, wenn es um seine Ziele ging. Steve McCoy war für ihn nur eine Figur, die zwischen ihm und den Papieren stand, und dieses Hindernis musste eben beseitigt werden.

Steve spürte, wie eine leichte Lähmung in seinem linken Bein hochkroch, und er veränderte vorsichtig seine Position. Es geschah völlig lautlos. Diese Kunst hatte er wie vieles andere lernen müssen.

Seine Dienststelle mit Alec Greene an der Spitze unterstützte ihn zwar, wo sie konnte, aber in der Regel war Steve völlig auf sich allein gestellt.

So wie jetzt.

In diesem Lagerhaus, aus dem es keinen Ausweg gab. Sie mussten ihn einfach finden. Wenn sie gründlich genug vorgingen, hatte er keine Chance. Es war kein schöner Platz zum Sterben.

„Gib doch auf!“, schrie die erste Stimme wieder. Sie kam rechts oben von der Galerie. Und sie war viel näher als beim ersten Mal. Sie hatten damit begonnen, die Halle durchzukämmen. Hin und wieder konnte Steve einen der Männer erkennen. Sie waren noch ein ganzes Stück entfernt, denn sie bewegten sich nur langsam voran, da sie jedes Versteck überprüfen mussten.

Steve hätte den einen oder anderen erwischen können, aber das war völlig sinnlos, denn dann hätte er seine Position verraten. Er konnte sich gut vorstellen, welches Feuerwerk sich dann auf ihn konzentrieren würde.

Er zermarterte sein Gehirn, doch er fand keinen Ausweg. Er musste einfach abwarten, ob die andere Seite einen Fehler machte. Erst wenn man ihn in die äußerste Ecke getrieben hatte, würde er einen Ausbruch wagen. Aber das war für ihn die letzte Möglichkeit, denn seine Chancen standen bei einem solchen Versuch ziemlich schlecht.

Die Männer, mit denen er es zu tun hatte, waren Profis. Sie würden ihn abschießen wie einen Hasen.

„Seid ihr sicher, dass der Kerl hier überhaupt drin ist?“, fragte eine zweifelnde Stimme von links oben.

„Aber sicher“, sagte ein anderer. „Ich war ziemlich dicht hinter ihm, als er durch das Tor schlüpfte. Und einen zweiten Ausgang gibt es nicht. Er sitzt in der Falle, und wir werden ihn kriegen.“

„Wie wär’s mit Tränengas?“, fragte einer.

„Haben wir dummerweise nicht“, kam die Entgegnung. „Sonst hätten wir ihn schon längst ausgeräuchert. Das muss ein ziemlich hartnäckiger Bursche sein, sonst hätte er sich schon ergeben.“

„Komm raus, und dir geschieht nichts!“, schrie der Erste wieder. „Wenn du uns noch länger zwingst, durch diese Halle zu laufen, werden wir ungemütlich. Wir könnten schon alle bei unserem Bier sitzen, wenn dieses Miststück sich hier nicht verstecken würde.“

Steve lächelte müde. Sich zu ergeben. hatte keinen Sinn. Sie würden ihn durch die Mangel drehen, bis sie die Papiere hatten. Und dann würden sie ihn umlegen und irgendwo verscharren, wo man ihn nicht fand. Nein, dann war es schon besser, sich zu wehren, wenn die anderen dicht genug heran waren. Eine Pistole war auf weite Entfernungen nicht brauchbar. Er musste warten, sonst erledigten sie ihn mit ihren Gewehren aus der Distanz.

Selten hatte er das Gefühl gehabt, sich in einer völlig ausweglosen Situation zu befinden. Irgendeinen Hoffnungsschimmer hatte es immer gegeben, und wenn er noch so klein war. Dem Tod hatte er schon oft entgegengesehen. Es hatte keinen Sinn, daran zu denken.

Ein Schuss krachte.

Stimmen schrien durcheinander. „Ruhe!“, brüllte einer. „Das war ein Versehen. Passt auf, bis ihr den Richtigen vor der Mündung habt.“

Da hatte also einer seinen nervösen Zeigefinger nicht beherrschen können. Die Gangster mussten ganz wild darauf sein, ihm endlich gegenüberzustehen. Sie schienen das Ganze nicht allzu ernst zu nehmen, sonst hätten sie nicht ständig gequatscht.

Steve hatte keine Ahnung, wie viele Gegner er vor sich hatte. Seine Schätzung belief sich auf mindestens ein Dutzend. Etwas zu viel für einen einzelnen Mann.

Die lockere Kette der Männer kam näher. Er musste langsam seinen Standort wechseln. Bis zur Rückseite des Lagerhauses war es noch ein ganzes Stück. Er konnte den Zeitpunkt seiner Entdeckung noch hinausschieben, aber er konnte ihn nicht verhindern.

„Da ist er!“, schrie eine Stimme. Feuer aus mehreren Pistolen und Schnellfeuerwaffen setzte ein. Die Geschosse zerfetzten die Trümmer, und Staubschwaden wogten durch die Halle. Der Mann musste eine Ratte gesehen haben, denn die Einschläge lagen ein ganzes Stück von Steve entfernt.

„Feuer einstellen“, befahl eine autoritäre Stimme. „Seht nach, ob ihr ihn erwischt habt.“

Es gab ein kleines Durcheinander, dann meldete eine sichtlich enttäuschte Stimme: „Nichts. Wir müssen weitersuchen.“

Steve schob sich vorsichtig hinter seiner Deckung hervor und bewegte sich geduckt zwischen zerbrochenen Kisten und irgendwelchen Metalltrümmern zur Wand hin. Das diffuse Licht erleichterte sein Vorhaben. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Das Lagerhaus besaß nur oben knapp unter der Decke eine Reihe von Fenstern. Sie waren ziemlich klein und sehr verdreckt. Auch die andere Seite hatte inzwischen bemerkt, dass es dunkler wurde.

„Wir brauchen Lampen“, sagte einer.

„Wir müssen ihn gleich haben“, antwortete der Autoritäre. „Trotzdem kann einer zu den Wagen gehen und alle Taschenlampen holen. Beeilt euch jetzt ein bisschen. Der Kerl kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Er hockt irgendwo dort hinten.“

Der Mann hat Recht, dachte Steve. Und er sah keine Möglichkeit, diese Situation zu ändern. Seine Fingerspitzen berührten das kühle Metall seiner Beretta. Aber es war noch zu früh.

Katzenhaft schlängelte er sich weiter nach hinten. Die Stimmen seiner Verfolger wurden leiser. Schließlich hatte er die Wand erreicht. Und wenn es nach dem Willen der anderen ging, würde er hier sterben. An einer schadhaften Ziegelmauer in einem halb verfallenen Lagerhaus in der schlimmsten Ecke Chicagos.

Er stieg über einen kleinen Schutthaufen, der im Schatten einiger zerbeulter Fässer lag, und trat auf ein rostiges Gitter, das unter seinem Fuß leicht klirrte.

Steve blieb stehen und bückte sich. Ein kühler Luftzug kam von unten. Das Gitter deckte einen Schacht ab, der früher vielleicht einmal als Abfluss gedient hatte. Die Wände gingen senkrecht nach unten und waren aus Beton. Die Luft roch leicht modrig.

Steve packte das Gitter mit beiden Händen und zog daran. Es ging leichter, als er dachte. Er räumte vorsichtig noch ein paar Bretter weg, die halb auf dem Gitter lagen. Das Metall scharrte leise über den Boden, als er es zur Seite schob.

Rasch kletterte er mit den Füßen zuerst über den Rand und hangelte sich nach unten, bis er nur noch mit den Fingern an der Kante hing. Er ließ los und kam federnd auf. Die Höhe hatte er vorher ziemlich gut abschätzen können. Dieser Sprung war wesentlich risikoloser, als auf die unvermeidliche Kugel zu warten.

Schnell orientierte er sich. Rechts von ihm befand sich ein waagerechter, etwa halb mannshoher Gang. Er musste unter der Mauer des Lagerhauses hindurchführen. Steve duckte sich und schlüpfte hinein.

Der Luftzug wurde stärker. Er hörte das Fiepen der Ratten, die vor seinen Schritten flohen. Eines leichten Schauderns konnte er sich trotzdem nicht erwehren.

Etwas weiter vorn entdeckte er einen helleren Lichtschimmer, ohne dass er Einzelheiten erkennen konnte. Feuchtigkeit tropfte in seinen Nacken, und die moderige Luft betäubte ihn fast. Allmählich verspürte er den dringenden Wunsch, hier rasch herauszukommen.

Vorn wurde der Lichtstreifen heller, und allmählich konnte er Einzelheiten ausmachen. Die Ziegelmauer des Ganges sah ziemlich mitgenommen aus. Das Wasser rann in dünnen Bächen über die Wand und versickerte irgendwo im Boden.

Sekunden später stand Steve unter einer kreisförmigen Öffnung, die ebenfalls durch ein Gitter abgedeckt wurde. Er hatte den Schachtausstieg erreicht. Der Gang führte zwar noch weiter, aber er verspürte keine Lust, noch einen Augenblick länger in dieser Unterwelt zu verbringen.

An der Schachtwand waren in regelmäßigen Abständen eiserne Krampen angebracht, die allerdings keinen zuverlässigen Eindruck machten. Zum Teil saßen sie nur noch sehr locker im Mauerwerk. Steve musste es dennoch riskieren; er hatte keine andere Wahl. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Meute hinter ihm begriffen hatte, wohin er verschwunden war.

Mit einem gewaltigen Sprung schnellte er sich hoch. Seine Finger krallten sich um die unterste Krampe, die den Anfang der Leiter nach oben bildete. Sein Körper pendelte durch den Schwung in der Luft und schlug ziemlich schmerzhaft gegen die Schachtwand.

Mit einer weiteren Anstrengung zog er sich höher, wobei er versuchte, sich mit den Füßen an der Wand abzustützen. Immer wieder rutschte er an den glitschigen Steinen ab. Dann konnte er die zweite Sprosse mit der rechten Hand packen. Jetzt ging es leichter.

Gleich darauf hatten auch seine Füße sicheren Halt auf der Sprosse gefunden. Er kletterte höher. Als er sich abstieß, brach eine der Metallkrampen aus der Wand. Es krachte dumpf, als sie auf den Boden des unterirdischen Ganges fiel.

Jetzt konnte Steve mit den Händen das Gitter erreichen. Es war ziemlich schwer, ließ sich aber unter einigen Anstrengungen zur Seite schieben. Er musste nur aufpassen, dass er dabei den Halt nicht verlor. Wenn er jetzt abstürzte, war alles verloren.

Draußen herrschte Dämmerung. Steve sog die frische Luft in seine Lungen.

Mit einer letzten Kraftanstrengung schob er das schwere Gitter zur Seite und stemmte sich über den Rand. Aber noch ehe sein Oberkörper ganz draußen war, wusste er instinktiv, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Sein untrüglicher Sinn für Gefahr warnte ihn.

Sein Kopf zuckte herum – und er blickte in die dunkle Mündung eines schweren Revolvers. Der Mann dahinter lächelte amüsiert.

„Willkommen. Klettern Sie ruhig heraus. Aber seien Sie schön vorsichtig dabei, sonst müsste ich unangenehm werden.“

Steve zögerte. Blitzschnell rechnete er seine Chancen aus.

Der andere hatte sofort begriffen. „Wenn Sie sich fallen lassen, schieße ich, und ich bin in jedem Fall schneller. Beeilen Sie sich, ehe die anderen kommen. Ich habe keine Lust, hier den ganzen Abend herumzustehen.“

Steve kannte den Mann. Er hielt ihn für den Abgesandten der Commissione. Erst vor wenigen Tagen hatte er ihn nur durch ein riskantes Manöver mit dem Auto abhängen können. Steve wusste nicht, welches Spiel im Augenblick gespielt wurde. Jedenfalls hatte der Kerl offenbar nichts mit den übrigen Verfolgern im Sinn, die ohne jeden Zweifel zu Aurelios Leuten gehörten.

Steve erinnerte sich, dass sein Gegenüber in die Auseinandersetzung zwischen Aurelio und Scalise geraten war. Scalise war schon tot gewesen, als Steve ihn fand. Vielleicht war dieser Mann sein Mörder. Die Commissione wollte diesen Krieg verhindern, das stand fest. Und es war weiter zu vermuten, dass auch Aurelio im Moment nicht allzu gut bei den großen Bossen angeschrieben stand. Denn schließlich hatte er sich einen Dreck um die Wünsche der Commissione gekümmert.

In den Sekundenbruchteilen, in denen diese Gedanken durch Steves Kopf rasten, hatte er sich entschieden. Der Mann mit dem Revolver in der Hand war ein Profi. Er würde nicht zögern abzudrücken, wenn Steve erkennen ließ, dass er Widerstand leisten wollte. Steve musste sich fügen, so schwer es ihm auch fiel.

Er stemmte sich gänzlich über den Rand des Ausstieges und stand auf. Der andere war einen Schritt zurückgetreten und hielt weiter den Revolver auf ihn gerichtet. „Umdrehen!“, befahl er.

Steve gehorchte, drehte sich um und spreizte die Hände vom Körper weg. Geschickt tastete ihn der andere mit einer Hand ab und drückte ihm dabei die Mündung der Waffe ins Kreuz. In Filmen sah man manchmal Szenen, in denen bei solcher Gelegenheit mit einer geschickten Drehung die Waffe zur Seite geschleudert wurde – aber das war eben nur in Filmen so. In der Wirklichkeit war der Finger am Abzug schneller. Und dieser Mann hatte keine Hemmungen, das zu tun.

Steve hielt den anderen für einen Vollstrecker, der vielleicht nur gelegentlich für sehr schwierige Aufgaben von den großen Bossen herangezogen wurde. Solche Leute mussten schon sehr gut sein.

Die Beretta wechselte ihren Besitzer.

„Wir können gehen“, bedeutete der andere.

Steve warf einen Blick zu der alten Lagerhalle hinüber. Über die hochgelegenen Fenster huschte hin und wieder der Schein einer Lampe. Man suchte ihn also dort drinnen noch immer. Aurelios Männer schienen den Schacht tatsächlich übersehen zu haben.

Steve drehte sich um und sah den anderen schwach lächeln.

„Das sind Idioten“, erklärte der Vollstrecker. „Ein hirnloser Haufen. Sie können vielleicht eine Bar kurz und klein schlagen, aber von schwierigen Dingen haben sie leider keine Ahnung.“

Steve antwortete nicht und ging in die Richtung, in die der Revolverlauf wies.