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4. Kapitel

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Steve McCoy prüfte unauffällig, ob er sein Gelenk durch die Handschelle ziehen konnte. Es war natürlich unmöglich. Sein Gegner war wirklich ein Profi. Er hatte nicht einen einzigen Fehler gemacht, als er Steve zu einem Wagen führte und ihn einsteigen ließ. Es gab nicht eine Sekunde, in der der Revolver nicht auf ihn gerichtet war, und immer aus einer Entfernung, die einen Fehlschuss ausschloss.

Der Mann hatte Steve mit der Metallfessel an den Sitz angeschlossen. Er hätte schon das Chassis herausreißen müssen, wenn er fliehen wollte. Er musste auf seine Chance warten. Es war immerhin schon von Vorteil, dass er noch lebte. Dies war mehr, als er noch vor kurzer Zeit erhoffen konnte. Unter diesem Aspekt sah Steve die weitere Zukunft nicht mehr so düster, obwohl ihm klar war, dass er nicht gerade einem Lebensretter in die Hände gefallen war.

„Wohin bringen Sie mich?“, fragte Steve.

Der andere nahm den Blick nicht von der Straße. „Das werden Sie noch früh genug erfahren.“

„Warum haben Sie mich nicht den Leuten in der Lagerhalle übergeben?“

Der Vollstrecker lachte leise. „Das zu wissen, dürfte für Sie ohne Bedeutung sein. Ich habe meinen Job, und ich führe ihn aus. Dabei genieße ich einige Vollmachten. Mit diesen Leuten habe ich nichts zu tun. Das sollten Sie eigentlich wissen.“

„Ich habe keine Ahnung. Was wollen Sie von mir?“

„Jetzt spielen Sie nicht den Unschuldigen. Ich habe Sie wiedererkannt. Sie sind im Besitz der Papiere, die dem verblichenen Scalise gehört haben. Ich war in seinem Haus, als Aurelios Leute angriffen. Und Sie befanden sich auch in diesem Haus.“

Steve schwieg. Er hatte einen Augenblick lang gehofft, dass der andere gar nicht wusste, wer er war. Doch diese Hoffnung konnte er fallen lassen. Sein Gegner war ziemlich gut im Bilde.

„Ich habe Sie verfolgt, wie Sie wissen, und Sie haben mich mit einem Trick von der Straße gedrängt. Hat mich sehr beeindruckt. Denn es gibt wenige Leute, die mir entkommen konnten, nachdem ich mich auf ihre Spur gesetzt hatte.“

Ein wenig Stolz schwang in seiner Stimme mit, und Steve war sich jetzt sicher, neben einem der in der Mafia gefürchteten „hitmen“ zu sitzen. Das waren Profi-Killer, die oft zu keiner festen Familie gehörten, sondern frei angeheuert werden konnten. Für einen Kontrakt erhielten sie bis zu fünfundzwanzigtausend Dollar, manchmal sogar mehr, wenn es um ein sehr prominentes Opfer ging oder wenn der Auftrag besonders schwierig war.

Steve erinnerte sich, dass für Joe Valachi, der gegenüber der Polizei ausgepackt hatte und sehr viele Mafia-Interna enthüllt hatte, ein Kontrakt von zweihundertfünfzigtausend Dollar angeboten worden war. Es hatte allerdings niemand gegeben, der ihn angenommen hatte. Joe Valachi hatte seinen Verrat überlebt, viele andere dagegen nicht.

Normalerweise war ein „hitman“ nur innerhalb der Organisation tätig. Er brachte Leute zur Räson, die versuchten, die Organisation, den Mob, wie das organisierte Verbrechen allgemein genannt wurde, übers Ohr zu hauen und auf eigene Faust ein Geschäft zu machen. In dieser Beziehung verstanden die Bosse keinen Spaß. Der Vollstrecker hatte dabei nicht immer den Auftrag, zu töten. Meistens reichte auch schon eine freundschaftliche Ermahnung oder ein Hieb mit einem Baseballschläger. Die Methoden waren vielfältig.

Allerdings kam es auch vor, dass ein Exempel statuiert werden musste. Zur Warnung und Abschreckung für andere. Dann erhielt der Vollstrecker seinen Kontrakt, die Zielperson, meistens auch eine saubere Waffe, also eine, die nicht zum Ursprung zurückverfolgt werden konnte, und auf Wunsch Hilfspersonal wie Fahrer oder Abschirmer, die eventuelle Verfolger aufhalten mussten.

Das organisierte Verbrechen umfasst in den Vereinigten Staaten nach Schätzungen mindestens einhunderttausend Personen, wahrscheinlich mehr. Es liegt auf der Hand, dass die Vollstrecker bei dieser gewaltigen Personenzahl häufig Arbeit bekommen. Die Morde innerhalb der Organisation werden nur selten aufgeklärt. Es gibt nie Zeugen, denn niemand innerhalb des Mobs würde es wagen, in einem solchen Falle den Mund aufzumachen. Unbeteiligte Zeugen, die eine Aussage machen würden, werden sanft oder weniger sanft von dieser Absicht abgebracht. Allerdings ist der Mob bei Unbeteiligten besonders vorsichtig. Die Gangster wissen genau, dass die Polizei heftige und störende Nachforschungen beginnt, wenn einem „normalen“ Bürger etwas passiert, während sie sich bei einem Gangstermord kein Bein ausreißt.

Als Steve diese Gedanken durch den Kopf gingen, wurde ihm wieder einmal bewusst, wer eigentlich sein Gegner war. Eine riesige Organisation, die in den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern tätig war. Die einen Umsatz hatte, der höher war als der von General Motors. Die keine Moral kannte außer ihrem eigenen Vorteil. Und die ihre Gegner erbarmungslos vernichtete – und wenn dabei Unschuldige ins Visier gerieten, störte es sie nicht sonderlich.

Die Erinnerung an Jill brannte sich wieder in seine Gedanken.

Steve sah seinen Nebenmann hinter dem Steuer an. Der Mann war etwa vierzig Jahre alt, machte jedoch einen durchtrainierten Eindruck. Er wirkte durchschnittlich, seine Bewegungen waren sparsam und konzentriert. In seinen Augen lagen Entschlossenheit und Durchsetzungsvermögen. Er sah überhaupt nicht wie ein Killer aus.

Für einen „hitman“ ist das Töten ein Beruf wie jeder andere. Er ist kein brutaler Psychopath, dem das Killen Spaß macht, sondern ein Professioneller, der seinen Job gegen gute Bezahlung erledigt. Es gibt natürlich auch andere. Steve hatte genügend davon kennengelernt. Doch viel gefährlicher waren Männer wie der neben ihm. Sie besaßen meistens eine gewisse Intelligenz und gingen an ihre Aufgabe mit Geschick und Umsicht heran.

Steve hatte sich überlegt, dass seine augenblickliche Situation nicht ganz aussichtslos war. Der Vollstrecker hatte offenbar keine Ahnung, wer er wirklich war, sondern hielt ihn vermutlich für ein Mitglied des Mobs, der irgendwie in die Auseinandersetzung zwischen Aurelio und Scalise geraten war. Zum anderen hatte er offensichtlich keine Anweisung, ihn umzubringen – sonst hätte er es schon längst getan.

„Wie heißen Sie?“, fragte der Mann plötzlich.

Steve zögerte nur einen Sekundenbruchteil. „Steve“, antwortete er dann. Unter diesem Namen hatten ihn zumindest Scalises Leute gekannt. Es war nicht auszuschließen, dass der Vollstrecker das wusste.

„Ich heiße Ernesto“, erwiderte der Vollstrecker.

„Und wohin fahren wir?“, fragte Steve. Er ließ sich keine Sekunde lang von der scheinbaren Vertraulichkeit täuschen. Ein „hitman“ musste oft genug mit seinem Opfer noch freundschaftlich reden, bevor er ihm eine Kugel in den Kopf schoss.

Ernesto blickte geradeaus. Die Scheinwerfer rissen breite Lichtbahnen in die Dunkelheit. Sie befanden sich bereits in den Außenbezirken der Stadt. Steve kannte diese Gegend nicht.

„Wir werden uns unterhalten“, stellte Ernesto fest. „Ein paar Einzelheiten fehlen mir noch, und die möchte ich gerne wissen.“

„Dazu bin ich wohl kaum der richtige Mann.“

Ernesto lachte. „Welche Bescheidenheit! Wer es schafft, in einem Krieg zwischen zwei Familien alle beide aufs Kreuz zu legen, muss schon über gewisse Qualitäten verfügen. Ich schätze professionelle Arbeit. Aurelio und Scalise streiten sich um irgendwelche Papiere, und ein Dritter bringt sie an sich, während sich die beiden die Köpfe einschlagen. Ich muss schon sagen: Das ist brillant.“

Steve schwieg. Er fühlte sich unbehaglich. Dieser Mann war schwer einzuordnen. Wenn Aurelios Leute ihn erwischt hätten, wüsste er das. Bei diesem Mann war es nicht der Fall.

Sie bogen in eine schmale Straße ein. Rechts und links lagen dunkle Häuserfassaden. Einige trübe Straßenlaternen erhellten die Umgebung nur sehr notdürftig.

Ernesto schlug das Steuer scharf rechts ein, und der Wagen schoss mit kreischenden Reifen über den Bordstein. Eine finstere Tordurchfahrt wurde sichtbar – gleich darauf befanden sie sich in einem Innenhof, der wie ein Abbruchgelände aussah.

Ernesto stellte die Zündung ab und stieg aus. Er ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. In der Hand hielt er seinen Revolver.

„Wir müssen jetzt in das Haus.“ Er wedelte mit der Waffe. „Da gibt es vielleicht eine Menge Verlockungen, einen Fluchtversuch zu wagen. Ich würde es nicht tun, denn ich schieße sofort. Und schießen kann ich ziemlich gut. Außerdem kenne ich mich hier aus.“

Steve nickte leicht. Diese Entscheidung behielt er sich schon selber vor. Er ging ohnehin kein blödsinniges Risiko ein. Seine Stunde würde auch noch kommen.

Ernesto beugte sich vor und löste die Handfessel von der Sitzbefestigung. Dabei bohrte er Steve seinen Revolver in die Seite. Der Metallring sprang auf, und Steve konnte endlich seine Hand wieder rühren. Ein prickelnder Schmerz schoss durch seinen Unterarm, als er sie leicht massierte.

Ernesto war wieder einen Schritt zurückgetreten. „Schön langsam aussteigen und Hände hinter dem Kopf verschränken.“

Steve gehorchte. Ihm blieb auch nichts anderes übrig. Noch lagen alle Trümpfe auf der anderen Seite. Er wusste jedoch, wie schnell sich so etwas ändern konnte.

Sie gingen auf das Haus zu. Steve wurde von Ernestos kurzen Kommandos dirigiert. Sie standen in einem Treppenhaus, das aussah, als hätte es mehrere Bombenangriffe überstanden. Das Haus schien unbewohnt zu sein. Jedenfalls interessierte sich niemand für die Besucher.

Steve wusste, dass es auch in Chicago wie in allen amerikanischen Großstädten Slums mit abbruchreifen Häusern gab, aus denen die Bewohner längst ausgezogen waren. Manchmal quartierten sich andere unerwünschte Bewohner ein, manchmal blieben die Häuser leer. Auf jeden Fall war ein solches Haus ein ideales Versteck.

Sie gingen über eine baufällige Treppe nach oben. In der Mitte hatte es einmal einen Fahrstuhlschacht gegeben; doch man hatte schon längst alles ausgebaut, was irgendwie zu verwerten war.

Im ersten Stock blieben sie stehen. „Dort hinein“, befahl Ernesto und deutete mit dem Revolverlauf auf eine Tür, die lose in den Angeln hing.

Steve schob die Tür auf, und es quietschte leise. Ernesto betätigte einen Schalter, und tatsächlich flammte Licht auf. Sie standen vor einer weiteren und sehr soliden Tür, die mit einem Schloss versperrt war. „Ein kleines Ausweichquartier“, erklärte der Vollstrecker. „Hier sind wir völlig ungestört.“

Bei diesen Worten lief Steve ein kalter Schauer über den Rücken, und er fragte sich, was ihm noch bevorstehen mochte.

Ernesto öffnete die zweite Tür und stieß Steve in den dahinterliegenden Raum, nachdem er auch dort Licht eingeschaltet hatte.

Die Einrichtung konnte man kaum als solche bezeichnen. Eine Matratze, ein Tisch, ein paar Stühle, ein Schrank. Nichts Persönliches. Eine weitere Tür, die offen stand, führte in ein winziges Bad.

„Das könnte man eine konspirative Wohnung nennen“, meinte Ernesto. „Sie ist abgelegen, und man hört nicht, was hier geschieht.“

„Nett“, entgegnete Steve. „Hier lässt es sich schon aushalten. Es ist richtig gemütlich.“

„Machen Sie nur Ihre Späßchen. Das stört mich nicht.“ Ernesto schob Steve zu einem Heizungskörper und fesselte ihn an ein Rohr. Steve hatte damit zwar eine Hand frei, aber das half ihm nicht viel, denn die Stahlfessel konnte man weder aufbrechen noch durchscheuern. Er war Ernestos Gefangener.

„Und was kommt jetzt?“, fragte Steve.

„Jetzt möchte ich wissen, wo sich diese geheimnisvollen Papiere befinden, hinter denen alle Welt her ist“, sagte Ernesto. Er hielt seinen Revolver locker in der Hand und stand etwa zwei Schritte von Steve entfernt. Zu weit für einen wirkungsvollen Angriff.

„Ich habe sie nicht.“

Ernesto lächelte böse. „Nein?“ Mit einer blitzschnellen Bewegung kam er näher und hieb Steve den linken Handrücken ins Gesicht.

Steves Kopf wurde nach hinten gerissen und schlug gegen die Wand. Ohnmächtige Wut stieg in ihm auf. Er beruhigte sich jedoch sofort wieder, denn hier kam er nur mit klarem Verstand weiter.

„Hattest du die Frage nicht richtig verstanden?“, erkundigte sich Ernesto freundlich.

Steve antwortete nicht.

„Vielleicht sollte ich etwas deutlicher werden“, betonte der Vollstrecker leise. „Möglicherweise hast du mich tatsächlich falsch verstanden.“ In seiner Stimme schwang beißender Hohn.

Ernesto hob seinen Fuß, und seine Schuhspitze traf Steve in die Seite. Danach kam sofort ein Fausthieb auf eine der schmerzempfindlichsten Stellen. Steve biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf, die Schmerzen unter Kontrolle zu bekommen und wieder ruhig zu atmen.

Der Vollstrecker war ein Profi. Er hatte es gewusst. Er kannte die Stellen genau, an denen man einen Menschen wirkungsvoll treffen konnte. Dazu benötigte er noch nicht einmal Kraftaufwand. Steve ahnte, dass ihm noch einiges bevorstand.

„Wirst du dich jetzt bemühen, wenigstens meine Fragen zu verstehen?“

„Ich bin nicht taub.“

Ernesto steckte seinen Revolver ein und sah sinnend zu Steve herunter. „Zu welcher Familie gehörst du?“

„Zu keiner“, antwortete Steve. „Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun. Ich bin ganz zufällig in diese Geschichte geraten.“

„Zufällig?“ Wieder kam die Schuhspitze.

Diesmal hatte Steve den Stoß erwartet und sich vorbereitet. Sein hartes Training machte sich bezahlt. Die Schmerzen waren bei Weitem nicht so stark wie beim ersten Mal.

„Jetzt hör mir mal gut zu“, sagte Ernesto. „Ich kann dich hier umlegen, ohne dass ein Hahn nach dir kräht. Ich kann dir jeden Knochen einzeln brechen, ohne dass dich jemand schreien hört. Ich kann dich auch laufenlassen, wenn du mir sagst, wo du diese verdammten Papiere versteckt hast.“

„Wenn ich es wüsste und dir sagen könnte, würdest du mich auch umbringen. Weshalb sollte ich also den Mund aufmachen? Wenn ich schon sterben soll, dann sollst du wenigstens leer ausgehen.“

Der Vollstrecker grinste wieder. „Wenn ich erst mal richtig loslege, wirst du mich anbetteln, mir alles verraten zu dürfen. Kein Mensch hält das aus, was ich mit ihm mache. Wir haben Zeit, du kannst dir alles in Ruhe überlegen.“

Steve spürte Hoffnungslosigkeit in sich aufsteigen und unterdrückte dieses Gefühl sofort wieder. Noch lebte er, noch war er im Vollbesitz seiner Kräfte. Er musste sich bald etwas einfallen lassen, denn je länger er diesem Killer ausgesetzt war, desto schwächer wurde er. Er hatte nicht mehr viel Zeit.

Ernesto war zum Fenster hinübergegangen und warf einen Blick auf die Straße. Steve sah ihn zusammenzucken.

Wie der Blitz war Ernesto beim Lichtschalter. Das Zimmer wurde in Dunkelheit gehüllt. Nur von draußen drang durch die Ritzen einer Jalousie schwaches Licht herein. Ernesto war schon wieder beim Fenster und blickte nach draußen. Er murmelte ein paar unverständliche Worte vor sich hin. Offenbar hatte irgendetwas oder irgendjemand sein Missfallen erregt.

„Ist die Polizei schon da?“, fragte Steve süffisant.

„Nein, schlimmer“, antwortete Ernesto leise. Er schien ganz ruhig und wirkte wieder wie vorher während der Autofahrt.

Er kam zu Steve herüber und prüfte die Fesselung. Er grunzte zufrieden und wandte sich zum Gehen. „Ich bin bald zurück. Lass dir die Zeit nicht lang werden und denk darüber nach, was du mir anschließend erzählen willst. Ich bin sehr neugierig.“

„Und wenn du nicht zurückkommst?“

Ernesto zuckte mit den Schultern. „Dann wirst du hier wohl verrecken müssen. Hierher kommt niemand. Ein paar Ratten werden dir sicherlich gern Gesellschaft leisten. Sie sind am Anfang ein bisschen scheu, aber nach einer gewissen Zeit trauen sie sich heraus. Du wirst mit ihnen auskommen müssen.“

Steve sagte nichts. Hier war jedes weitere Wort sinnlos. Auf Milde konnte er nicht hoffen.

Die Tür fiel zu, und Steve war allein. Er spürte die Stille beinahe körperlich, und es war kein sonderlich angenehmes Gefühl. Er ließ sich gegen die Mauer sinken und dachte nach.