Ernesto Gucci drückte sich eng an die Hauswand und verschmolz mit der Umgebung. Vorsichtig streckte er den Kopf um die Ecke.
Der Wagen stand immer noch da. Zwei Figuren saßen darin. Sie hockten entspannt auf den Vordersitzen und rauchten.
Er hatte sich nicht geirrt. Diese Figuren kannte er. In den langen Jahren, in denen er für die Organisation tätig war, hatte er ein Gespür dafür entwickelt, zu wissen, wer zum Mob gehörte und wer nicht. Diese beiden gehörten dazu. Darauf hätte er seinen nächsten Kontrakt verwettet.
Das Auto war ihm aufgefallen, als er aus dem Fenster blickte. Er hatte es noch nie vorher hier gesehen. Und es stand in einer merkwürdigen Position da. Man konnte die Straße, das Haus und die Toreinfahrt hervorragend überblicken.
Ernesto Gucci machte sich nichts vor. Er war das Ziel dieser Überwachung. Sie mussten ihm irgendwann zu diesem Versteck gefolgt sein. Heute war ihm niemand gefolgt. Darauf hatte er genau geachtet. Vermutlich waren es Aurelios Leute, die ihn unter Beobachtung halten sollten. Vielleicht warteten sie auf ihn!
Ernesto knirschte mit den Zähnen. Damit war Aurelio eine Spur zu weit gegangen. Er musste ihm eine Lehre erteilen, die er nicht so leicht vergessen würde.
Gucci ließ sich Zeit. Er beobachtete zunächst genau die Umgebung, ob sich irgendwo noch etwas Verdächtiges rührte. Nicht umsonst war er einer der besten „hitmen“ der Organisation. Einen solchen Ruf erwarb man nicht durch Unvorsichtigkeit. In seinem Job waren Fehler tödlich. Er durfte sich keinen erlauben.
Die Straße lag zu beiden Seiten völlig ruhig da. Er hatte diese Gegend mit Absicht ausgesucht. Die meisten Häuser waren verlassen. Es hieß, dass sie in Kürze abgerissen werden sollten. Die Gegend lag auch nicht in einem der übervölkerten Slums Chicagos, sondern etwas außerhalb. In der Nähe gab es eine stillgelegte Fleischfabrik und ein paar verfallene Gebäude, die schon seit zwanzig Jahren nicht mehr benutzt wurden. Für seine Zwecke eine ideale Gegend.
Allerdings ärgerte es ihn, dass er sich hatte verfolgen lassen. Ein solcher Fehler durfte ihm eigentlich nicht unterlaufen. Nun ja, es war noch nicht zu spät, ihn zu reparieren.
Die beiden Typen im Wagen drehten hin und wieder die Köpfe. Sie hatten die Scheiben heruntergekurbelt. Eine Kippe flog in hohem Bogen durch das Fenster und verlöschte auf der Straße. Die beiden hatten nichts von seiner Anwesenheit gemerkt.
Gucci zog seinen Revolver und überzeugte sich davon, dass er einsatzbereit war. Die Handgriffe beherrschte er im Schlaf. Alle Kammern waren mit Patronen gefüllt. 38er. Das war das Kaliber, das er bevorzugte. Alles darunter war zu leicht, und die schweren Magnum Patronen verursachten einen Rückstoß, der einem fast den Arm abriss. Ein 38er war gerade das richtige. Und vor allen Dingen zuverlässig.
Gucci legte seine Finger um den Kolben. Er war völlig ruhig, seine Hand zitterte nicht.
Es gab nur ein Problem. Er musste auf die andere Seite. Von hier aus war die Entfernung zu groß. Selbst ein ungeübter Schütze konnte ihn erwischen, wenn er versuchte die Straße zu überqueren.
Er war in der Toreinfahrt festgenagelt. Sie mussten ihn unweigerlich sehen, wenn er heraustrat. Dummerweise befand sich genau gegenüber eine Laterne, die ihr Licht bis zu ihm herüberwarf.
Gucci verzog sich wieder in den Hof. Er hatte noch nie versucht, auf einem anderen Wege in das nächste Haus zu gelangen, doch es musste eigentlich möglich sein.
Rasch sah er sich um. Rechts gab es einen wackligen Bretterzaun, den er mühelos überklettern konnte. Dahinter musste ein weiterer Hof liegen, der zum Nachbarhaus gehörte. Er schob eine leere Tonne etwas näher an den Zaun und kletterte hinauf.
Der Zaun schwankte bedenklich, als er sich auf die andere Seite gleiten ließ. Er sprang und fing den Aufprall federnd ab. Körperlich war er immer noch in Ordnung. Die jungen Leute, die neuerdings in der Organisation nachrückten und verächtlich auf die Älteren blickten, konnten ihm in dieser Beziehung nichts vormachen. Sie brauchten nicht durch eine so harte Schule zu gehen wie er.
Mit fünfzehn Jahren war er schon „runner“ in Little Italy in New York gewesen. Zwei Jahre später hatte er sich schon zum „Controller“ hochgearbeitet, und dann kam seine Chance: Man bot ihm einen Kontrakt an. Er hatte nicht lange überlegt, sondern zugegriffen. Die Aufgabe hatte er zur vollen Befriedigung seiner Auftraggeber erfüllt, und sie empfahlen ihn weiter. Seine Karriere hatte begonnen. Er war ein Killer, und man achtete und fürchtete ihn in der Organisation.
Er hatte für verschiedene Familien in New York und anderen Städten gearbeitet, sich dabei jedoch nie entschieden auf eine Seite gestellt. Immer wenn eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehr Bossen drohte, hatte er sich herausgehalten. Das war so gewesen, als man auf Joe Colombo geschossen hatte, den großen Boss in New York. Er hatte erlebt, wie danach der vermutliche Verantwortliche, Gallo, starb und eine Menge Männer mit ihm.
Bei solchen Gelegenheiten hatte man ihm, Gucci, verschiedentlich einen hochbezahlten Job als „gunman“ angeboten, aber er hatte immer abgelehnt. Das hatte sich mittlerweile herumgesprochen. Er galt als vertrauenswürdig und unabhängig. Er erledigte die Kontrakte, für die man ihn bezahlte, und kümmerte sich ansonsten nicht um die kleinen Streitereien innerhalb des Mobs.
Es war kein Wunder, dass die ganz großen Bosse auf ihn aufmerksam wurden, und so wurde er Vollstrecker der Commissione. Er brauchte nichts anderes zu tun, denn seine Kontrakte wurden so hoch bezahlt, dass er davon ausreichend leben konnte.
Seine Zielpersonen waren in der Regel keine kleinen Fische. Die Liquidierung eines Bosses konnte nur von der Commissione oder einem der höheren Bosse ausgehen. Logischerweise brauchte man für solche Jobs einen außerordentlich guten und zuverlässigen Mann. Ernesto Gucci war stolz auf seinen Ruf.
Als man ihn nach Chicago schickte, hatte man ihm eine Menge Vollmachten gegeben. Er hatte Scalise erschossen, der immerhin ein leitendes Mitglied der Organisation war. Er besaß auch die Vollmacht, Aurelio aus dem Weg zu räumen, wenn es erforderlich war. Und was erforderlich war, bestimmten die übergeordneten Interessen der Organisation. Wer sich gegen sie stellte, hatte es sich selbst zuzuschreiben. Jeder innerhalb des Mobs wusste, worauf er sich eingelassen hatte. Also musste er auch die Spielregeln akzeptieren, und die sahen bei bestimmten Vergehen die Todesstrafe vor.
Ernesto Gucci war einer der Männer, die dafür sorgten, dass manche an die Einhaltung der Regeln erinnert wurden. Er war einer der Besten auf diesem Gebiet und einer der Erfolgreichsten.
Mit raschen Schritten hatte er den zweiten Hof durchquert und die nächste Tordurchfahrt gefunden. Sie war mit Gerümpel vollgestellt. Er musste darauf achten, nirgends anzustoßen. Ein verräterisches Geräusch hätte die beiden Typen mit Sicherheit aus dem Wagen gelockt.
Lucio Aurelio musste verrückt sein, wenn er sich auf diese Weise mit ihm anlegte. Schließlich hatte er ihm klar und deutlich den Standpunkt der Commissione erläutert, als es um die Auseinandersetzung mit Scalise ging. Scalise war noch uneinsichtiger, deshalb musste er sterben. Aurelio sollte aus dieser Lektion eigentlich gelernt haben. Doch er hatte nichts Besseres zu tun, als ihm zwei Aufpasser hinterherzuschicken. Das musste er ihm abgewöhnen.
Gucci blickte auf die Straße. Er befand sich jetzt im Rücken der beiden Männer. Sie konnten ihn höchstens im Rückspiegel sehen. Wenn er sich dicht an der Hauswand vorwärts bewegte, musste er sich im toten Winkel befinden.
Die Situation erinnerte ihn an einen Job vor vier Jahren. Seine Zielperson war damals ein Kerl gewesen, der beim Nummern-Spiel manipuliert hatte und sich mindestens dreißig Prozent der Einnahmen in die eigene Tasche schob.
Das war ein typischer Fall, an dem ein Exempel statuiert werden musste. So etwas konnte kein Boss durchgehen lassen. Man hatte Gucci für den Kontrakt zwanzigtausend Dollar angeboten. Es war nur schwierig gewesen, an den Mann heranzukommen.
Gucci hatte ihn fast eine Woche lang beobachten müssen, bis er einen einigermaßen brauchbaren Zeitplan zur Verfügung hatte. Allerdings hatte der Typ fast immer einen Leibwächter dabei, der das Risiko einer erfolgreichen Liquidierung erheblich erhöhte.
Es gab nur eine Zeit des Tages, an der der Typ allein war. Wenn er nämlich nachts sein Mädchen abholte, die in einer teuren Nachtbar arbeitete. Er wartete vor der Tür, bis sie herauskam. Das war die einzige Gelegenheit, bei der Gucci an ihn allein herankam.
Der Job musste erledigt werden, bevor das Mädchen erschien, denn es gehörte sich nicht, irgendwelche Angehörigen in die Geschäfte des Mobs hineinzuziehen. Das galt generell für alle Auseinandersetzungen. Die Familie war tabu. Wer sich nicht an dieses ungeschriebene Gesetz hielt, verscherzte es mit der ganzen Organisation. Es hatte solche Fälle gegeben, und Gucci hatte selbst einen solchen Mann zum Tode befördert.
Der Typ in seinem Auto vor dem Nachtklub hatte sich in derselben Entfernung befunden wie jetzt die beiden Kerle. Auch die Beleuchtung war ähnlich. Es gab nur einen Unterschied: Es waren zwei Leute, und er wollte sie nicht töten.
Das allerdings war immer eine Sache, die bei den Betreffenden selbst lag. Manche waren eben einfach dumm.
Ernesto Gucci bewegte sich völlig lautlos, und er registrierte mit Befriedigung, welchen Schrecken die beiden verspürten, als er unerwartet neben ihnen auftauchte.
„Die Hände vorne aufs Armaturenbrett, damit ich sie sehen kann“, befahl er leise.
„Was soll das?“, knurrte der Fahrer.
„Halt’s Maul und antworte, wenn die Fragen kommen“, entgegnete Gucci mit kühler Stimme. Sie war absolut leidenschaftslos, so, wie seine Auffassung von diesem Job.
„Bei uns ist nicht viel zu holen“, murmelte der Zweite.
Gucci schlug mit der flachen Hand schnell und trocken zu, sodass der Kopf des Mannes nach hinten gerissen wurde. Seine Hand mit dem Revolver lag währenddessen bewegungslos auf dem Türrahmen. Durch die große Fensteröffnung beherrschte er das Innere des Wagens ausreichend.
„Rutsch ein bisschen zur Seite“, blaffte er den Beifahrer an und öffnete die Tür.
Der Mann schob sich gehorsam in die Mitte der Sitzbank. Der Straßenkreuzer hatte auch vorn bequem Platz für drei Leute.
Gucci war so schnell im Wagen, dass die beiden keine Chance zu einer Gegenwehr hatten. Ehe sie sich versahen, war die Waffe schon wieder auf sie gerichtet.
„Wenn das ein Überfall sein soll, dann ist es ein ziemlich merkwürdiger“, stellte der Fahrer frech fest. Er befand sich nicht in Reichweite von Guccis Hand.
„Ihr kommt von Aurelio, nehme ich an“, entgegnete Gucci, ohne auf die Bemerkung einzugehen. „Sagt eurem Boss, dass ich die nächsten Leute umlegen werde, die mich beschatten. Das ist kein Kinderspiel, und ihr beiden Pfeifen tut besser daran, anschließend eine große Entfernung hinter euch zu bringen, denn wenn ich euch ein zweites Mal sehe, seid ihr dran. Egal, ob Aurelio euch geschickt hat oder nicht. Das müsst ihr dann eben selbst verantworten.“
„Wir kennen überhaupt keinen Aurelio“, machte der Beifahrer einen schwachen Verteidigungsversuch.
„Ich will mich mit euch nicht unterhalten und noch viel weniger diskutieren. Ich hoffe nur, dass ich mich klar und deutlich ausgedrückt habe. Wenn ihr mich noch einmal sehen solltet, solange ich in dieser Stadt bin, seid ihr praktisch tot. Und das sollt ihr eurem Boss genauso erzählen, wie ich es gesagt habe.“
„Sie scherzen, Mister“, meinte der Fahrer gedehnt.
Sie halten sich für harte Burschen, dachte Gucci, aber er kannte solche Typen. Sie waren gut für eine Kneipenschlägerei oder konnten einen Laden auseinandernehmen, doch gegen einen wirklichen Profi waren sie hilflos. Sie waren nicht schnell und nicht hart genug.
Gucci hatte mit der Linken unauffällig eine biegsame Stahlrute aus der Tasche gezogen und sie teleskopartig auseinandergeschoben. Dann machte er eine blitzschnelle Bewegung und schlug mit einer weit ausholenden Bewegung zu. Der Fahrer brüllte wie am Spieß.
Der Beifahrer gab ein ersticktes Keuchen von sich.
„Ich sehe nichts mehr, ich bin blind!“, schrie der Fahrer.
„Das ist nur Blut“, erklärte Gucci ruhig. „Ich hoffe, du wirst mir nicht noch einmal einen Scherz unterstellen. Manchmal kann ich ziemlich humorlos sein.“
Er schob die Stahlrute wieder in die Tasche und sah, dass ihm der Beifahrer einen ängstlichen Blick zuwarf. Diese Sprache hatten die Typen verstanden.
Gucci beugte sich vor und drehte den Zündschlüssel am Lenkrad. Der Motor sprang sofort an. „Ihr werdet jetzt ganz schnell nach Hause fahren und euch nicht mehr blicken lassen. Vorher warnt ihr Aurelio, dass er keinen weiteren Fehler begeht. Er hat in seinem kurzen Leben schon zu viele begangen.“
Gucci stieg aus. Genauso wie beim Einsteigen ließ er den beiden keine Chance. „Wechselt die Plätze. Schön vorsichtig!“
Die beiden gehorchten. Der verletzte Fahrer jammerte immer noch und hielt die Hände vors Gesicht. Der andere hatte schlicht Angst, dass ihm gleich etwas Ähnliches passieren könnte.
Gucci warf die Tür ins Schloss. „Fahrt los!“
Der Wagen schoss mit durchdrehenden Reifen davon. Gucci lächelte und steckte den Revolver ein. Das war nur ein harmloser Denkzettel. Beim nächsten Mal würde er härter Vorgehen. Meistens reichte eine solche Warnung aus.
Auf der Straße hatte sich niemand blicken lassen. Sicher gab es den einen oder anderen, der die Szene vielleicht aus einem Fenster verfolgte; doch was hatte er schon gesehen? Es war nichts geschehen, was ein Eingreifen rechtfertigen könnte. Im Übrigen waren die Bewohner dieses Viertels sowieso nicht besonders gut auf die Polizei zu sprechen, die sie manchmal aus den Häusern holte, in die sie sich einquartiert hatten, um ein Dach über dem Kopf zu haben.
Selbst wenn hier Schüsse gefallen wären, hätte vermutlich niemand etwas gehört. Es gab ganze Stadtviertel, die nur von Blinden und Taubstummen bewohnt wurden. Gucci verzog das Gesicht. Die jahrzehntelange Arbeit der Organisation trug durchaus Früchte. Mit Einschüchterung und Terror konnte man eine Menge erreichen. Vor allen Dingen bei Menschen, die sich nie wehren konnten.
Es wurde Zeit, sich wieder seinem Gefangenen zu widmen, den er an der Heizung angeschlossen hatte. Der Kerl würde noch reden. Es gab da ein paar einfache Mittel, die jeden zum Reden brachten. Wenn es sein musste, hatte er die ganze Nacht Zeit. Doch er war sicher, dass er nicht so lange brauchen würde.