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10. Kapitel

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Am nächsten Tag hielt ein Mann in New York einen hellblauen Luftpostumschlag in der Hand. Er betrachtete die Adresse. Es war zweifellos seine eigene. Es gab nur ein Problem: Die Zahl der Menschen, die sie kannten, war außerordentlich begrenzt.

Er betrachtete die Rückseite: kein Absender.

Poststempel Chicago. Persönlich adressiert und mit Luftpost per Eilboten zu befördern. Der Briefschreiber hatte es wirklich eilig.

Als vorsichtiger Mensch befühlte der Mann den Umschlag. Schließlich hatte man schon von Briefbomben gehört, und in seinem Job musste er immer mit einem missgünstigen Mitmenschen rechnen, der anders vielleicht nicht an ihn herankam.

Es war zwar in letzter Zeit in New York nicht mehr viel passiert, aber das hieß nicht, dass man von einem dauerhaften Frieden sprechen konnte. Die Vorgänge, die vor vielen Jahren das Attentat auf das Oberhaupt der Colombo-Familie ausgelöst hatte, waren immer noch nicht vollständig geklärt. Offene Auseinandersetzungen wurden zwar gescheut, aber man wusste nie, ob nicht einer plötzlich durchdrehte.

So wie dieser Kerl in Chicago. Wie hieß er doch noch gleich? Chicago! Jetzt dämmerte ihm, wer den Brief abgeschickt haben könnte.

Ernesto Gucci. Er hatte ihn selbst nach Chicago geschickt, um dort nach dem Rechten zu sehen und die verfahrene Situation zu bereinigen. Ein Krieg war offenbar gerade noch vermieden worden. Zumindest war die Auseinandersetzung über die Bühne gegangen, ohne allzu viel Staub aufzuwirbeln. Joe Scalise hatte es dabei erwischt. Pech für ihn, aber damit musste er rechnen, wenn er sich so weit vorwagte. Die Commissione konnte mit der augenblicklichen Situation zufrieden sein.

Er riss den Umschlag auf. Er enthielt einen kleinen Zettel mit ein paar handschriftlichen Zeilen und ein Polaroid-Foto.

Der Mann las zuerst den Zettel. Er ging immer systematisch vor. Mit dieser Methode hatte er es so weit gebracht. Und er hatte sie in allen Spielarten des organisierten Verbrechens ausprobiert. Jetzt war er an der Spitze. Noch nicht ganz oben, doch ziemlich weit.

„Der Mann auf dem beiliegenden Foto mischt in der Angelegenheit in Chicago kräftig mit, gehört jedoch zu keiner der betroffenen Familien. Derzeit ist er im Besitz der Papiere, um die der ganze Streit ging. Er ist mir leider entkommen. Ich halte ihn für einen Vollprofi. Ich habe keine Ahnung, auf welcher Seite er steht. Bitte versuchen Sie, ihn zu identifizieren, und verständigen Sie mich. E.G.“

Der Mann legte den Zettel zur Seite und betrachtete das Foto.

Der Schock kam plötzlich, als die allmähliche Erkenntnis sein Bewusstsein erreicht hatte.

Den Typ konnte er ohne Schwierigkeiten identifizieren. Dazu brauchte er niemand weiter zu fragen. Er hatte schon Bilder gesehen. Gute Bilder aus verschiedenen Jahren. Er kannte den Kerl nicht persönlich, aber er hatte sich alle Einzelheiten eingeprägt.

Das war allerdings das Schlimmste, was überhaupt passieren konnte. Dieser verdammte Steve McCoy war in Chicago. Der Mann ballte die Hände. Ein Todfeind der Organisation. Niemand wusste, für wen er arbeitete. Doch alle wussten, dass er ein gefürchteter Gegner des organisierten Verbrechens war. Immer wieder hatte er verschiedenen Familien empfindliche Niederlagen beigebracht. Es gab genügend Beschreibungen von ihm, und es waren auch Fotos gemacht worden. Sie kannten seinen richtigen Namen, mehr allerdings kaum.

Steve McCoy. Viele Mafiosi wurden blass, wenn sie den Namen hörten. Andere liefen rot an. Das war eine Frage des Temperaments. Jedenfalls besaß der Name bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad innerhalb der Organisation. Eine Beurteilung war bei allen gleich: Der beste Steve McCoy ist ein toter Steve McCoy.

Der Mann legte das Foto auf den Tisch, als hätte er es mit einem giftigen Reptil zu tun. Bisher hatte es noch keiner geschafft, sich eine Belohnung zu verdienen, wenn er ihn umlegte. Und dieser McCoy wurde immer gefährlicher. Bei jedem Einsatz erfuhr er neue Einzelheiten über die Unterwelt, entdeckte neue Querverbindungen, bekam neue Kontakte.

Dieser Kerl war wirklich eine Plage. Und jetzt war er in Chicago aufgetaucht. Die Frage war, was das für die Organisation bedeutete. Gucci hatte ja geschrieben, dass McCoy im Besitz der Papiere sei, um die es bei der Auseinandersetzung zwischen Scalise und Aurelio ging. Was auch immer in diesen Papieren stand – sie befanden sich eindeutig in den falschen Händen.

Gucci war zwar ein guter Mann, doch ob er gut genug war, mit diesem McCoy fertig zu werden, war fraglich. An diesem Kerl hatten sich schon andere die Zähne ausgebissen. Andererseits war die Gelegenheit günstig, diesen Typ ein für alle Mal zu erledigen. Gucci brauchte vielleicht nur ein bisschen Unterstützung.

Der Mann blätterte in einem Notizbuch. Sein Finger glitt über Namenskürzel und Telefonnummern.

Nach einem letzten und nicht gerade freundlichen Blick auf das Polaroid-Foto wählte er eine Nummer.