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12. Kapitel

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„Ich kann nicht sagen, dass ich zufrieden bin.“ Lucio Aurelio biss wütend auf einem Zigarrenstummel herum.

Carlo Coletti wischte sich mit einem blütenweißen Tuch den Schweiß von der Stirn. Er musste sich eingestehen, dass die letzten Aktionen nicht sonderlich erfolgreich waren. „Wir haben Pech gehabt“, stellte er fest.

Aurelio hieb mit der Faust auf den Tisch. „Mist!“, schrie er. „Wir haben sie alle beide vor den Läufen, und sie entkommen! Wie ist das möglich? Bin ich denn nur von Idioten umgeben? Muss ich denn alles allein machen? Ich dachte, ich könnte mich auf meine Leute verlassen. Doch es scheint sich ausschließlich um Amateure zu handeln.“

Coletti war nervös. Er zupfte sich ein unsichtbares Stäubchen von seinem dunkelgrünen Anzug. Er trug dazu ein hellgrünes Hemd mit einer nicht ganz dazu passenden gelben Krawatte. „Dieser Typ ist mit allen Wassern gewaschen und kennt eine Menge Tricks.“

„Na und?“, blaffte Aurelio. „Rede dich bloß nicht heraus. Du hast mir versprochen, dass es leicht sein wird, wenn ich dir genügend Leute zur Verfügung stelle. Das habe ich getan, und es hat mich eine Menge Geld gekostet. Das bringt Umsatzeinbußen, weil mir die Männer bei den sonstigen Geschäften fehlen. Diesen Zustand kann ich nicht lange aufrechterhalten. Wenn die anderen Familien erfahren, wie mich ein einzelner Mann ständig aufs Kreuz legt, lachen sie sich tot. Die warten doch nur auf eine solche Gelegenheit.“

„Es tut mir leid.“ Colettis Stimmer klang bedauernd. „Und die Sache mit Gucci ist doch nur passiert, weil wir den anderen irrtümlich für Gucci hielten. Wir konnten doch nicht ahnen, dass sich die beiden gemeinsam in dem Haus aufhielten. Ich muss gestehen, dass ich ein bisschen verwirrt bin, weil ich nicht weiß, was die beiden plötzlich miteinander zu tun haben.“

Aurelios Gesichtsfarbe hatte wieder eine normale Tönung angenommen, nachdem sein erster Zorn verraucht war. „Wir müssen sie umlegen, dann kann es uns egal sein, was sie miteinander treiben. Ich möchte dieses Thema endlich erledigt sehen, damit wir unseren normalen Geschäften wieder nachgehen können.“

Es klopfte, und eine ältere Frau steckte den Kopf zur Tür herein. „Da ist ein gewisser Mister Gucci, der dich sprechen will, Lucio.“

Aurelio fuhr wie von einer Tarantel gestochen hoch. „Wer?“, kreischte er.

„Gucci, hat er gesagt. Ernesto Gucci. Er steht draußen in der Halle. Zwei von deinen Jungs passen auf ihn auf, damit er nicht irgendetwas mitgehen lässt. Man weiß das ja nie, heutzutage.“ Sie verschwand.

„Das darf doch nicht wahr sein.“ Aurelio wirkte erschüttert.

Coletti bewegte die Lippen, brachte aber keinen Ton heraus. Die Überraschung hatte ihm die Sprache verschlagen.

„Da suchen meine Leute nach diesem Kerl die halbe Stadt ab, und er spaziert unverfroren in mein Haus und will mich sprechen. Der Kerl ist ziemlich abgebrüht.“

„Er weiß ja nicht, dass wir ihn auf der Liste haben“, sagte Coletti.

Aurelio lachte. „Das wird er schon noch merken. Aber dann dürfte es zu spät sein.“

Coletti zog seine Pistole. „Soll ich ihn umlegen? So leicht kriegen wir ihn nie wieder vor die Mündung.“

„Bist du verrückt?“, brüllte Aurelio. „In meinem Haus! Der hat doch sicher hierher eine Spur gelegt so breit wie ein Highway. Außerdem sollten wir uns erst einmal anhören, was er uns zu sagen hat. Er muss schon einen triftigen Grund haben, wenn er sich hierherwagt.“

Coletti steckte seine Waffe wieder ein. „Ich hole ihn.“

„Welche Überraschung“, säuselte Aurelio, als Gucci das Zimmer betrat. Er hatte ein honigsüßes Lächeln auf sein Gesicht gezaubert und streckte beide Hände aus.

„Ich bin nicht gern zu Ihnen gekommen, doch ich musste es tun“, begrüßte ihn der Vollstrecker übergangslos. „Vorher wollte ich Ihnen noch sagen, dass Sie es lassen sollten, Ihre Killer hinter mir herzuschicken. Das letzte Mal ist es schiefgegangen, und nun weiß ich es. Wenn Sie einen Mann umlegen wollen, muss es beim ersten Mal klappen, sonst gibt es hinterher immer Schwierigkeiten.“

„Aber ich ... ich habe ...“, stammelte Aurelio und warf Coletti einen mörderischen Blick zu.

„Vergessen wir das“, unterbrach ihn Gucci. „Wir müssen nämlich ab sofort zusammenarbeiten. Es wird Ihnen nicht schwerfallen, wenn ich Ihnen darlege, warum, da unsere Interessen in diesem Falle gleichgelagert sind. Und ich darf ihnen noch sagen, dass die Lösung unseres gemeinsamen Problems auch von den großen Bossen mit Wohlgefallen betrachtet würde. Wenn es uns gelingt, das Problem aus der Welt zu schaffen, wird die Commissione über manches hinwegsehen, was in der letzten Zeit in Chicago passiert ist. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Aurelios Gesicht hatte sich bei diesen Worten immer mehr verdüstert. Er begriff, dass Gucci ihn voll durchschaut hatte. Aber jetzt brauchte er offenbar seine Hilfe. Ein interessanter Aspekt.

„Um was für ein Problem handelt es sich denn?“, fragte er.

Gucci verzog das Gesicht. „In dieser Stadt läuft ein Mann herum, der Ihnen und mir ein Dorn im Auge ist.“

„Sie meinen doch nicht etwa diesen Kerl, den ich schon seit Tagen jage? Er besitzt etwas, das mir gehört.“

„Darüber könnte man sicher streiten, aber es handelt sich um denselben Mann.“

„Sie waren doch mit ihm zusammen“, warf Coletti ein. „Als es zu diesem ... äh ... diesem unglücklichen Zwischenfall kam.“

„Ja, ich hatte ihn erwischt und gefangengenommen, aber dann kamen Ihre Leute dazwischen, und er konnte sich befreien.“

Aurelio hob die Hand. „Das mit meinen Leuten war anders. Wir haben ...“

„Hören Sie doch auf, sich rauszureden“, unterbrach ihn Gucci. „Ich sagte doch, dass die Angelegenheit vergessen ist, sofern Sie nicht einen zweiten Versuch unternehmen.“

Aurelio zog ein beleidigtes Gesicht, um diese Unterstellung abzuwehren. Es gelang ihm nicht sehr überzeugend. „Was ist nun mit diesem Kerl?“

Gucci trat zum Fenster und blickte auf das Grundstück, das mit seinen Bäumen und Hecken den Straßenlärm fernhielt. „Ich habe ein Foto von ihm nach New York geschickt, weil mich interessierte, wer dieser Kerl ist. Er gehört nicht zu den Familien hier, und ich dachte, dass er irgendetwas mit der Organisation zu tun haben muss. Es wäre ja möglich, dass man ihn in New York kennt.“

„Und?“, fragte Aurelio mit flacher Stimme.

Coletti hatte die Hand immer noch in der Nähe seines Pistolengriffs und starrte gebannt auf den Vollstrecker. „Ja. Wer ist es?“

Gucci drehte sich herum. „Er heißt Steve McCoy.“

In der Stille, die folgte, hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören.

„Nein“, bemerkte Aurelio schließlich. „Das darf einfach nicht wahr sein. Das gibt es nicht.“

„Sie haben den Namen schon gehört?“, erkundigte sich Gucci.

Aurelio nickte. „Natürlich. Er soll schon ziemlich viel Schaden angerichtet haben.“

„Ja, Das hat er. Er gehört zu einer streng geheimen Abteilung des Justizministeriums, über die man sehr wenig weiß. Man denkt, dass er weitreichende Vollmachten besitzt. Aber viel mehr weiß man nicht über ihn.“

„Und dieser Kerl treibt sich in unserer Stadt herum!“ Lucio Aurelio war sichtlich erschüttert. „Ich habe vorher nie etwas mit ihm zu tun gehabt, und ich habe auch nie ein Bild von ihm gesehen.“

„So gefährlich kann ein einzelner Mann doch gar nicht sein“, bemerkte Coletti abfällig.

Gucci fuhr herum. „Sie haben keine Ahnung. Diese Meinung hatten eine Menge guter Männer. Doch sie leben jetzt nicht mehr oder sitzen im Gefängnis. Dieser McCoy ist eine wahre Pest. Außerdem scheint er einen Schutzengel zu haben. Es gab viele Versuche, ihn auszuschalten – bis jetzt hat es noch nicht geklappt. Die Commissione würde viel dafür geben, wenn er endlich von der Bildfläche verschwindet.“

Coletti schwieg und fummelte an seiner Pistole herum. Dieser Gucci ist ein ziemlich arrogantes Ekel, dachte er. Aber es war vermutlich besser, jetzt den Mund zu halten.

Aurelio verschränkte die Arme hinter dem Rücken und marschierte nervös auf und ab. „Sie schlagen also vor, dass wir ihn gemeinsam jagen?“

Gucci nickte. „Das ist mein Job. Ich könnte jedoch die Hilfe Ihrer Organisation gebrauchen.“

„Sicher. Meine Leute durchsuchen die ganze Stadt. Wir haben ein dichtes Netz geknüpft. Es wird ihm nicht leichtfallen, die Stadt zu verlassen. Er hat keinen Wagen, das wissen wir. Und wir haben so ziemlich jedes Unternehmen der Leihwagenbranche informiert, dass wir einen bestimmten Mann suchen. Außerdem überwachen wir die Bahnhöfe und Flughäfen und haben eine ganze Reihe von Taxifahrern auf unserer Liste. Gestern hätten wir ihn fast erwischt, aber er hat gemerkt, dass der Fahrer eine Nachricht durchgegeben hat.“

„Er ist also immer noch in der Stadt?“

Aurelio nickte. „Er will sicher noch die Papiere holen. Er muss sie irgendwo versteckt haben, vielleicht in einem Schließfach.“

„Das ist unsere Chance“, überlegte Gucci. „Er ist allein, und wir haben zahlreiche Informanten. Mit ein bisschen Glück geht er uns ins Netz. Ich warte, bis Ihre Leute eine Spur finden, dann schalte ich mich ein. Ein zweites Mal entkommt er mir nicht.“

Aurelio lachte. „Sie brauchen sich ja nicht lange mit ihm zu unterhalten. Einfach eine Kugel in den Kopf, und der Fall ist erledigt.“

„Dazu brauchen wir eigentlich keinen Profi aus New York“, warf Coletti ein. „Bisher sind wir mit unseren Gegnern immer noch selbst fertig geworden, und da gab es auch ein paar harte Brocken.“

„Du brauchst nicht beleidigt zu sein, Carlo. In so einem Falle nehme ich jede Hilfe, die ich kriegen kann. Und außerdem“, er wandte sich zu Gucci, „würde es der Commissione gut gefallen, wenn wir diesen McCoy umlegen. Das haben Sie doch gesagt?“

„Ja. Ich habe heute einen Anruf erhalten, und man hat sich in dieser Beziehung klar ausgedrückt. Wenn wir mit Ihrer Hilfe McCoy erwischen, wird die Commissione vergessen, dass Sie hier den wilden Mann gespielt haben. Ein toter McCoy ist eben einiges wert.“

„Das klingt gut“, sagte Aurelio nachdenklich. „Es könnte nicht schaden, bei den großen Bossen ein paar Freunde zu haben. Also gut, wir arbeiten zusammen.“

Er streckte Gucci die Hand entgegen, die dieser zögernd ergriff. Der Bund der Killer war beschlossen.

Gucci wandte sich an Coletti. „Teilen Sie Ihren Leuten mit, wie es jetzt mit uns steht, damit mich nicht doch einer aus dem Hinterhalt abknallt, wenn ich jetzt durch die Tür gehe.“

„Das hatten wir noch nie vor“, wandte Coletti mit krampfhaftem Lächeln ein.

„Das ist eine ziemliche Unterstellung“, fügte Aurelio hinzu. „Doch es ist vielleicht besser, wenn wir diese Diskussion nicht fortsetzen. Ich finde, wir sollten die alten Geschichten begraben. Schließlich haben wir jetzt ein gemeinsames Ziel.“

„Die alten Geschichten sind zwar erst einen Tag alt.“ Ernesto Gucci lächelte. „Aber ich stimme Ihnen ausnahmsweise zu. Denken wir lieber daran, dass wir diesen Kerl schnappen. Ich werde diese Stadt nicht eher verlassen, bis McCoy tot ist.“

Coletti grinste und klopfte auf seine Pistole. „Wir werden uns auch Mühe geben, lieber Freund. Ich bin gespannt, wer von uns ihn eher erwischt. Wir könnten darauf wetten.“

Gucci schüttelte den Kopf. „Solche idiotischen Wetten liegen mir nun wirklich nicht. Wir werden ja sehen.“

Sie nickten sich zu. Ihr Ziel war ein einziger Mann, und sie würden alles daransetzen, ihn zu stellen und zu töten. Es war kein Hass, der sie antrieb. Aber Steve McCoy war ein erheblicher Störfaktor in ihren Plänen, und Störfaktoren mussten ausgeschaltet werden. Das gehörte zur Philosophie des Mobs, in der ein Menschenleben keine Rolle spielte. Alles war ein Geschäft, und wenn ein Geschäft Blutopfer verlangte, dann musste es eben gebracht werden.

Der Tod gehörte mit zum Geschäft dieser Männer, und wenn es sein musste, teilten sie ihn freigebig aus.