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14. Kapitel

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Wir haben ihn“, sagte Carlo Coletti zufrieden.

„Wen?“, knurrte Aurelio unwillig.

„Diesen Steve McCoy. Er wäre uns fast wieder durch die Lappen gegangen, doch im letzten Moment ist Gucci aufgetaucht und hat ihn sich geschnappt.“

„Das ist die beste Nachricht seit Langem“, meinte Aurelio erfreut und stemmte sich aus seinem Sessel hoch.

Carlo Coletti gab ihm eilig Feuer, als Aurelio die erloschene Zigarre zwischen die Zähne steckte.

„Wo ist er jetzt?“, erkundigte er sich und paffte an seiner Zigarre, bis die Spitze rot aufglühte.

„Sie kommen hierher“, erklärte Carlo.

„Ist er sicher bewacht?“, wollte Aurelio wissen.

„Natürlich!“, nickte Coletti. „Vier von unseren Jungs sind bei ihm – und Gucci natürlich.“

„Es wäre vielleicht besser, wenn er nicht gerade hierher kommt“, dröhnte Aurelio. „Hier ist es viel zu riskant. Wir müssen ihn an einen anderen Platz bringen. Hat er die Papiere bei sich?“

Coletti nickte. „Er hat in der Central Station eine Metallkassette aus einem Schließfach geholt. Bis jetzt hat sich noch keiner den Inhalt angesehen.“

„Das soll auch so bleiben“, knurrte Lucio Aurelio. „Diese Papiere gehören mir, und ich will sie mir als Erster ansehen. Sie gehen keinen anderen etwas an.“

„Ich habe eine Idee“, verkündete Coletti.

„Raus damit!“

„Ich weiß, wo wir diesen McCoy hinbringen können. Dort wird er spurlos verschwinden, ohne dass jemals wieder ein Hahn nach ihm kräht.“

„Und wo soll das sein?“

Coletti grinste. „Sie wissen es vielleicht gar nicht, Boss, aber zu unseren Geschäften gehört auch ein Schrottplatz.“

„Sicher weiß ich das!“, fuhr Aurelio hoch. Er gestand sich ein, dass er diese Tatsache vergessen hatte. Coletti hatte natürlich recht. Der Schrottplatz befand sich ziemlich abgelegen in einem Industriebezirk im Norden der Stadt. Die Gewinne, die dort erzielt wurden, waren nicht der Rede wert, sodass er sich nicht um den Betrieb kümmerte. Er gehörte zu den legalen Unternehmungen der Familie. Einer seiner Vorgänger hatte ihn irgendwann einmal gekauft, um vor dem Finanzamt ein regelmäßiges Einkommen nachweisen zu können.

„Und was machen wir dort mit McCoy?“

Coletti zeigte seine Zähne. „Auf dem Schrottplatz werden auch Autowracks verarbeitet. Es gibt dort eine ziemlich moderne Presse, die aus einem Straßenkreuzer ein handliches Paket herstellt. Das verkaufen wir dann zur Wiederverwertung an die Stahlschmelzen. Im Übrigen haben wir dort auch noch ein paar andere Geräte, mit denen man größere Teile zu einer beliebigen Stückzahl zerkleinern kann.“

Aurelio nickte. „Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Die Idee scheint mir nicht ganz neu, aber sehr gut. Okay, wir fahren hin.“

„Sie wollen mitkommen?“, erkundigte sich Coletti.

„Glaubst du, das lasse ich mir entgehen? Das Begräbnis von Steve McCoy ist ein Feiertag für uns. Wir sollten einen Film darüber drehen. Die Commissione wird uns für den Streifen eine Menge Geld zahlen, und zur Premiere würde es ein ziemlich volles Haus geben.“

Coletti lächelte. „Sie haben immer noch verdammt viel Phantasie, Boss.“

„Deswegen bin ich auch der Boss. Carlo, du fährst den Jungs entgegen und fängst sie vor meinem Haus ab. Ich möchte diesen Kerl nicht hier in der Nähe haben. Dann fahrt ihr sofort zu diesem Schrottplatz. Ich nehme an, dass wenigstens einer meiner Leute den Weg kennt.“

Coletti nickte eifrig. „Ich weiß natürlich, wo der Schrottplatz liegt. Wir haben dort manchmal den einen oder anderen unserer Leute als Arbeitskraft untergebracht, wenn die Polizei blöde Fragen stellte.“

„Dann los! Und passt mir bloß auf, dass dieser Mistkerl uns nicht wieder durch die Lappen geht. Unterschätzt ihn nicht und lasst ihn keine Sekunde aus den Augen. Ich möchte, dass mindestens zwei Mann immer ihre Waffen auf ihn gerichtet halten.“

„Geht in Ordnung, Boss.“

Aurelio rieb sich die Hände. „Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Gucci ihn tatsächlich kriegt.“

Coletti verzog das Gesicht. „Der Typ hat eben Glück.“

„Ist mir egal. Aber er hat ihn erwischt.“

„Nur mit unserer Hilfe.“

„Ach, sei still. Ich kann diesen Gucci auch nicht leiden. Doch wir brauchen ihn, um bei der Commissione ein paar Pluspunkte zu sammeln. Damit sind wir die mächtigste Familie in Chicago. Wenn wir vorsichtig sind, können wir noch weit mehr kontrollieren als jetzt.“

„Da sind auch noch die geheimnisvollen Papiere“, ergänzte Coletti.

„Auch die haben wir. Ich bin gespannt, was der alte Capone uns mitzuteilen hat. Es wird schon wichtig sein.“

Vor Aurelios Augen erschien eine Vision. Er würde ganz Chicago kontrollieren. Vielleicht mehr als das. Auch Al Capone hatte die ganze Stadt beherrscht. Sicher, damals waren die Verhältnisse anders. Trotzdem, die Geschichte wiederholte sich oft genug. Ihm durfte nur kein Fehler unterlaufen.

Eines Tages würde man ihm auch einen Platz in der Commissione zubilligen. Dann würde er ganz oben sein, fast unangreifbar. Er würde die Fäden in der Hand halten, die Macht über Leben und Tod haben, und er würde an den ganz großen Geschäften beteiligt sein.

Bis jetzt schwindelerregende Vorstellungen, aber man musste so denken, wenn man nach oben kommen wollte. Er war noch jung genug, und er war jetzt schon mächtig. Das alles reichte jedoch noch lange nicht, er wollte viel mehr.

Die Hindernisse, die auf dem Weg lagen, mussten eben beseitigt werden. So wie dieser Steve McCoy. Nein, Lucio Aurelio ließ sich auch von einem McCoy nicht stoppen. Andere vielleicht, doch nicht er. McCoy würde spurlos verschwinden, so, als hätte es ihn nie gegeben.

Wer weiß, vielleicht war er eines Tages gar Boss aller Bosse. Der Capo di tutti Capi! Derzeit gab es ihn nicht, weil keiner der großen Bosse allein über so viel Macht verfügte. Das musste jedoch nicht für alle Zeiten so bleiben.

Aurelio seufzte leise. Er musste schlau vorgehen. Es hatte keinen Sinn, alles auf einmal erreichen zu wollen. Erst Chicago. Dann würde man weitersehen. Er hatte noch Zeit.

„Worüber denken Sie nach?“, fragte Coletti.

„Über die Zukunft. Ich will dir was sagen, Carlo. Sie sieht nicht schlecht aus. Wir haben noch einiges vor uns.“

„Richtig“, nickte Coletti. „Steve McCoy wartet auf uns.“

„Na, dann los, bringt ihn zum Schrottplatz!“

Aurelio lächelte. Er konnte nicht erwarten, dass Carlo begriff, was Aurelio dachte. Er war nur ein Werkzeug, weiter nichts. Aber Werkzeuge wurden gebraucht. Bis man sie wegwarf.