Kapitän Mosiek steuert das Boot am Düsseldorfer Messegelände vorbei und drosselt die 800 PS starke Dieselmaschine herunter.
Wieder mal Überstunden. Und dann auch noch die Schreibarbeit im Stützpunkt der Wasserschutzpolizei. Kurz vor Schichtende, um 17 Uhr 30, hatte es am Stromkilometer 752, oben am Leuchtenburger Ort, geknallt. Die elektrische Ruderhilfe eines holländischen Binnentankers hatte ihren Geist aufgegeben. Am rechtsrheinischen Ufer auf Grund gelaufen, strömten aus einem schmalen Riss im Mittschiff des Havaristen kurzzeitig mehrere hundert Liter schweres Heizöl in den Strom. Sie hatten alle Hände voll zu tun gehabt, aber mit Hilfe der Feuerwehr war es der Besatzung von WSP 2 gelungen, eine größere Umweltkatastrophe zu verhindern.
Noch mal gutgegangen. Diesmal. Mit müden Augen starrt Mosiek auf den im Schein der Stadtlichter schimmernden Strom. Er kennt das hier alles auswendig. So ein schöner Apriltag. Warm war es bis in den Abend gewesen. Über zwanzig Grad. Sie hätten mit dem Motorrad raus fahren können. Irgendein Biergarten wäre vielleicht auf gewesen und ...
„Soll ich da drüben noch mal drauf halten? Vorsichtshalber?“ Die Stimme von Ute Wolff reißt ihn aus seinen Gedanken.
Der Bootskapitän weiß, was mit „da drüben“ gemeint ist. Da liegen seit einigen Monaten die vier sogenannten Übersiedlerschiffe. Nach Öffnung der innerdeutschen Grenzen waren die Leute in einem gewaltigen Strom aus der DDR ins gelobte Land gekommen. Die Ostler aus Magdeburg, Glauchau und Stralsund. Anfangs ging das ja noch an, aber später war viel Pack dabei gewesen. Amnestierte Kriminelle, Profis, Alimentenflüchtlinge und sonstiges Gelichter. Und das alles in engen Schiffskabinen zusammengepfercht, ergab natürlich ein explosives Gemisch. So war denn auch kaum ein Tag vergangen, an dem es nicht zu irgendwelcher Randale auf den Dampfern gekommen war. Meistens im Suff. Was sollten die Leutchen auch sonst machen.
„Mm. Schmeiß mal ’ne Ladung Leuchtstoff rüber, Wölfchen!“, gibt Mosiek die Anweisung zum Einsatz des starken Scheinwerfers an die Polizeiobermeisterin.
Der grelle Lichtkegel fingert über das Wasser und streicht langsam an den Aufbauten der Passagierschiffe entlang. Zum Glück ist alles ruhig. English Lady leuchtet der Name am Bug des letzten Schiffes im Schein des Werferstrahls auf.
„Das war’s. Ab nach ... Halt!“
Gerade als Mosiek das Signal zum Abbruch der Aktion geben will, erfasst das Licht einen aus dem dunklen Wasser herausragenden Gegenstand.
„Festhalten!“, befiehlt er rau die Einstellung des Scheinwerfers und steuert WSP 2 längsseits des am Ufer vertäuten Dampfers.
„Mist, verdammter!“, knurrt Hauptmeister Werhahn, der gerade seine Sachen in der Kajüte zusammenpackt. „So ein beschissener Tag aber auch!“
Mit Hakenstangen hieven sie den Gegenstand an Bord.
Kurz nach neun Uhr abends unterrichtet Kommissar Mosiek auf dem 2-Meterband die Düsseldorfer Station vom Auffinden einer männlichen Wasserleiche längsseits der English Lady.
*
ZIGARREN HABEN EINEN großen Nachteil.
Am Morgen danach hängt der kalte Nachhall abendlichen Vergnügens immer ekelhaft in sämtlichen Wohnungswinkeln. Leider machen auch kubanische Importe da keine Ausnahme. Und um dem unausweichlichen Geschimpfe seiner Haushälterin zu entgehen, hat Benedict die großen Schiebefenster zur Rheinseite hin geöffnet und sich zum Schutz gegen die herein dringende Abendkühle in eine Decke gewickelt. Leicht fröstelnd nach dem fast sommerlich warmen Tag, versucht er die Buchseite um zu blättem.
Aus dem Radio klingt leiser Gesang herüber. Johnny Cash mit einer seiner Balladen. Sein USA-Urlaub existiert nur noch in verklärten Erinnerungs-Clips und ein paar hundert Fotos, die er dringend irgendwo einordnen müsste. Wahrscheinlich wird es niemals geschehen. Wie mit allen bisherigen Fotos. Manchmal sind unter diesen Memory-Clips auch ein letzter Tag in Los Angeles und ein ertrunkener US-Cowboy namens Dean Sanger. Aber beim Aufwachen hat Benedict das meistens wieder vergessen.
Ärgerlich zieht er die herabgerutschte Decke über die Schultern, um sich dann wieder auf den Lesestoff zu konzentrieren. Aber irgendwie dringt doch immer etwas feuchte Zugluft vom Rhein durch den nicht ganz abschließenden Wollstoff, und beim Versuch, sich richtig einzumummeln, fällt das schwere Buch auf den Boden. Da liegt er also zu seinen Füßen, der „Adler von Lübeck“, das gewaltigste Kriegsschiff der Deutschen Hanse. In einem letzten Anfall von Großmannssucht hin geklotzter 3000 Tonnen Segler mit 1500 Mann Besatzung und über 100 Geschützen. Ein Dinosaurier mit Segeln. Und wie diese nicht überlebensfähig.
Seufzend beschließt Vitus H. Benedict Verzicht und lässt die „Schicksale berühmter Segelschiffe“ auf dem Boden liegen. Von draußen dringen die üblichen Nachtgeräusche herein. Eine Straßenbahn rumpelt über die Rheinbrücke, auf dem Fluss blubbert ein Frachtkahn vorbei, und irgendwo fällt ein Wagenschlag zu. Die Normalität schließt ihm die Augen. Dösend fällt er in leichten Halbschlaf, aus dem ihn das Geräusch des Telefons hochschreckt.
„... Ja, hallo!“, murmelt Benedict zerknittert in den Hörer. Nach einem kurzen Räuspern dann aber doch mit festerer Stimme: „Ja, Benedict!“
„Hier ist die Leitstelle. Die Wasserschutzkripo hat einen Toten aus dem Rhein gefischt. Sache fürs K1 und für Sie!“
Fröstelnd wurstelt sich Benedict aus seiner Vermummung und fährt mit dem Aufzug runter in die Tiefgarage, wo sein Jaguar steht. Wie oft hatte er in den letzten Jahren daran gedacht, das unzeitgemäße Fahrzeug gegen etwas Kleines, Unauffälliges umzutauschen. Es war nicht nur sein wohl angeborener Hang zum Luxus, der ihn immer wieder daran gehindert hatte. Dieses für einen Polizisten viel zu teure Gefährt war das Hochzeitsgeschenk seiner Frau Kitty gewesen. Der elegante Jaguar bedeutete ihm zu viel, als das er ihn so einfach weggeben konnte.
Eine Art rollende Erinnerung, die ihn immer noch mit der bei einem Bergunfall ums Leben gekommenen Gefährtin verbindet. Er hatte die abweisenden Berge nie gemocht. Außer manch schiefem Kollegenblick hatte ihm das Fahrzeug aber auch noch eine gewisse Bekanntheit gesichert, die sich bei mancherlei Anlässen als hilfreich erwies.
Drüben auf der anderen Rheinseite weisen ihm kreisende Blaulichter den Weg zum Hafen. Der Liegeplatz der Übersiedlerschiffe ist weiträumig abgesperrt, aber Benedict kommt mit seinem Wagen fast bis an die Hafenmauer heran.
In der Helle des Notarztwagens kann er noch einen Blick auf den Toten werfen. Natürlich. Turnschuhe und stonewashed Jeans. Outfit der Zukurzgekommenen.
„Ertrunken?“
„Ja, schon“, antwortet der Mediziner zögernd.
„Aber?“
„Könnte auch schon vorher tot gewesen sein. Bei den Verletzungen.“ Der Mann im weißen Anzug schiebt das Plastiktuch zur Seite, und jetzt sieht auch Benedict, was der Arzt damit meint. Kopf und Oberkörper des Toten sind mit dunklen Flecken und offenen Wunden übersät.
Als Benedict dem in die Nacht davonfahrenden Notarztwagen nachsieht, werden seine Erinnerungen derart provoziert, so dass er die Stimme dieser Amerikanerin im Downtown Holiday Inn ganz deutlich sagen hört: „Dean Sanger wurde ermordet von der Stasi. In einem See bei Ost-Berlin!“
Es ist kurz nach Mitternacht, als er schließlich das Deck der English Lady betritt.
„Na, auch schon auf?“, versucht er sich an einem Scherz, aber der frischgebackene Kommissar Ganser kann darüber nicht lachen.
„Bereitschaftsdienst!“, bellt er rau, und das kalte Licht der Deckenleuchten hebt die dunklen Arbeitsringe unter den Augen hervor.
„Ich hab’s doch gesagt“, murmelt der Dreißigjährige in der Lederjacke, als sie zusammen die Stufen zum Unterdeck heruntersteigen, „mit denen wird’s noch Ärger geben! “
Benedict reagiert mit einem abweisenden Knurrlaut.
„Und sonst?“, fährt er seinen langjährigen Mitarbeiter in ungewöhnlich scharfem Tonfall an.
„Wir haben eine komplette Liste der Leute hier vom Boot. Sind fast alle da und werden jetzt nach und nach im Restaurant einvernommen.“
„Wir sind hier auf'm Schiff. Da heißt das Messe, du Landratte!“
„Wenn schon“, muffelt Ganser mürrisch. Unten angekommen, ärgert Benedict sich über sein rüffeliges Verhalten. Es sieht wirklich nicht wie auf einem Schiff aus. Eher wie in einem überfüllten Ausflugslokal. Die Leute vom K I haben sich über den Raum verteilt. Sitzen an den nackten Kunststofftischen, wo sie gerade die Erstbefragungen des Schiffspersonals durchführen. Die Luft ist schon jetzt stickig. Zigarettenqualm mischt sich mit öligem Dieselgeruch, dem Mief nasser Wäsche und abgestandenem Bierdunst. Den K1-Leiter würgt es in der Magengegend. Wenigstens hat die Leitstelle seine wichtigsten Leute aufgetrieben, registriert Benedict befriedigt. Ganser, der ja sowieso Bereitschaft hatte, Doemges, Läppert und die Leiden-Oster. Alte Hasen, die garantieren, dass hier nichts schiefläuft.
Als ein Aggregat mit lautem Dröhnen anspringt, vermutlich die Klimaanlage, fangen ihm die Augen an zu tränen. Das würde wieder eine dieser üblen Nächte werden.
Er nickt seinen Leuten kurz zu und setzt sich ebenfalls an einen der freien Vernehmungstische. „Hat mal jemand einen Block für mich?“
Der junge Beamte bringt mit dem Schreibblock auch gleich eine strohblonde Frau zur Befragung an seinen Tisch.
„Na, wo sind Sie denn her?“, versucht er die Atmosphäre zu lockern.
Irgendwann hatte ja so was mal kommen müssen, aber als es jetzt wirklich passiert und der ihm immer noch vertraute, breite pommersche Dialekt an sein Ohr dringt, bleibt ihm doch fast die Luft weg.
„Aus Greifswald.“ Wohl aus Gewohnheit schiebt sie noch rasch hinterher: „Das liegt an der Ostsee, im Norden der DDR, Bezirk Rostock.“
„Das brauchen Sie mir nicht zu erklären!“, reagiert er heute schon zum zweiten Mal unangebracht heftig.
*
DER MAI VERSUCHT DEN April wieder einzuholen.
Kleine, scharfe Regenschauer prasseln vom Rhein her gegen die Fenster. Kühle Zuglüfte zerren an den verzogenen Holztüren des Polizeipräsidiums und lassen den aschblonden Endvierziger am Schreibtisch leicht schaudern. Der alte Bau ist zwar erst kürzlich renoviert worden, bot aber auch danach nicht den Komfort eines Neubaus.
Benedict rührt gedankenverloren in seiner Tasse kalten Lapsong Souchong Tee herum und blättert dabei reichlich lustlos in den Befragungsprotokollen der vergangenen Wochen. Wenigstens die K 1-Crew scheint sich wie Bolle zu amüsieren. Durch die angelehnte Tür schallt wieherndes Gelächter in das Dienstzimmer des K 1-Leiters. Verursacher dieser Heiterkeit ist, wie häufig im vergangenen Monat, Kommissar Gernot Ganser, der aus seinem schier unerschöpflichen Fundus sogenannter Ossi-Witze wieder mal ein paar Geschmacklosigkeiten zum Besten gibt.
„Also noch einer ... passt auf...“
Benedict erhebt sich von seinem langweiligen Schreibtischplatz und geht ins Nebenzimmer, wo er sich neben der Verbindungstür mit dem Rücken an die Wand lehnt.
Ganser stockt etwas irritiert in seinem Vortrag, fährt aber nach einem vergewissernden Blick auf das Gesicht des Vorgesetzten fort. „Also, wie nennt man es, wenn zehn Mercedese zusammenstoßen? ... Krieg der Sterne! ... Und wenn zehn Trabis Zusammenstoßen? ... Eine Tupper-Party!“
Auch der Mann an der Wand kann sich ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen. Er, der mit seinem Eintritt Schlimmeres verhüten wollte, muss zugeben, dass das keiner von der üblen Sorte war. Manche der zur Zeit auch unter den Kollegen belachten Ossi-Witze sind von einer Qualität, die ihn an die rohen und brutalen sogenannten Türkenwitze der Vorwendezeit erinnerten. Zu deren Hochzeit hatte der K 1-Leiter sogar zu einem schriftlichen Umlauf greifen müssen, in dem er für das Erzählen dieser nicht selten menschenverachtenden Witze innerhalb der Diensträume disziplinarische Maßnahmen androhte. Der Erfolg dieser Anweisung war allerdings nie zu kontrollieren gewesen, aber wenigstens in seinem näheren Dienstbereich kehrten danach halbwegs zumutbare Zustände ein. Freunde, nein, Freunde hatte er sich damit nicht gemacht
„Noch einer“, sagt Ganser, vom Gelächter der Kollegen angespomt, „zwei, drei Tage nach Maueröffnung kommen die ersten Wessis mit dem Auto nach drüben. Fragt der Vopo an der Grenze einen Audi-Fahrer: ,Nu, was’n das für’n Audi?' Sagt der Fahrer: ,Ein Quattro!' Kratzt sich der Vopo am Kopf. ,Quattro? Das hääßt doch viere, ne war?' Der Wessi nickt. ,Und wieso sitzen da fümfe drinnen?““
Als die kollektive Lachsalve erschallt, sitzt der Hauptkommissar schon wieder an seinem Schreibtisch über den Vemehmungsprotokollen.
Zwei oder drei Pointen später befreit ihn das Telefon von seinen lustlosen Bemühungen. „Können Sie mal ’s Oberdeck entern, Benedict?“ Die Stimme des Leitenden Kriminaldirektors ist ziemlich barsch unterlegt.
„Was nich’ in Ordnung, Leitender?“
„Brauchen Sie eine Fax-Einladung, Herr Hauptkommissar?“, kommt es jetzt noch steifer aus dem Hörer.
Das hört sich gar nicht gut an. Benedict hat zu seinem nächsten Vorgesetzten sonst ein sehr gutes Verhältnis, und manches Wochenende hat er schon gemeinsam mit dem „Leitenden“ auf dessen Schiff im Ijsselmeer verbracht. Fachsimpelnd über Tampen und Knoten und „Seefahrt tut Not“ und den von Benedict angeschleppten Burgunder flaschenweise leerend. Aber das jetzt klingt nach ziemlich rauer See.
„Habt ihr noch was gefunden?“, versucht er sich bei seinen Leuten für eventuelle unangenehme Fragen zu wappnen. Das traurige Kopfschütteln der eben noch so laut lustigen Kollegen Ganser, Leiden-Oster & Co. veranlasst Benedict die Barschheit des „Leitenden“ ungefiltert weiterzugeben: „Wenn Ihr meint, Ihr könnt hier ,Lach- und Schießgesellschaft' spielen, dann müsst Ihr euch irgendwo mehr zahlendes Publikum besorgen! Solange der Staat euch bezahlt, macht, verdammt noch mal, eure Arbeit vernünftig!“
Als er wütend die Tür hinter sich zuknallt, glaubt er zu wissen, dass Ganser ihm jetzt da drinnen den Vogel zeigen wird. „Der Alte spinnt in letzter Zeit, findet ihr nicht?“
*
ES IST EINER DER DICKEN Neumann-Zwillinge, der kopfschüttelnd auf die im Rahmen vibrierende Tür starrt, während sein Bruder dem Satz durch eine entsprechende Handbewegung an die Stirn zusätzlich Ausdruck verleiht.
Es ist Gernot Ganser, dessen dunkle Augen sich zu engen Sehschlitzen verdichten, zischt scharf heraus: „Moment mal! Wir machen hier seit Wochen an dieser idiotischen Ossi-Leiche rum, kommen keinen Schritt weiter, und er muss sich außer meinen blöden Witzen auch noch die Anmache von ganz oben gefallen lassen ... und das, wo diese Sache für ihn ganz besonders wichtig ist!“
Während die Neumänner mit rötlichen Gesichtern auf ihren Schreibtisch starren, Doemges und Läppert sich angelegentlich dem Verkehrsgeschehen auf der Lorettostraße widmen, liegt der Blick aus Maria Leiden-Osters weit aufgerissenen Augen mit unverhohlener Bewunderung auf Ganser. Nicht, dass sie ein besonderes Herz für Benedict hätte, ihre Gemeinsamkeiten lagen eher auf dem Felde kühl sachlicher Zusammenarbeit, aber die flammende Parteinahme des von ihr nicht nur kollegial geschätzten Jung-Kommissars erstaunte sie gerade zum jetzigen Zeitpunkt. Immerhin hatte sich, für alle Alten klar erkennbar, das bis dahin fast innig zu nennende Arbeitsverhältnis zwischen Benedict und Ganser, in den vergangenen Monaten merklich abgekühlt. Anfänglich und zu vorschnell hatte die Kommissarin vermutet, dass es mit der Beförderung Gansers zum Kommissar zu tun hätte, aber während der Ermittlungen zum Tod des Mannes von der
English Lady wurden ihr die Hintergründe des Konflikts offenkundig, und sie musste ihre Meinung korrigieren.
Unter Zuhilfenahme der jetzt schon besser zugänglichen Informationsquellen im Osten hatten sie zwar die Identität des Rheintoten aufgrund einer Fingerabdruck-Abgleichung binnen einer Woche feststellen können, aber viel weiter hatte sie dieses Wissen bei den Todesermittlungen nicht gebracht. Sicher, sie wussten danach, dass der Tote Joachim Fuchs hieß und 43 Jahre alt war, und sie kannten auch seinen letzten Wohnsitz in Ost-Berlin, aber Hinweise auf Tatmotiv und Täter, in Form verwertbarer Fakten für den Staatsanwalt, enthielten auch die Informationen der Ost-Dienststelle nicht.
Ja, der Bericht der Rechtsmedizin hatte nach der Obduktion der Leiche keinerlei Zweifel mehr daran gelassen: der Tod des Mannes war gewaltsam herbeigeführt worden, und er war schon tot, bevor sein Körper an diesem lauen Aprilabend auf dem Wasser des trägen Stromes auf geklatscht war. Und wie gewaltsam! Maria Leiden-Oster hatte den mit Schlag-, Tritt- und Würgemalen gezeichneten Körper in der kalten Grelle der Pathologie in Augenschein nehmen müssen. Die Spurenfahndung hatte sogar in mühevoller Kleinarbeit die Stelle ermitteln können, an welcher der Leichnam über die Reeling geworfen worden war. Soweit waren die Ermittlungen ja auch erfolgreich gewesen, aber dann ...
*
„WORAN HÄNGT’S?“
Die Stimme des Polizeipräsidenten ist zwar drängend, aber der Grundton der durch einen Vorhang blauen Zigarillorauches an Benedicts Ohren gelangenden Frage scheint dennoch wohlwollend.
Wie so oft schon verfolgt der Gefragte die Bewegung des Zeigers der elektrischen Wanduhr, um sich die nötige Konzentration für die Beantwortung der Frage zu verschaffen. Ja, woran hängt es, dass sie in dieser Sache nicht weiterkommen? Sollte er vielleicht zugeben, dass es der erfolgsgewohnten Kl-Truppe nicht gelungen ist, aus der Vielzahl der Vernehmungsprotokolle etwaige Unschlüssigkeiten herauszufiltern, offensichtliche Absprachen nachzuweisen und mittels erstellter Bewegungsbilder den Täter einzukreisen, um ihn dann durch gezielte Befragungen in eine Situation zu führen, in der er die Aussichtslosigkeit weiteren Leugnens einsah? Oder zumindest eine lückenlose Indizienkette für den Staatsanwalt aufzubauen?
„Brauchen Sie mehr Leute? Sind Sie doch zu knapp?“
Dem Leitenden scheint Benedicts Schweigen als Antwort auf die Frage des Polizeipräsidenten denn doch nicht ausreichend.
„Nein, nein. Daran liegt’s wohl nicht!“
Es war doch eine ganz normale Situation gewesen. Der Fall. Das Rauschen im Blätterwald der veröffentlichten Meinung. Die große Ermittlungskommission mit Tschingdarassabumm und Trommelwirbel. Pressekonferenz von Ermittlungsführern und Staatsanwälten. Dann ein neuer Fall. Die große Ermittlungskommission zieht weiter, Medien und Staatsanwälte in ihrem Schlepptau... und K1 nahm routiniert die Sachbearbeitung auf. Nichts, womit man sich großartig in der Öffentlichkeit profilieren konnte, wirklich nicht. Aber die intern geführte Statistik des Düsseldorfer Präsidiums zeigte ansteigende Aufklärungsquoten im Bereich Todes- und Brandermittlungen. Und das ganz gegen den sonstigen bundesweiten Trend. Aber bei dieser Sache, bei dem Mann aus Ost-Berlin, da war der Wurm drin ... Gegen Benedicts Willen gestaltet sich dieser letzte Gedanke zu einem entsprechenden Bild in seinem Inneren. Ganz unvermittelt stülpt sich ihm fast der Magen um. Fast rutscht ihm das Glas mit Mineralwasser aus den schweißnassen Händen, als er es zitternd an die Lippen führt. Mit nervösen, hastigen Schlucken bekämpft er das Würgen in entgegengesetzter Richtung.
„Wir haben ja noch ein weiteres Problem, Herr Benedict, auf das ich an dieser Stelle kurz aufmerksam machen möchte...“
Wie immer sind die Worte von Staatsanwalt Sprotte ,kanzelreif‘, aber sie entbehren heute der gewohnten Schärfe. Benedict, nicht ahnend, dass sein eigenes, kalkweißes Gesicht Ursache der ungewohnten Milde des Anklagevertreters ist, wappnet sich daher misstrauisch für eine erwartete Hinterlist. „... In etwa einem Monat werden die Leutchen fast alle das Aufnahmeverfahren abgeschlossen haben! Dann kann jeder gehen, wohin er will, und wir haben keinerlei Handhabe, sie daran zu hindern ... wenn wir nicht dringenden Tatverdacht in Einheit mit Fluchtgefahr nachweisen können!“
Sprotte, der sich mittlerweile wohl damit abgefunden hatte, dass die Robe in Karlsruhe eine Nummer zu rot für ihn war, bringt die Sache auf den Punkt. Die Zeit. Sie sitzt ihnen im Nacken. Und es ist anzunehmen, dass auch die Leute auf den vier Übersiedlerschiffen, insbesondere die auf der English Lady, um den Zeitfaktor wissen und ihn für ihre Zwecke nutzen. Mit einer äußerlich an den Tag gelegten kooperativen Haltung - der K1-Leiter empfand sie im Verlauf der Ermittlungen immer mehr als aufgesetzt und liebdienerisch - hatten sie Ganser & Co. und auch ihn selbst mehrere Wochen an der Nase herumgeführt. Benedict hatte in den Augen seiner eigenen Mannschaft ungewöhnlich viel Nachsicht und Zurückhaltung gegenüber den Leuten aus Anklam und Apolda gezeigt. Immer wieder ermahnte er seine Crew zu tolerantem, ja verständnisvollem Umgang mit den Ostlern. Ganser, der als einziger den Hintergrund von Benedicts milder Befangenheit kannte, versuchte sich bislang mehr oder weniger erfolglos als unglücklicher Vermittler zwischen den Fronten. Vor einer Woche schließlich hatte der Hauptkommissar das Ruder herumgeworfen. Wahrscheinlich war es zu spät gewesen, denn seither machten die Befragten den Vernehmern gegenüber deutlich, dass sie diese für die „Büttel des Klassenfeinds und Imperialismus“ schlechthin hielten.
Jedenfalls taten sie so ... oder sie meinten es wirklich ... oder?
„Wir möchten Ihnen einen Vorschlag machen, Benedict ...“, räuspert schließlich der Buddha in der karierten Jacke aus dichten Qualmwolken heraus.