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Als er mit dem Jaguar in die breite Hans-Beimler-Straße einbiegt, ist es fast halb elf. Sicher, die zeitraubenden Kontrollen auf der Transitstrecke waren Vergangenheit, aber dafür hat die Verkehrsdichte in Richtung Osten zugenommen.

Er hat Glück und kann den Wagen auf der anderen Straßenseite, vor einem ,Natascha‘-Laden mit sowjetischer Volkskunst bequem parken. Langsam überquert er die Straße. Während er sich seinem neuen Arbeitsplatz nähert, pfeift er unbewusst eine Melodie vor sich hin. Das wird nicht einfach werden. So blauäugig ist er wirklich nicht. Ist schließlich kein Freundschaftsbesuch bei dänischen Polizeikollegen. Und seine eigenen Erfahrungen mit den „Organen“ einer vergangenen Zeit kann er auch nicht einfach so beiseite schieben. Dann, er nähert sich unaufhaltsam dem Eingang des klotzigen Polizeipräsidiums, strengt er sich an, seine aufkommenden Unlustgefühle zu verdrängen.

Irgendwie hatten irgendwelche Tagesschau-Filmberichte das Bild eines modernen, alles überragenden Hochhauses in seinem Kopf geformt. Mit Antennen, bis ins Schlafzimmer lauschend, und Video-Kameras, Straßenschluchten ausforschend. 1984.

Ein falsches Bild.

Der Bau ähnelt fast „seinem“ Präsidium am Düsseldorfer Jürgensplatz. Als er endlich die Vorhalle betritt, hat er fast das Gefühl „zu Hause“ zu sein.

„Guten Tag! Ich möchte zu Hauptkommissar Meißner!“

Die zivil gekleidete Frau hinter dem Pförtnertresen sieht mit Gleichmut - was sonst hatte er erwartet? - auf seinen Dienstausweis und greift zum Telefon.

„Der ... äh ... der Kollege aus Düsseldorf ist jetzt da! Ja, ist in Ordnung.“

Sie schiebt ihm einen Passierschein über den Thesen. Etwas beunruhigt sieht Benedict seine Dienstlegitimation in einer Art Postfach verschwinden, aber die Wachfrau begegnet seinem Blick mit dem Hinweis, dass er den Düsseldorfer Polizeiausweis beim Verlassen des Gebäudes zurückerhalten würde.

„Der Leiter MUK holt Sie dann gleich ab!“

Sein Kollege Ganser hatte zuerst sogar an einen Witz geglaubt, als Benedict nach der Sitzung beim Polizeipräsidenten mit der Neuigkeit raus gerückt war. „Wie, du gehst nach Ost-Berlin?!“ hatte er so laut raus geblökt, dass natürlich auch der Rest der Bullenmeute aufmerksam wurde. Aber Benedict wollte dazu sowieso nicht viel sagen, und der Rest des Tages war mit der Klärung organisatorischer Einzelheiten vergangen.

Gerade fragt Benedict sich noch spaßhaft, ob MUK vielleicht die Abkürzung für „Mörder und Killer“ sein könnte, als ein Mann direkt auf ihn zukommt.

„Sie sind Herr Benedict? Aus Düsseldorf? Mein Name ist Meißner, Leiter der MUK, guten Tag!“

„Ja ...“, räuspert sich der Angesprochene trocken.

Und als wäre nicht schon alles schwierig genug, ist da auch noch ein Paternoster, in dem sie die Fahrt nach oben antreten müssen. Ein Paternoster! Benedict vermied es im Düsseldorfer Präsidium stets, diese ächzenden, ihm zutiefst unheimlichen vorsintflutlichen Kästen zu benutzen. Er schluckt nur feige, während es rumpelnd und quietschend nach oben geht. Sein Blick saugt sich Halt suchend an Meißners glatten Gesichtszügen fest. Sicher versucht auch dieser, ein erstes Bild von Benedict zu gewinnen. Welchem Umstand wird er es wohl zuschreiben, dass dem West-Kollegen das Wasser in Strömen über das Gesicht fließt? Dann überbrückt Meißner leichtfüßig die Lücke zwischen Paternoster und glatt gebohnertem Flurboden, während Benedict den Absprung verpasst und in Meißners schon abgewandten Rücken hineintaumelt. Mürrisch beißt er zwischen verkrampften Lippen ein „Tschuldigung“ heraus und folgt dem Ostler auf unsicheren Füßen über den langen, spiegelglatten Flur.

Den Geruch kennt er noch von früher. Bohnerwachs, Braunkohle und übler Tabak. Und er ist ihm noch genauso unangenehm wie damals.

„Nu, wieder auf Pirsch?“, begrüßt Meißner die Person, die ihnen bei ihrem Eintritt in das Dienstzimmer den Rücken zukehrt. Als der Mann sich umdreht, blickt Benedict durch wolkigen Tabakqualm hindurch in spiegelnde Gläser eines Doppel-Fernglases.

„Sie sind das also. Einwandfrei, wie im Ferrnsehn!“, verlautet es anerkennend im breiten Ostseeschnack aus dem Mund unter dem Fernglas. „Was verbraucht die Nobelschleuder denn so?“

Mit einem Blick aus dem Fenster erkennt Benedict jetzt auch den Gegenstand der Observierung. Ein Jaguar auf der anderen Seite der breiten Straße. „Benzin!“, entfährt es ihm da ärgerlich.

Der Adressat seiner unwirschen Antwort nimmt nun langsam das Glas herunter. Ein fast unschuldig anzusehendes Rundgesicht kommt zum Vorschein. Darin schimmern ihn babyblaue Augen fröhlich an. Ohne Bosheit. Und so geht dem Polizisten aus Düsseldorf die Entschuldigung denn auch ziemlich leicht über die Lippen.

„Tut mir leid, Kollege, aber ich reagier da eben etwas allergisch!“

„Allergisch? So was konnten wir uns hier nie leisten. Nu, is’ ja kein Ding ... übrigens, Engel... das ist mein Name!“

Verwirrt dreht Benedict sich um. Versucht, aus der Miene des MUK-Leiters herauszulesen, ob er hier astrein verkohlt werden soll.

„Ist Fakt!“, murmelt der aber mit abwesendem Gesichtsausdruck und verschwindet durch eine Verbindungstür ins Nebenzimmer. Der Düsseldorfer hat keine Chance, sich dazu zu äußern, denn der Mann mit dem zum Gesicht passenden Namen kräht dem Entschwundenen lauthals hinterher: „Übrigens, Kollege Bindestrich Genosse Bindestrich Major Bindestrich Herbert! Du sollst dich mit dem Fahrer der Millionärsschleuder da unten sofort beim K-Leiter und ... Seiner Grauen Eminenz melden! Zack, zack!“

Sollte der MUK-Leiter Herbert Meißner sich über die Art seines Kollegen ärgern, ist ihm dieses kaum anzumerken, als sein Kopf blitzartig wieder im Türrahmen erscheint. „Hättste ooch gleich sagen können, Rainer! Noch bist du schließlich im Dienst, Engel! Und außerdem heißt das jetzt nicht mehr Major, weißt du doch ganz genau!“

„Gut, dass du mich dran erinnerst. Die Altlast Oberleutnant Engel bleibt euch genau noch 27 Tage und 13 Stunden erhalten, dann ist der reine Engel von VP-Mitte Richtung freie Wirtschaft abgeflogen und du, Verdienter Kriminalist des Volkes, Genosse und Major a. D., wirst wahrscheinlich dann unten den Türsteher für die grünen Lakaien der neuen Ordnung machen!“

„Aber sonst ist noch alles charascho bei dir? Wir sprechen uns gleich, wenn ich mit unserem ... Besuch zurück bin!“

Als Benedict hinter Meißner das Dienstzimmer der MUK verlässt, stößt der Mann mit dem lächelnden Babygesicht die rechte Faust in die Luft und ruft ihnen fröhlich hinterher: „Druschba, Towaritsch! Auf fröhliche Selbstkritik im Kollektiv!“

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DRAUßEN DANN MURMELT Meißner ein tonloses: „Kann von Glück sagen, dass das für die Kaderakte keine Rolle mehr spielt“, um dann zielsicher wieder dem Paternoster zuzustreben.

„Wo müssen wir denn hin?“, versucht Benedict irgendwie in eine Unterhaltung mit dem farblosen MUK-Leiter zu kommen.

„Einen Stock höher, zum Leiter der K!“

„Und da gibt’s keine Treppen? Ich meine, ist doch nur ein Stockwerk.

Der Blick aus den rauchgrauen Augen des jetzigen Hauptkommissars richtet sich mit plötzlich erwachtem Interesse auf den Mann aus Westdeutschland, aber genauso überraschend erscheint dann doch wieder dieser Ausdruck gleichgültiger Müdigkeit, und mit einem „wird umgebaut“ beantwortet er steiflippig Benedicts Frage.

Da ihm das Ziel bekannt ist, gelingt ihm diesmal ein relativ elegant aussehender Absprung, der allerdings so schwungvoll ausfällt, dass er mit der Stirn fast gegen die Tür eines gegenüberliegenden Dienstraumes prallt. Leiter K steht da an der Tür vor seinen erschrockenen Augen. Meißners Blick hat jetzt einen mitleidvollen Ausdruck.

„Genau da wollen wir hin. Zimmer 6029 ... damit Sie sich nicht doch noch verlaufen!“

Sollte dieser Ost-Vopo etwa die Gabe der Ironie besitzen, oder meint der das wirklich ernst?

„Überraschung!!!“

Na, das is’n Ding! Den Mann, der bei ihrem Eintritt so geschmeidig von seinem mit Unterlagen überhäuften Arbeitstisch aufspringt, hat er hier am allerwenigsten erwartet. Auf eine Vorzimmerdame war er eingerichtet. Aber nicht auf Beyer. Ja, der Beyer. Vom LKA Berlin. Mit dem er kurz vorm Mauerfall bei dieser IRA-Geschichte zusammen arbeiten musste. Ein echter Großkotz. Mit dicker Berliner Spucke dran.

„Sie können schon mal reingehen, zu Ihrem Chef!“, sagt er kühl zu Meißner hin.

O ja. Den Ton kennt Benedict. Hatte er bei ihm auch versucht, damals. Und das auch noch vor dem englischen SIB-Captain und den Kollegen aus Belfast und Dublin. Würde der Beyer sicher nie wieder machen... bei ihm.

Jetzt, da Meißner gehorsam abgetreten ist, scheint der LKA-Mann Tacheles mit ihm reden zu wollen.

„Bevor du da reingehst, kleines Briefing, Kollege: also, halt dich mit den Ossis zurück. Ihr sollt zwar zusammen arbeiten, aber bitte ... wir wissen noch nicht so richtig, was wir von den Kollegen mit der anderen Dienstmarke halten sollen ... bleib also auf Distanz. Zweites Prinzip: wunder dich über nichts, was du hier siehst oder wer dir hier begegnet, klaro?“

„Und was machst du hier?“

„Sekretärin, Personalreferent, Verbindungs- und Beratungskommando West ... was immer wem am liebsten ist, klaro! Also, nicht wundem und immer schön raus halten! Und jetzt kannst du dich bei dem da anmelden, aber...“, er senkt seine Stimme zu einem Vertraulichkeit suggerierenden Ton herab, „das ist sowieso nur eine Formsache, der hat vielleicht morgen schon nichts mehr zu sagen. Du verstehst!“ Dieses widerliche Augenzwinkern hatte Benedict schon damals nicht gemocht, aber er ist hier auf unvertrautem Terrain und muss sich den Mann warmhalten. Also keinen harschen Kommentar diesmal, sondern ein unverbindlich höfliches „ist in Ordnung!“, bevor er an die Tür des Nebenraums klopft.

Die Tür öffnet sich so abrupt, dass Hauptkommissar Meißner wohl mit der Hand auf der Klinke drinnen gewartet haben muss.

„Der Kollege Benedict von der Kripo Düsseldorf!“ In dem großen Eckraum, drei zusammengelegte Normalbüros, vermutet der Düsseldorfer, sitzen zwei Männer, beide um die Sechzig. Der Vierschrötige mit dem kantig geformten Faltengesicht erhebt sich schwerfällig hinter einem großen Schreibtisch und streckt ihm die Hand zum Willkommen entgegen. „Hennicks. Leiter der K im Präsidium. Bitte setzen Sie sich doch... Du auch, Herbert!“, nickt er dem MUK-Leiter förmlich zu.

Nachdem sie nebeneinander an dem Besprechungstisch vor dem großen Schreibmöbel des K-Leiters Platz genommen haben, richtet Benedict seinen Blick forschend auf den vierten Mann im Zimmer, der ihnen gegenüber am langen Konferenztisch sitzt und ihm irgendwie bekannt vorkommt. Bevor die Angelegenheit aber unhöflich wird, verzieht der spärlich Behaarte das sonnengebräunte Gesicht zu einem gewinnenden Lächeln.

„Kriminalrat Strötker“, kollert es raumfüllend aus dem mächtigen Brustkasten heraus, „ich habe hier nur beratende Funktion, also nehmen Sie offiziell keine Notiz von meiner Anwesenheit!“

Der abwartend auf Strötker gerichtete Blick des K-Leiters scheint ihn aber Lügen zu strafen. Sicher, der Leiter der Ost-Kripo sitzt hinter dem imposantesten Arbeitsmöbel, dem oberflächlichen Beobachter den Eindruck des Hausherren vermittelnd, aber das Machtzentrum im Raum verkörpert doch wohl dieser Braungebrannte aus ... Bonn ... fällt es Benedict jetzt endlich wieder ein. Bei einer Besprechung im Innenministerium hatte er ihn als Referenten erlebt.

Also, daher weht der Wind. Und jetzt wird ihm auch klar, warum der „Leitende“ in der letzten Zeit so oft bei den Kollegen der Düsseldorfer Partnerstadt im Wieder-Chemnitz ist.

Während der Hauptkommissar aus Düsseldorf noch versucht, seiner Verwirrung Herr zu werden, immerhin ist ja noch nicht mal die Währungsunion vollzogen, löst ein aufmunternder Blick des Bonner Beraters in Richtung des Leiters der Ost-Kripo die beklemmende Starre auf.

„Ja ... mmh ... Herbert, also der Kollege Benedict wird also unten in der MUK mit dir zusammen arbeiten. Soweit das die Ermittlungen in der Todessache Fuchs betrifft, ist also ... und das ist Anweisung aus der Mauerstraße ... dem Düsseldorfer Kollegen jegliche Unterstützung zu gewähren ..."

Der Mann hinter dem Riesenmöbel fährt sich mit den knorrigen Fingern unter den engen Hemdkragen. Das aschfahle Gesicht ist von scharfen Kerben durchzogen. Seine Hand greift mit einer fahrigen Bewegung nach der schwarzweißen Packung auf dem Schreibtisch. Er inhaliert so gierig, dass Benedict schon beim Zusehen einen Hustenanfall bekommen könnte. Irgendwie tut ihm der Mann mit der Karo zwischen den blauen Lippen leid. Wenn das nämlich einer von der Sorte war, dann mussten in ihm ja Welten zusammengebrochen sein. Und jetzt auch noch so was.

„Wissen Sie denn schon, wo Sie Unterkommen werden, Herr Benedict?“

„Nein, bis jetzt noch nicht.“

Der Dicke aus Bonn hat beschlossen, den hilfesuchenden Blick des Ost-Leiters nicht zu beachten. Er konzentriert sich angelegentlich auf die polierten Nägel seiner gepflegten Hände.

„Also, das wird ja wohl hier etwas länger dauern. Dann bringen wir Sie am besten im Gästehaus der VP, draußen in Marzahn, unter. Es sei denn, Sie möchten lieber in Berlin-West... ist ja jetzt kein Problem ...?“

Nein. Benedict wollte nicht in West-Berlin wohnen. Wenn er schon hier arbeitet, dann auch richtig.

„Das geht in Ordnung... mit dem Gästehaus, meine ich, gerne!“

„Wie Sie meinen! Herbert, du klärst das dann mit dem Objektleiter ... äh ..., mit den Leuten in Marzahn. Und organisiert bitte auch den Transport! Alles weitere klärt ihr dann am besten unter euch ... Fachleuten ... seid ja Kriminalisten. Dann wünsche ich erfolgreiche Zusammenarbeit und ... vielleicht hätten die Herren ja jetzt Lust auf einen kleinen Begrüßungsschluck ...?“

„Etwas noch“, löst Strötker plötzlich den Blick von seinen Fingernägeln, „der Hauptkommissar braucht einen Hausausweis. Schließlich muss er unseren Dienstausweis ja bei sich haben. Aus Gründen der Legitimation, oder?“

„Ja, sicher, selbstverständlich!“, beeilt sich der Leiter der Ost-Kripo, dem Wunsch des Beraters zu entsprechen.

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MENSCH HERBERT, JUGENDFREUND, Du kannst den doch nicht mit diesem Wagen an den Murtzaner Ring schicken. Du weißt doch, was da los ist. Heute gestohlen, morgen in Polen!“

„Ja ...“, sagt Meißner und kratzt sich leicht verlegen das Kinn.

Dem „immer noch“-Oberleutnant Engel scheinen derartige Anwandlungen fremd zu sein, und er grinst pausbäckig. „Stellen Sie die Schleuder solange auf den Innenhof im Präsidium. Haben unsere Leute doch auch mal was Schönes zu sehen. Nich’ bloß immer Barkas und Wartburgs!“

„Geht das denn?“, vergewissert sich Benedict mit einem Blick zum MUK-Leiter.

„Für Ihresgleichen geht hier doch jetzt alles!“, ist Engel auch diesmal wieder schneller, und der Polizist vom Rhein hört nun auch bei ihm erstmals diesen Unterton verdrossenen Missmuts heraus.

„Wird schon in Ordnung gehn“, bestätigt auch Meißner kurz und sachlich. „Ich bring Sie dann raus nach Marzahn und setz Sie da ab.“

Genau wie Engel gesagt hatte. Das Auto mit dem Düsseldorfer Kennzeichen ist nicht einmal der einzige Westwagen im Hof des VP-Präsidiums, aber es ist zweifelsohne das feinste Gefährt. Und die Herstellung seines Hausausweises in der Abteilung Kriminaltechnik hatte nur ganze drei Minuten gedauert. Mit seinem eigenen Dienstausweis in der Tasche fühlt sich Benedict schon viel wohler, als er, neben Meißner auf dem Beifahrersitz des Wartburg sitzend, den Hof des Präsidiums der VP verläßt.

„TONI 170, kommen!“, spricht der MUK-Leiter über Funk.

„TONI 170, kommen!“, knattert es rauschend aus dem Lautsprecher.

„TONI 170, gehe auf Empfang!“

„TONI 170, Ende!“

Wahnsinn, denkt Benedict.

Langsam tuckert der Kripo-Wartburg durch den starken Nachmittagsverkehr Richtung Marzahn. Wahnsinn. Hier sitze ich und höre den Funkverkehr der VP mit. Ganz offiziell. Und vor einem Jahr habe ich noch auf der anderen Seite gestanden. Wütend und verbittert.

„Wahnsinn!“

„Mm. Die Probleme hatten wir vor der Wende nicht. Jetzt fahren sie alle wie die Henker. Und dann die Rostlauben von drüben, die sie den Leuten hier andrehen...“

Es war ihm einfach laut raus gerutscht, und Meißner hatte es offensichtlich anders interpretiert, als er es gemeint hatte. Er wird mit seinen Äußerungen etwas bedachter umgehen müssen. Auch weiß er ja inzwischen schon mehr. MUK heißt also „Morduntersuchungskommission“, und es gibt da auch noch eine BUK, eine „Branduntersuchungskommission“. In Düsseldorf lief das alles in einer Hand. Die militärischen Ränge sind ja zum Glück als Erstes abgeschafft worden, aber wenn er daran denkt, was er vorhin mit Engel im Präsidium erlebt hat... da scheinen sich einige an die zivileren Dienstränge schlecht gewöhnen zu können. Die vom kantigen Leiter der K - PdVP Berlin, Hauptstadt der DDR - vorhin erwähnte Mauerstraße ist der Sitz des Leiters der Haupt-Abteilung Kripo der VP der DDR. Und von da, hatte ihm Engel erklärt, geht der direkte Draht zum „inneren Diestel“, wie er das Ministerium des Inneren der DDR etwas abschätzig tituliert hatte. Und das morgen frühes Aufstehen angesagt ist, weiß Benedict jetzt auch. Um 7 Uhr 30 ist Dienstbesprechung beim Leiter der K. Na, wenigstens kennt er den schon.

„Also, den Engel find’ ich nett“, versucht Benedict die schweigsame Fahrt auf zu lockern. 

„So?“

Himmel noch mal, ist das ein Stockfisch!

„Warum geht der eigentlich? Scheint doch ganz in Ordnung zu sein!?“

„Ach ... das fragen Sie ihn doch besser selbst. Scheinen ja ganz gut mit ihm zu können!“

Was die zukünftige Zusammenarbeit mit Meißner betrifft, schwant Hauptkommissar Benedict Fürchterliches. Wenn der das unter „kooperativer Zusammenarbeit“ versteht - na, Prost Mahlzeit!

Benedict hatte schon von Marzahn gehört, aber die Wirklichkeit übertrifft alles Hörensagen. Dagegen ist Düsseldorf Garath geradezu ein Sinnbild fröhlich-gemütlicher Urbanität. Und das nannten die hier bevorzugte Wohnlage? Mein Gott, hätte er vielleicht doch lieber in West-Berlin ...

„Da sind wir!“

Das Dienstvehikel kommt hinter einem auf seinen Felgen aufgebockten und ausgeschlachteten PKW, Marke Trabant, zum Stehen.

Das Gästehaus der VP ist ein flacher Bau und duckt sich im Schatten der umstehenden Wohnblöcke. Benedict windet sich ächzend aus dem Beifahrersitz heraus. Plötzlich hält er in der Bewegung inne. Lauscht. Wendet den Kopf hinüber zur anderen Straßenseite, horcht. Ein lang anschwellendes, helles Stöhnen geht in einen gleichmäßig sonoren Brummton über. Metallisch quietschende Schleifgeräusche eiserner Radfelgen. Mit verklärtem Gesichtsausdruck nimmt der Mann aus Düsseldorf diese lange vermissten Töne in sich auf.

„Die richtige S-Bahn!“, entfährt es ihm verzückt.

Meißner, der ihn bis jetzt nur verblüfft angestarrt hatte, lässt den dünnen Anflug eines amüsierten Lächelns zu.

„Nu, klar doch. Da drüben is ja ooch der S-Bahnhof Karl-Maron-Straße. Die wer’n Se jetze öfters hören!“

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DRINNEN, IM GÄSTEHAUS der VP, riecht es nach alten Leuten und Bohnerwachs. Benedict muss sich eben daran gewöhnen. An manches andere wohl auch. Telefon ist nämlich nicht. Zumindest nicht in dem spartanisch eingerichteten Zimmer. Aber es gibt eine kleine Küche, und so beschließt er, nachdem Meißner sich verabschiedet hat, ein paar Einkäufe zu tätigen.

Dann ist aber die Verlockung doch zu groß. Magisch zieht sie ihn an, die ocker-rotbraune Wagenschlange. Er steigt an der Karl-Maron-Straße für ein ungewöhnlich geringes Entgelt in einen der eckig altertümlichen Waggons. Und fährt. Und fährt. Marzahn, Bruno-Leuschner-Straße, Otto-Winzer-Straße, Ahrensfelde und zurück und weiter. Springpfuhl, Friedrichsfelde-Ost, Bahnhof Lichtenberg und Ostkreuz und nochmal und nochmal. Wie ein Süchtiger gibt er sich seiner Begierde hin. Wie hat er sie vermisst. Da, wo er herkam, gaben sie den von E-oder Diesel-Loks gezogenen Transportkapazitäten den Namen S-Bahn. Benedict hatte das immer schon als Hochstapelei empfunden. Jetzt endlich sitzt er wieder im Original.

Spät abends dann, in dem ungewohnten Bett, rattert er noch immer über Weichen, schrillt das Abfahrtklingeln in seinen Ohren, hallt es hohl in seinem Kopf: „Zuurück bleiben!“. Kurz bevor endlich der Schlaf kommt, besteigt ein Fahrkartenkontrolleur den fast leeren, dahin rüttelnden Wagen. Als Benedict ihm seinen in Ost-Berlin gelösten Fahrschein vorzeigt, schüttelt er den Kopf. So als wollte er sagen: „Aber Sie sind doch aus dem Westen, wie können Sie denn da mit einem Fahrschein aus dem Osten fahren!“ Dabei richtet sich der Blick des Kontrolleurs mit bohrendem Misstrauen auf Benedict. Diese Augen gehören zu keinem Reichsbahner. Sie gehören zu einem Gesicht, dem er heute so unverhofft im Präsidium begegnet war. Im Vorzimmer des Leiters der K. Diese misstrauischen Augen gehören zum Gesicht des LKA-Mannes Beyer aus Berlin, in Klammern West.

Warum der mich bloß so misstrauisch anglotzt? Kann dem doch wirklich egal sein, wo ich schlafe. Ob in West-Berlin oder in der Hauptstadt der ...