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Na, du alter Kriegsgewinnler!“

Wie gerädert fühlt sich Benedict heute, an seinem ersten Arbeitstag im Präsidium der Volkspolizei. Auch in Düsseldorf ist frühes Aufstehen nicht seine Sache. Außerdem interessieren ihn diese Toten in der DDR nicht besonders. Ein kubanischer Gastarbeiter - Vertragsarbeiter werden sie hier genannt - ist in einem Arbeiterwohnheim in Lichtenberg mit einer Machete erstochen worden. Vernehmung des Täters in der U-Haft und so weiter. Warum wohl hat der Engel vorhin den Meißner als „Kriegsgewinnler“ angeredet? Wie hat er das gemeint? Jedenfalls hat der stockfischige MUK-Leiter innerlich ganz schön geschäumt. Sollte er den Engel nachher mal anzapfen? Scheint sowieso der einzig Lockere in diesem Laden zu sein.

„Herr Benedict?“

Da muss irgend etwas an ihm vorbeigegangen sein.

„Noch nicht so ganz frisch, was?“ Der K-Leiter macht trotz der frühen Stunde einen gesünderen Eindruck als gestern bei der Begrüßung. Vielleicht liegt das aber einfach daran, dass der Kriminalrat Strötker aus Bonn auch nicht zu den Frühaufstehern zu zählen scheint.

„Also, der Hauptkommissar Meißner hat für Sie unten einen Schreibtisch bereitgestellt, an dem Sie arbeiten können. Wenn Sie telefonieren müssen, innerhalb Berlins, also ... hm ..., unseres Berlins, ist das problemlos. Für Gespräche in die Republik müssen Sie über die Vermittlung gehen, das ist die Neun. Und, ja, wenn Sie mit anderen VP-Dienststellen sprechen müssen, können Sie über das Polizeisondernetz gehen. Zeig dem Kollegen das, Herbert. Und jetzt noch was ... also, da muss jetzt wirklich nicht die ganze MUK dabei sein ...“

Hauptkommissar Meißner scheucht seine Leute mit einem kurzen Blick aus dem Zimmer des K-Leiters, und erst nachdem die Tür hinter ihnen zu ist, fährt Hennicks fort.

„Wir haben Ihnen hier alles uns zur Verfügung stehende Material über den Fuchs zusammengestellt. Sie lesen sich das wohl besser durch, bevor Sie Genosse ... äh, der Hauptkommissar Meißner rüber in die Normannenstraße bringt.“

„Zur Normannenstraße? Das ist doch ...“

„Genau das. Aber darüber wird Ihnen Meißner gleich noch mehr sagen.“

Unten in der MUK sieht Benedict, dass er es ganz gut getroffen hat. Er befindet sich mit seinem Schreibtisch in der Gesellschaft des Oberleutnants Engel, und das verbessert seine Stimmung doch erheblich. Während Meißner mit einem mürrischen. „kommen Sie dann gleich mal zu mir rein“; in seinem Dienstzimmer verschwindet, feixt Engel über das ganze Gesicht.

„Na, vergattert worden? Habe Ihnen ’n paar Sachen hingelegt. Was man so als DDR-Gastkrimi-naler braucht.“

Auch Benedict muss grinsen. Neben einem Notizblock mit der Aufschrift VEB VERPACKUNGSMITTELWERKE BERLIN liegt die Dienstagsausgabe des NEUEN DEUTSCHLAND. Kopfschüttelnd nimmt er eines der zwei bereitliegenden Bücher in die Hand. Es ist rot und trägt den Titel HANDBUCH DES KRIMINALISTEN. Als er den zweiten Titel liest, weiß er nicht, was er davon halten soll. WÖRTERBUCH SOZIALISTISCHER KRIMINALISTIK.

„Schenke ich Ihnen aus meinen Beständen. Da, wo ich hingehe, brauche ich das nicht mehr!“ Bevor Vitus H. Benedict aber weiter fragen kann, erscheint Meißners Kopf in der Tür. Seinem drängenden „Bitte, Herr Benedict!“, kann er sich nicht verweigern.

„Haben Sie schon mal rein gesehen?“

„Oh, nein.“ Er hält den dünnen Hefter noch immer in der Hand.

„Na ja, vielleicht lesen Sie das dann auch gleich im Archiv. Müssen sowieso los. Sage Ihnen auf dem Weg nach Lichtenberg, was Fakt ist!“

*

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DIE BREITE KARL-MARX-Allee mit ihrer exotisch anmutenden Zuckerbäckerarchitektur geht irgendwann in die Frankfurter Allee über. Für Benedict immer noch die Stalinallee, auch wenn sie im Gefolge des soundsovielten Parteitages der KPdSU plötzlich zur Karl-Marx- und Frankfurter Allee geworden war. Wolfgang Neuss, der mittlerweile wohl im Hasch-Himmel gelandete Pauken-Kabarettist, hatte in seiner kodderig-hinterfotzigen Art mal gefragt, wer denn nun wieder dieser Herr Frankfurter sei - man wird ja janz meschugge, janz nervös! Wieder einmal muss Benedict in Anwesenheit des MUK-Leiters unbewusst laut lachen. Und wieder einmal kann sein stieseliger Begleiter damit nichts anfangen.

„Der Fuchs war kein Fuchs, der hieß nur so.“ Damit wiederum kann Benedict nichts anfangen. „Bitte?“

„Wenn Sie vorhin da mal rein geguckt hätten, wüssten Sie’s!“, kartet der Ost-Kriminale nach. „Ihre Düsseldorfer Wasserleiche, der sogenannte Herr Joachim Fuchs aus der Bergstraße 19, war,Schild und Schwert der Partei der Arbeiterklasse1.“

„Hmm?“

„Nu, er gehörte zur Firma ..."

Das muss Benedict erst mal verdauen.

„Sie meinen ... er war ein IM oder so was?“

„Nee. Kein Informeller, ein Richtiger. Und zwar einer von der ganz besonderen Sorte. Jedenfalls so besonders, dass wir bei uns keine Informationen darüber haben. Die gibt’s nur da!“

Meißners Kopf deutet in Richtung des gewaltigen Gebäudekomplexes, der zu ihrer Linken auftaucht. Sie parken den Dienstwagen gegenüber einem

Friedhof in der Ruschestraße, und als sie hinüber zur Anmeldung gehen, macht der Leiter der MUK keinen sehr glücklichen Eindruck. Die Wachposten der VP lassen sie beide anstandslos passieren, nachdem Meißner ein paar Worte mit ihnen gewechselt hat. Dann aber wird es schwierig. In der Anmeldung übergibt der Mann aus dem Präsidium ein Schreiben, das der Wachhabende mustert und misstrauisch auf seine Echtheit hin überprüft. Einer der Männer verschwindet schließlich mit dem Schreiben in einem rückwärtigen Raum, und Schweigen hängt über den Wartenden. Meißner versucht zwar, möglichst gleichgültig drein zu blicken, aber es ist ihm anzumerken, dass das hier nicht seine Welt ist. Auch Benedict fühlt sich ungemütlich an alte Zeiten erinnert. Als der Mann mit dem Schreiben in der Hand endlich zurückkommt, verkündet sein Gesichtsausdruck nichts Gutes.

„Von uns aus ist das ja ausreichend, aber wir haben das nicht alleine zu bestimmen. Es kommt gleich jemand..."

Der junge Bärtige, der sie wenig später misstrauisch mustert, scheint überhaupt nicht hierher zu passen. Das kränklich weiße Gesicht über dem angeschmudelten T-Shirt zeugt von wenig Schlaf und ungesunder Ernährung. Meißner reagiert auf den Burschen mit versteifter Körperhaltung.

„Nu, was ist los?“, fragt er. „Wir haben eine ordentliche Zutrittsberechtigung des Ministeriums des Inneren der DDR, das langt doch wohl, oder?!“

Der harsche Ton des Kriminalisten macht keinen Eindruck auf den jungen Mann. Mit einem schiefen Blick auf das offizielle Schreiben zuckt er die Achseln.

„Und wer sind denn Sie?“

Meißner zeigt ihm wortlos einen Dienstausweis.

„Die Genehmigung gilt sowieso nur für einen Vitus H. Benedict. Aus ... Düsseldorf?“ Mit gerunzelter Stirn betrachtet er den Mann aus dem Westen. „Sind Sie das?“

„Ja. Hauptkommissar Benedict von der Kripo Düsseldorf. Ich ermittle hier in einer Mordsache.“

„Kommen Sie doch beide mal mit in die Gotlindestraße!“

Als sie wieder auf der Ruschestraße den schnellen Schritten des Bärtigen folgen, fragt Benedict den MUK-Leiter: „Wo gehn wir hin, wer ist das?“

„Bürgerkomitee“, nuschelt Meißner leise und, wie es scheint, missmutig.

Die jungen Leute in der Gotlindestraße trauen dem offiziellen Schreiben aus dem Hause Diestel offenbar wenig, und während die beiden Polizisten in einem Vorraum warten, dringen Bruchstücke einer heftigen Diskussion, ab und zu unterbrochen von Telefonaten, an ihre Ohren. Nach fast einer Stunde nervenden Wartens wird Benedict endlich rein gerufen.

„Wir haben so was nicht gerne!“

Er hat die junge Frau mit den skeptischen Augen bestimmt schon mal gesehen. In einem der unzähligen Femsehberichte über die Verhandlungen des Runden Tisches. Jetzt sitzt sie ihm gegenüber, das bekritzelte Schreiben des MdI vor sich, und schüttelt den Kopf.

„Bitte, das geht nicht gegen Sie. Aber es kommen so viele Leute mit offiziellen Schreiben von allen möglichen Stellen ... da ist schon so viel beiseite geschafft worden ... warum müssen Sie denn in die Zentral-Kartei?“

Na, die sind ja gut. Er wusste bis heute morgen ja selbst nicht, dass er in die Normannenstraße musste. Was soll er da erklären?

„Ich bin auf der Suche nach den Hintergründen eines Mordes an einem DDR-Bürger in Düsseldorf. Man hat mir von der Ost-Kripo gerade erst heute morgen mitgeteilt, dass der Tote vermutlich ein Mitarbeiter, ein hoher Mitarbeiter des MfS gewesen ist. Und dieses ist wohl der einzige Ort, an dem ich mehr über ihn erfahren kann ... und über mögliche Motive für den Mord an ihm.“

Unschlüssig schiebt sie das Schreiben auf dem Schreibtisch hin und her. „Ich habe das nicht so gerne, wenn jetzt auch schon BRD-Polizei hier mitmischt. Also, ich muss das erst noch woanders abklären. Wo kann ich Sie telefonisch erreichen?“

„Im Präsidium der VP an der Beimlerstraße. Die Telefonnummer lassen Sie sich am besten vom Kollegen Meißner geben!“

„Ach ja ... Sie nennen sich jetzt Kollegen.“

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ALS SIE AM FUßE DER Sicherheits-Monolithen in der Ruschestraße wieder in den Wartburg steigen, bricht Meißner bissig sein mürrisches Schweigen. „Ein Affenzirkus ist das hier mittlerweile! Kein Mensch weiß, wer was zu sagen hat! MdI, Regierungskommission, AfNS, Staatsarchiv und die Bürgerkomitees, jeder misstraut jedem. Das ist doch kein ordentliches Arbeiten!“

Der misshandelte Wartburg verweigert störrisch den nächsthöheren Gang und bleibt ruckelnd auf der Straße stehen. Ein Hupkonzert setzt ein.

In der Kantine des Präsidiums bekommt Benedict dann Gesellschaft von Oberleutnant Engel, der ihm bei Hackbraten mit Sättigungsbeilage an einem der Vierertische Gesellschaft leistet.

„Nich’ so gut gelaufen, was?“

Muss ihn der Meißner wohl auf seinem Weg nach oben getroffen haben. Jedenfalls scheint der Engel schon informiert zu sein.

„Machen Sie sich eben einen freien Nachmittag“, meint er kauend, „im Centrum-Warenhaus am Alex werden die restlichen Warenbestände der DDR-Produktion unters Volk gebracht, oder ... fahren Sie doch mal wieder S-Bahn!“

Fast hätte sich Benedict die gehäufte Alu-Gabel ins Kinn gestochen. Wie kommt der Engel denn darauf?

Nachdenklich kaut er auf dem Fleischgemisch herum, bevor er mit seiner Frage kontert: „Was haben Sie denn mit dem Meißner heute früh gehabt? .Kriegsgewinnler1?'. Hat ihm gar nicht gefallen!“

Über Engels freundliches Gesicht zieht ein kleiner Schatten. Fein säuberlich kratzt er die letzten Soßenkartoffelreste von seinem Teller. Nach einer langen Weile, der Teller ist jetzt spiegelblank, murmelt er dann reichlich undeutlich: „Ach... das... fragen Sie ihn doch am besten selbst!“

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WÄHREND BENEDICT SICH an Geld umtauschen und Hütchenspielern vorbei drückt, die runde Weltzeituhr passiert und sich kaum der angebotenen Reklame-Zigarettenpackungen erwehren kann, ist er in Gedanken bei dem Fuchs-Dossier, das er an seinem Schreibtisch in der MUK doch noch überflogen hat. Viel war es nicht, und das Wenige auch noch voller Rätsel. Also, Fuchs war nicht der richtige Name des Toten, aber wie er wirklich heißt, geht aus den drei Seiten auch nicht hervor. Auch nicht, woher diese Information stammte. Von „Quellen“ war da die Rede gewesen. Was für „Quellen“? Und der abschließende Hinweis auf Dienststellen mit den Kürzeln HVA und HA II? Schon eine merkwürdige Angelegenheit. Nichts ist so, wie er es erwartet hatte. Und dann diese gleichlautenden Antworten der beiden so unterschiedlichen VP-Kriminalisten. „Das fragen Sie ihn doch besser selbst!“

Im Kaufhaus Centrum sieht das Warenangebot dünn aus. Die Leute schieben sich an den fast leeren Regalen und Theken vorbei und sind aggressiv. „Ham wa jerne“, murmelt eine Ost-Berlinerin im Vorbeigehen „aus’m Westen und uns noch die Sachen wegkoofen!“ Benedict fühlt sich angegriffen und verzichtet darauf, den vorletzten Becher Joghurt aus der Kühltruhe zu nehmen.

Wieder im Freien kauft er gegen DM eine Dose löslichen Kaffees von einem der fliegenden Händler. Als er dann an der Ecke Karl-Liebknecht-Straße auf einen Schallplattenladen stößt, kommt ihm spontan eine Idee, und er betritt das ziemlich leer aussehende Geschäft.

„Ich hätte da mal eine Frage“, wendet er sich unschlüssig an eine gelangweilte Verkäuferin, „haben Sie zufälligerweise eine Platte von Dean Sanger?“

„Dean Sanger?“, sieht ihn die Blonde an, als käme er von einem anderen Stern. „Der ist doch schon lange ... na, ich seh doch mal nach!“

Während sie hinten mit einer anderen Verkäuferin rum tuschelt, kommt sich Benedict schon ein bisschen komisch vor. Blöde Idee von ihm. Was will er bloß damit?

„Nein. Ham wa nich’ im Laden. Aba wenn Se woll’n, vielleicht auf Lager?“

„Nein, nein. Machen Sie keine Umstände. Danke sehr!“

Als er glücklich wieder draußen ist, mischt er sich unter die dem Bahnhof Alexanderplatz zustrebende Menge. Vorsichtig wendet er den Kopf in alle Richtungen, stellt aber nichts Besonderes fest.

Das Gefühl ist ihm nicht unbekannt. Bei seinen früheren „Grenzübertritten“ hatte er es immer gehabt. Sicher nicht unbegründet, damals. Aber dass es seit gestern Abend wieder da ist, macht ihn doch unsicher. Es konnte doch gar nichts sein. Aber sein Instinkt hatte ihn nie im Stich gelassen.

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ES SCHEINT, ALS ZÖGE das gewaltige Sicherheitskarree zwischen Normannenstraße und Frankfurter Allee die schwülen Gewitterwolken magisch an. Obwohl Benedict vorsorglich auf das Jackett verzichtet hat, gerät er auf dem Weg zur Zentral-Kartei ins Schwitzen. Hoffentlich gibt es da drinnen wenigstens so was wie ’ne Klimaanlage.

„Sie müssen versuchen, uns zu verstehen. Da ist schon soviel falsch gelaufen!“ bedrängt ihn die Kurzhaarige, die ihn bei der Anmeldung in Empfang genommen hatte.

Benedict wischt sich den Schweiß aus seinem übermüdeten Gesicht. Schürzt mürrisch die Lippen. Erst hatten sie ihn bis heute Vormittag warten lassen und dann noch den Meißner mit der kurzen Bemerkung: „die Genehmigung gilt nur für den Herrn Benedict“, ganz einfach nach Hause geschickt. Ohne seinen unwirschen Kompagnon kommt er sich ganz schön auf verlorenem Posten vor.

„Fotokopien dürfen Sie keine machen! Sie können sich natürlich alles raus schreiben, was Sie für Ihre Ermittlungen brauchen. Verstehen Sie uns nicht falsch, aber Ihre Aufzeichnungen müssen wir uns natürlich durchsehen, wenn Sie das Gebäude wieder verlassen.“

„Natürlich!“, antwortet der Mann aus Düsseldorf ironisch, aber darauf geht sie nicht ein.

„Ach ja“, die Frau vom Bürgerkomitee zeigt auf ein Gebäude zur Linken. „Da, im Haus 22, können Sie in der Mittagspause was essen. War früher die Stabskantine. Ich werde Bescheid geben.“

Als sie dann vor dem fensterlosen Flachbau stehen, nimmt sie ihn nochmal kurz zur Seite. „Sie werden da nicht alleine vor sich hin arbeiten können, das ist Ihnen ja wohl klar. Ein Beauftragter des Bürgerkomitees wird Sie... unterstützen und... wir sind eben bei der Arbeit in der Kartei noch auf die Hilfe von ehemaligen Mitgliedern des MfS angewiesen, und auch die Leute vom Staatsarchiv sind alles ... ehemalige Genossen. Die kennen sich damit eben aus. Also nehmen Sie das nicht als besonderes Misstrauen Ihnen gegenüber!“

Als Hauptkommissar Vitus H. Benedict das von außen so profan wirkende Allerheiligste des MfS am späten Nachmittag verlässt, haben sich die meisten seiner ahnungsvollen Befürchtungen nicht bestätigt.

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ES MUSS IN DER ZWISCHENZEIT geregnet haben. Der große Innenhof ist von spiegelnden Pfützen übersät. Die wirkungsvolle Klimaanlage im Inneren des Informationsdepots hat ihn die draußen herrschende Schwüle fast völlig vergessen lassen. Jetzt musste er nur noch eine Telefonverbindung nach Düsseldorf auftreiben.

„Wenn du ganz sichergehen willst, dass niemand mithört, musst du zu uns nach drüben fahren. Sonst kannst du über unser mobiles Funknetz im Auto gehen“, steht ihm LKA-Beyer im VP-Präsidium dann hilfreich zur Seite. „Also, hier im Präsidium müsstest du über die Vermittlung gehen, und das würde ich dir nicht raten!“

Ganser ist natürlich nicht mehr im Dienst, aber er hat ja dessen Privatnummer in Mettmann, und da erreicht er ihn dann auch.

„Na, wie is es?“, fragt der neugierig zurück. „Kommst du mit den roten Socken da klar?“

„Wie man’s nimmt. Mit denen habe ich die geringsten Probleme. Da gibt’s andere Sachen, die mir mehr Kopfschmerzen machen. Ganz andere!“

Ganser ist heute offensichtlich an Deutungsversuchen von Chef-Rätseln nicht besonders interessiert. „Was tut sich in Sachen Fuchs?“

„Es gibt gar keinen Fuchs.“

„Häää?“

„Es gibt keinen Fuchs!!!“

„Versteh, ich nicht..."

„Kannst du auch nicht. Bin hier in so ’ne Art Spionagefilm rein geraten. À la John le Carré! Joachim Fuchs aus der Bergstraße 19 in Ost-Berlin ist eine Legende...“

„Eine was?“

„Eine Legende, Fiktion, Tarnname! In Wirklichkeit heißt der Mann Günther Raschke, geboren am 10.8.1948 in Pasewalk, hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS, letzter Dienstgrad Hauptmann in der HA XX, der Hauptverwaltung zur Bekämpfung politischer Untergrund-Tätigkeiten!“....Stille.

„Bist du noch da?“

„Jaaa...“

„Und außerdem war der Herr Hauptmann auch noch ein OibE!“

„Ach ja?“, klingt es ziemlich verständnislos aus dem Hörer.

„Ein Offizier im besonderen Einsatz! Ist schon mit der ersten Ungarn-Welle als Flüchtling Joachim Fuchs zu uns eingeschleust worden. Ich kann dir sogar seine Versicherungsnummer und das Datum seines Eintritts in die Partei sagen!“

„Und das ist sicher?“

„Tss, Gernot, was ist hier schon sicher! Ihr habt einen toten MfS-Mann in Düsseldorf liegen, soviel ist mal Fakt!“

Die frühmorgendliche Dienstbesprechung beim K-Leiter erspart er sich am darauffolgenden Donnerstag, spricht aber anschließend in der MUK mit Meißner über das weitere Vorgehen.

„Nachdem wir jetzt die wahre Identität des Toten kennen, kann ich mir durchaus vorstellen, dass die Motive für dessen Ermordung möglicherweise mit seiner Tätigkeit beim MfS in Verbindung stehen?“

„Sind Sie da so sicher?“ Meißners Gesicht steckt voller Zweifel.

„Es ist eine Hypothese. Aber sie klingt plausibel.“

„Nein. Das meine ich nicht ... Kollege. Können Sie so sicher sein, dass es sich bei dem Namen Günther Raschke um die wirkliche Identität handelt? Die Firma hatte da so einige Möglichkeiten...“ Verunsichert runzelt Benedict die Stirn.

„Na ja. Also an irgend was muss ich mich ja erst mal halten. Und im Moment habe ich da nur diese Akten ...“

„.....bei denen es sich auch um gefälschte Spuren handeln könnte. Sie müssen nicht alles glauben, nur weil es darüber Akten gibt!“

„Sie meinen...?“

„Ich meine gar nichts, gebe nur zu bedenken!“

„Damit komme ich aber nicht weiter. Mein Vorstellungsvermögen geht nicht soweit, und deshalb muss ich mich an die aktenmäßigen Darstellungen halten. Also werde ich ab heute versuchen, aus den Vorgängen, mit denen der Raschke zu tun hatte, Personenhinweise zu filtern. Es ist doch möglich, dass der Mann von irgend jemandem, dem er im Verlauf seiner MfS-Tätigkeit geschadet hat, auf dem Schiff in Düsseldorf erkannt und dann von dem Opfer aus Rache getötet wurde, oder?“

„Na, viel Spaß. Werden Sie wahrscheinlich einiges zu tun bekommen. Sind die Leute da drinnen denn wenigstens... kooperativ?“

„Doch, doch ... geht jetzt alles seinen Gang!“

Meißner zeigt, für Benedict völlig überraschend, ein freundliches Lächeln. „Haben Sie da nicht ein kleines Wort vergessen?“

Und da muss auch der Hauptkommissar aus dem Rheinland grinsen.

Engel, der auf den alten Rang Oberleutnant so unangemessenen Wert legt, scheint ihm diese Fröhlichkeit zu missgönnen, denn die Informationen, die er anschließend für Benedict hat, findet der gar nicht mehr lustig. Eine als RAF-Terroristin weltweit gesuchte Frau hatte jahrelang mit einer MfS-Legende versehen, völlig unbehelligt in Ost-Berlin gelebt und war gestern hier von der Ost-Kripo verhaftet worden.

„Tscha, wenn wir können, wie wir wollen!“ Der Oberleutnant scheint das für einen Erfolg zu halten.

„Ihr wollt aber ziemlich spät!“, gibt ihm Benedict bissig zur Antwort.

Die nachfolgende Schweigsamkeit durchbricht Engel dann doch wieder gewohnt freundlich: „Haben Sie Lust, heute Abend mit ins Kino zu kommen? ’ne echte DDR-Premiere. ,Karla‘ von Ulrich Plenzdorf. Ist bei uns nie in die Kinos gekommen, na wie wär’s?“

„Nein. Nein, wirklich nicht.“

Benedict steht heute wirklich nicht der Sinn nach DEFA-Filmen. Er hat abends schon etwas vor.