Wie auch immer Dr. Siegfried Huber aus Frankfurt am Main es geschafft haben mochte, jedenfalls wirft er irgendwann mitten in der Nacht an Benedicts Bett einen gewaltigen Schatten.
„Können Sie schnarchen. Machen ja direkt die Pferde in Hoppegarten scheu!“
Aus schlaftrunkenen Augen blinzelt der Hauptkommissar in den abgeschirmten Lichtstrahl einer Taschenlampe, die auf Hubers runden Schädel gerichtet ist.
„Hoppegarten? Pferde? Was? Wie kommen Sie überhaupt... ach ... was gibt’s denn?“
Sinnlos, danach zu fragen. Auch auf Fuerteventura hatte der akademische Finanzfahnder solche Fragen stets unbeantwortet gelassen.
„Passen Sie auf, ich habe noch rund drei Minuten bis zum nächsten Anfall. Also, kurz und schmerzlos zur Lage: es sind mindestens zwei verschiedene Gruppen, die an Ihnen dran kleben. Da stellt sich ein echtes Problem. Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen weiter den Rücken freihalte, kann ich nicht raus finden, woher die kommen oder wer die eigentlich sind. In der Nacht, solange Sie jedenfalls hier rumschnarchen, gehen die sowieso mit halber Besatzung auf Tauchstation.“
„Auf Tauchstation?“
„Ja. Einer gammelt in so ’nem verbeulten Trabant gegenüber, und der andere hat sich janz feudal im zweiten Stock von so ’ner Plattenvilla aus Honeckers Bauprogramm für die werktätigen Schichten einjenistet.“
„Und Sie, was machen Sie?“
„Dr. Huber, der Mann der im ganzen Rhein-Main-Gebiet für seine Pferdeallergie berühmt und berüchtigt ist, hat sich in den letzten Stunden in den Ställen von Hoppegarten rumgetrieben, um den Besitzer eines Motorrads der Marke Java, mit Ost-Berliner IA-Kennzeichen, ausfindig zu machen. Auf diesem Motorrad entschwand heute Nachmittag eine gewisse Überbringerin einer Nachricht, oder irre ich mich da sehr?“
„Natürlich nicht. Weiter!“
„Fehlanzeige. Die Maschine gehört einem dort beschäftigten Pferdepfleger, dem sie am Vormittag geklaut worden war. Hatte sie schon als gestohlen gemeldet, und sie ist bis jetzt nicht wieder aufgetaucht!“
„Wie haben Sie denn ...?“
„Noch 1 Minute und 25 Sekunden!“, flüstert Huber mit mahnender Stimme. „Wenn Sie also wollen, dass ich rauskriege, wer die Leute sind, muss ich mir meine Katze zur Unterstützung holen! Zwei Sachen gleichzeitig kann ich nicht.“
„Ihre Katze?“
„Ja, Dr. Katzmann, mein Assistent in Frankfurt!“
„Lass mal, Huber. Soviel Aufwand ist die Sache wahrscheinlich gar nicht wert. Nee, nee!“
„Wenn Sie das so sagen... also, jetzt muss ich wirklich ... sonst...“
Kurze Zeit nachdem Dr. Siegfried Huber das Weite gesucht hat, vernimmt Benedict ein merkwürdig dumpfes, explosionsartiges Geräusch, dessen Art und Ursprung ihm längere Zeit ein Rätsel bleibt. Schnell hatte der Huber ja wieder reagiert. Sich in dieser Situation das polizeiliche Kennzeichen zu merken und dann auch noch, durch welche Quellen auch immer, den Halter des Motorrades zu ermitteln! Das war schon eine reife Leistung. Typisch Huber, eben. Schade, dass es nicht geklappt hat. Hoppegarten ... Pferdeallergie ... wieder dringt dieses gedämpfte Knallen an seine Ohren, und dann muss Benedict in seinem Bett vor Lachen fast losprusten ... richtig, da niest jemand!
Benedict fühlt sich im Wissen um Hubers beschützende Anwesenheit bedeutend sicherer in den Straßen dieser Stadt. Er vermeidet vergewissernde Rundumblicke, denn das übernimmt viel besser jemand anderes für ihn.
„Morgen!“
Der Wartburg der MUK erwartet ihn am Bahnhof Lichtenberg, aber heute ist es nicht der allgegenwärtige Engel, sondern der Leiter der MUK höchstpersönlich, der ihn zu einer Spazierfahrt auffordert.
„Ich habe da was für Sie arrangiert, draußen in Karlshorst.“
Nach seiner knappen Mitteilung versinkt er in Schweigen, so als müsste Benedict der Inhalt dieses Satzes aus sich selbst heraus klar sein. Auch der Hauptkommissar grübelt schweigend, stellt aber nach einigen Minuten fest, dass Meißner im Kreis herumfährt, denn die gleiche Straße haben sie gerade eben schon einmal passiert. Stirnrunzelnd wendet er dem Fahrer seinen Kopf zu, aber dessen Blicke scheinen vom Rückspiegel gebannt zu sein.
„In einer Hinsicht scheinen Sie jedenfalls Recht gehabt zu haben. Wir werden verfolgt!“
Nach einer Weile weiteren Zickzack-Kurvens greift der MUK-Leiter schließlich zum Mikro, bastelt aber erst irgend was an dem RFT-Gerät herum, bevor er zu sprechen beginnt.
„Sluschaitje, Towarischtsch Major! Mui idiom...“
Perplex lauscht Benedict den russischen Wortkaskaden des MUK-Leiters. Klar, so ungewöhnlich war das ja auch nicht. Hatte wahrscheinlich sogar Lehrgänge in der Sowjetunion mitmachen müssen... war wohl üblich bei den höheren Chargen hier. Nach mehreren Minuten scheinen Meißner und sein unsichtbarer Gesprächspartner dann zu einem Entschluss gekommen zu sein. Jetzt geht es ohne weitere Umwege zügig Richtung Friedrichsfelde, wo Meißner den Wartburg schließlich am Eingang des Tierparks anhält und Benedict zum Aussteigen auffordert.
Als sie das Eingangstor passiert haben und auf ein größeres Gebäude zugehen, spricht Meißner kurz und eindringlich auf ihn ein. „Wenn wir da drin sind, wird Sie ein Tierpfleger mit einer Tierparkuniform versehen. Die ziehen Sie ganz schnell über Ihre Klamotten, und dann folgen Sie seinen Anweisungen. Das muss alles ganz schnell gehen, sonst kommen die uns auf die Schliche. Nachher werden Sie dann erwartet!“
„Und was ist mit Ihnen?“
„Ich warte hier, bis Sie wieder zurück sind. Dann fahren wir wieder zusammen los!“
„Aber...“
*
ZU SPÄT, SIE HABEN das Dienstgebäude erreicht, wo sie der Tierpfleger erwartet. Benedict streift sich das streng riechende Zeugs über, schlüpft in ein Paar übergroße Gummistiefel und bekommt abschließend noch eine speckige Mütze auf den Kopf gestülpt. Er schüttelt sich. Hoffentlich gibt das keine Herpesbläschen. Der Mann drückt ihm dann noch eine Mistgabel in die Hand, nimmt eine bereitstehende Schubkarre mit Heu, und sie verlassen das Gebäude durch einen anderen Ausgang. Zwischen zwei Gehegen hindurch erreichen sie Augenblicke später eine dichte Baumhecke. Ehe sich Benedict versieht, öffnet sich dahinter unvermittelt eine kaum wahrnehmbare Eisentür, und er stolpert hindurch. Eine Straße, eine dunkel verhangene Limousine mit laufendem Motor und ein offener Wagenschlag, in den er hineingezogen wird. Stolpernd fällt er auf die hintere Sitzbank, die Tür klappt zu, und der Wagen nimmt zügig, aber nicht übertrieben schnell Fahrt auf.
„Wo soll’s denn hin gehn?“
Die Antwort des Fahrers, von dem er nur den breiten Rücken sieht, ist nicht besonders erhellend.
„Ja nje ponimaju!“
Weitere Bemühungen um Konversation stellt der Hauptkommissar ein und ergibt sich in sein Schicksal. Was sollte er sonst auch machen. Meißner wird das schon richtig organisiert haben, oder ...?
Lange dauert es dann aber nicht. Der Fahrer öffnet den Wagenschlag wieder, und als Benedict aussteigt, steht er vor einer etwas stockfleckigen Gründerzeitvilla, in deren Inneren er von einer uniformierten Wache in Empfang genommen wird. Diese Uniform! Endlich fällt auch bei ihm der Groschen. Karlshorst! Natürlich! Hier sitzen doch die Iwans! Noch bevor er sich mit diesem Gedanken vertraut machen kann, klopft sein Empfangskomitee an eine Tür und geleitet ihn hinein.
Welch ein Bild.
Das Flaggschiff der russisch-türkischen Koalitionsflotte unter voller Takelung feuert eine Breitseite gegen die französischen Inselbefestigungen in der Ionischen See. Eines dieser maritimen Kriegsgemälde in schwerem Goldrahmen, auf denen nichts von Schweiß und Mühsal der misshandelten Kanoniere und Seeleute zu sehen ist. März 1799. Russisch-türkische Streitkräfte erobern die Ionischen Inseln von den Franzosen. In Korfu fallen ihnen ein Linienschiff und eine Fregatte in die Hände. Das seemännische Bravourstück wurde von dem russischen Admiral Fjodor Uschakow, dessen Flagge am Top des Hauptmastes flattert, geführt. Welch ein Bild. An diesem Ort.
„Gefällt es Ihnen, Herr Benedict?“
Was für eine Frau.
Das weiße Gesicht mit den hohen Wangenknochen von blauschwarzem Haar umrahmt, zu einem kleinen Dutt im Nacken gesteckt, versucht es Strenge zu vermitteln, kann aber die Ausstrahlung sinnlicher Weiblichkeit nicht völlig verhindern. Die etwas zu kleine Nase über den vollen Lippen widerspricht dem ernsten Eindruck zusätzlich. Das alles wird überstrahlt von nachtblauen, feucht-samtigen Augen, in denen sich die Farben aller Weltmeere versammelt zu haben scheinen. Auf den Grund dieser Meere zu tauchen ... und obwohl ihre Kleidung, grauer Rock und grauer Pullover, wohl einen uniformen Eindruck vermitteln soll, bringt sie die wundervollen Formen ihres Körpers zur Geltung, dass Benedict der Atem stockt...
„Nu schto, gefällt es Ihnen?“
Mit vor leichter Ungeduld gekrauster Nase wiederholt sie die Frage, und er beeilt sich, heftig zu nicken.
„Ja, ja ... die Schlacht vor Korfu unter Admiral Uschakow!“
Die Frau runzelt erstaunt die weiße Stirn, aber in ihren Augen beginnen kleine, fröhliche Ostseewellen zu wirbeln.
„Sie .haben von meinem Ur-Ur-Ur-Großvater gehört? Das ist sehr ungewöhnlich. Oder habe ich eine Ur vergessen?“
Sie lacht. Ein warmes, gutturales Lachen aus einer heiseren Kehle. Ihr Deutsch klingt bemüht korrekt und ist fast ohne bestimmbaren Akzent. Dann wird Sie wieder ernst. „Ich bin Vera Uschakowa. Mein Dienstgrad ist Major. Sicher hat Ihnen Genosse Meißner gesagt, dass ich Angehörige des KGB bin.“
Nein. Hatte er nicht, aber er hätte es sich denken müssen.
„Bitte setzen Sie sich doch endlich, Herr Benedict! Möchten Sie ein Glas Tee?“
„Ja, sehr gerne!“, sagt der Hauptkommissar mit belegter Stimme und setzt sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
„Tschai, poschalista!“, ordert sie ins Telefon und fingert dabei eine Zigarette aus der Packung neben sich.
Aber während Benedict noch in den Taschen seiner Hose unter der Verkleidung nach Streichhölzern fummelt, hat die KGB-Majorin sich schon selbst mit einem Einwegfeuerzeug geholfen.
„Sie haben da ein kleines Problem und ...“
Ein Uniformierter bringt ein silbernes Tablett mit zwei dampfenden Teegläsern herein, das er auf dem Rand des Schreibtisches abstellt, und verlässt salutierend das Zimmer.
Die Uschakowa nimmt sich eine Tasse vom Tablett herunter, aber bevor sich auch Benedict bedienen kann, steht sie auf, geht um den Schreibtisch herum und bringt ihm seine Tasse auf dem Silbertablett. Sie beugt sich zu ihm herunter. Er spürt ihren Atem im Gesicht und einen Wimpernschlag lang fühlt er die Berührung ihrer Brust an seinem Oberarm.
„Sie riechen gut!“
„Tut mir leid, das sind diese Sachen aus dem Zoo, die ..."
„Ach das ... nein, ich meine Ihr Rasierwasser. Das kenne ich gut. Old Spiee. Mein Vater benutzt es. Ich liebe diesen Geruch!“
Ihr Vater? Wie alt mochte sie sein. So um die Dreißig vielleicht, aber er tat sich da bei Frauen immer schwer. Die Berührung ihrer Brüste durch den Stoff hindurch hatte wie ein Elektroschock auf ihn gewirkt. Ob sie das absichtlich getan hatte? Oder war sie sich der Auswirkungen ihrer eigenartigen „Teezeremonie“ gar nicht bewusst?
„Also, Ihr Problem, Herr Benedict!“
Ja, sein Problem. Welches Problem? Ach ja ... das auch.
„Es ist gut, dass Sie darüber mit dem Genossen Meißner gesprochen haben. Wir haben großes Interesse daran, an die Leute heranzukommen, die Material unserer Archive auf dem freien Markt zu verkaufen versuchen. Und natürlich ist es besonders wichtig für uns, die Verräter aus den eigenen Reihen unschädlich zu machen. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff, sagt man bei Ihnen wohl, aber sie wollen sich auch noch daran bereichern. Das können wir nicht dulden, auf keinen Fall!“
Bei den letzten Worten hat die Stimme der KGB-Majorin einen harten Klang angenommen, und sie klatscht mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte.
Wie gebannt starrt Benedict auf die sehnige Hand der russischen Frau. Diese Schreibtischplatte ... was für ein Einfall ... eine KGB-Majorin hier in ihrem Büro, auf dieser Schreibtischplatte ... er muss schlucken und kämpft einen aufopferungsvollen Kampf gegen seine Phantasien.
„Wie gehen wir in dieser Sache also vor?“ Er scheint diesen Kampf dann doch gewonnen zu haben.
„Im Laufe des Vormittags werde ich mit unseren Spezialisten einen Operationsplan entwickeln und Sie heute Abend darüber informieren.“
„Die Leute wollten sich aber heute noch mit mir in Verbindung setzen. Was soll ich denen sagen?“
„Hm ... halten Sie sie irgendwie hin ... verlangen Sie eine Kostprobe des Materials oder etwas ähnliches. Sie müssen sich doch von der Qualität der Ware überzeugen, oder?“
Ja. Das wäre schön, denkt Benedict und muss wieder schlucken.
„Sicher. Das könnte hinhauen. Und wie machen wir das heute Abend mit der Information?“
„Wir arrangieren einen unauffälligen Treff. Sie haben doch heute Abend noch nichts vor?“
„Nein...“
„Gut. Ich habe zwei Karten für die Deutsche Staatsoper. Wir treffen uns vor dem Eingang. Mögen Sie Mozart? Die ,Zauberflöte‘?“
Natürlich mochte er die ,Zauberflöte‘, aber vor der Aussicht auf einen Abend mit Vera Uschakowa, Major des KGB in Berlin-Karlshorst, hätte er sogar Wagners ,Ring‘ überwältigend gefunden.
*
„DIE JUNGS WERDEN GANZ schön Schaum vorm Mund haben!“
Hauptkommissar Meißner grinst schadenfroh, als er mit Benedict, der erleichtert ist, aus der stinkigen Tierpflegerkluft wieder herausgekommen zu sein, vor dem Tierpark Friedrichsfelde in den Wartburg steigt. Und nicht nur die, denkt der Westkommissar etwas besorgt, denn auch Dr. Siegfried Huber würde der soeben beendeten Charade zum Opfer gefallen sein.
„Nu? Wie hat Ihnen die Genossin Vera gefallen? Sie müssen doch zugeben, dass ooch der Sozialismus reizvolle Früchte hervorbringt, nu?“
Vitus H. Benedict kann nicht umhin, dem zuzustimmen und lächelt versonnen vor sich hin.
„Hab ich mir doch gleich gedacht, dass Ihnen die behagen würde! Und sonst? Haben Sie mit unseren Freunden ein Arranschemang treffen können? Wegen der Sanger-Geschichte?“
Er berichtet Meißner über den Ablauf des Treffens in der KGB-Villa, soweit er das für sinnvoll erachtet, aber als der ihn an der Normannenstraße wieder absetzt, geht er doch davon aus, dass sich der MUK-Leiter unverzüglich mit Vera Uschakowa in Verbindung setzen wird. Die beiden kennen sich mit Sicherheit länger und besser und sprechen außerdem die gleiche Sprache.
„Wenn’s heute Abend nicht zu spät wird, sprechen wir uns noch!“, verabschiedet Meißner sich durch das heruntergekurbelte Wagenfenster hindurch.
„In Ordnung!“, antwortet Benedict, aber das geht in einem plötzlichen Quietschen und Knallen von Blech auf Blech unter. Vielleicht hatte Meißner zu schnell vom Straßenrand zur Mitte gezogen, vielleicht war der andere Wagen auch einfach mit zu hoher Geschwindigkeit herangebraust. Das Ergebnis war der nicht schwerwiegende Auffahrunfall eines West-Golfs auf einen Ost-Wartburg, der aber, wenn man nach der Lautstärke des in bayrische Loden gekleideten Golf-Fahrers ging, mindestens drei Menschenleben gekostet und einen Millionenschaden verursacht hatte.
„Ja kreuzsapperlot! Könnt’s ihr verdammten Saupreißn, kommunische, nicht aufpassen!? Habt’s ihr net Audo fahrn gelernt, auf eure roten Parteischul’n?“, schnauft der Massige mit dem Filzhut auf dem Kopf, und der Gamsbart zittert vor Empörung mit.
Als Benedict sieht, wie sich Meißners Gesicht zu einer eisig-dienstlichen Grimasse verzieht, scheint es ihm an der Zeit einzugreifen, und er tritt mit einem hastigen Schritt zwischen die beiden Kontrahenten.
„Geht in Ordnung, Kollege“, zischt er zwischen den Lippen heraus, „der Mann gehört zu mir. Was ist los, Huber?“
„Na, das will ich Sie fragen? Auf einmal war’n Sie verschwunden. Dachte schon, die hätten Sie im Zoo hinter Gitter gebracht!“
„Da wusste ich selbst nichts von. War ’ne Überraschung von meinem Kollegen hier. Es ist alles soweit in Ordnung. Ich werde hier noch ein paar Stunden absitzen und heute Abend in die Staatsoper gehen. Aber bemühen Sie sich nicht, die Vorstellung ist ausverkauft. Und jetzt“, wendet er sich wieder Meißner zu, „tun Sie so, als ob Sie mit ihm Adressen austauschen oder so was, das muss schließlich echt aussehen!“
Mit einem zünftigen „Pfüeti, Saupreiß!“, verabschiedet sich der Golf-Fahrer alsbald, und Meißner sieht ihm kopfschüttelnd nach.
„Scheint wohl Theatertag zu sein, heute!“
Dann ist auch der MUK-Leiter weg.
*
GLEICH DER ERSTE RASCHKE-Vorgang birgt eine Überraschung.
Als er das Deckblatt umblättert, fällt ihm ein Fetzen Papier entgegen, der da nichts zu suchen hat. Eine Telefonnummer und zwei Buchstaben. DS. Unwohl starrt Benedict auf das Gesicht des Bürgerkomiteelers. Sollte der... oder die Staatsarchivarin? Der Mann vom Amt für Nationale Sicherheit vormals MfS? Es hilft trotzdem nichts. Er muss sich mit den Leuten in Verbindung setzen, damit sie keinen Verdacht schöpfen. Aber von hier? Aus der Höhle des Löwen? Lächerlich! Wenn es denen möglich war, ihm sogar in das Allerheiligste hinein Nachrichten zukommen zu lassen, konnte er sie auch geradeso von hier aus anrufen.
„Hör’n Sie, ich muss da mal ’ne Flamme von mir anrufen ... wäre es möglich, dass Sie gerade mal... nur ’ne Minute! Bitte!“
Nach einer Weile löst sich das mürrische Gesicht des Bürgerkontrolleurs glücklicherweise in einen Ausdruck von Verständnis auf, und Benedict kann unbeaufsichtigt sprechen.
„Benedict!“
„Dachten schon, Sie hätten kein Interesse mehr!“
„Doch, doch ... vielleicht sogar großes Interesse, allerdings...“
„Ja?“
„Na ja, ’ne Katze im Sack habe ich noch nie gekauft. Ich müsste schon irgendeine Art von Beweis dafür haben, dass Ihr Material überhaupt was wert ist ... Können Sie mir so was liefern?“
Man scheint sich am anderen Ende der Leitung zu beraten, denn selbst durch den abgedeckten Hörer hindurch kann Benedict das Gewirr unterschiedlicher Stimmen vernehmen.
„Hören Sie, Hauptkommissar Benedict aus Düsseldorf, Sie wollen uns doch nicht etwa verarschen? Mein Wort drauf, es ist uns scheißegal, ob Sie Bulle sind oder sonst noch was! Munition haben wir satt!“
„Wie kommen Sie darauf?“, versucht er die aufgeregte Stimme zu beruhigen. „Wir wollen doch ein Geschäft machen, an dem beide Seiten Freude haben, oder? Und wenn Sie echtes Geld von mir wollen, muss ich sicher sein, dass ich von Ihnen auch echte Ware bekomme! Und das hat nichts mit Verarschung zu tun!“
„Also gut! Sie kriegen, was Sie wollen! Aber dann muss der Deal auch sofort über die Bühne gehen, sonst geht das Material an andere Interessenten!“
„Wann? Wie? Wer..."
Die folgenden Stunden hastet der Mann in der Zentral-Kartei durch die auf seinem Schreibtisch gestapelten Akten. Die Zeit im Nacken und immer fürchtend, den einen Namen vielleicht zu überlesen. Eben den Namen, der die Kollegen in Düsseldorf letztlich auf die Spur des Mörders von Raschke, alias Fuchs, führen könnte.
Um 16 Uhr verlässt Benedict mit den Ergebnissen seiner heutigen Nachforschungen die Normannenstraße, hetzt zum Bahnhof Lichtenberg und betritt kurz vor fünf mit eiligen Schritten den Eingang des VP-Heims am Murtzaner Ring. Fast hat er die Tür seines Zimmers erreicht, als ihn die laute Stimme des Objektleiters zum Umkehren zwingt.
„Hier ist gerade ein Päckchen für Sie abgegeben worden, Herr Benedict! Steht drauf ,Sofort zu öffnen!'.“
„Danke!“, ruft er, reißt das kleine Päckchen an sich und verschwindet auf seinem Zimmer, wo er es schwer atmend aufmacht. Ein Walkman. Fast wäre er seinen zitternden Fingern entfallen und auf dem Boden zu Bruch gegangen. Während er sich die beigelegten Kopfhörer aufsetzt, versucht er gleichzeitig aus der Hose zu steigen und in den Waschraum zu gehen. Seine unkoordinierten Bemühungen finden ihr abruptes Ende, als er sich plötzlich strauchelnd auf dem Fußboden wiederfindet. Der Fall gibt ihm dann endlich Gelegenheit, sein Gehirn wieder einzuschalten, und er versucht trotz Zeitnot die Dinge der Reihe nach durchzuführen. Auf der Bettstelle sitzend, betätigt er den Einschalthebel des Walkman. Einige Sekunden lang dringt nur ein etwas lauteres Rauschen aus den Kopfhörern, aber dann scheint der Wahlvorgang abzulaufen, gefolgt von einem Rufton. Nicht der typisch deutsche Rufton, nein, irgendwas ausländisches. Bevor er weiter herumrätseln kann, meldet sich der Teilnehmer am Ende. „Hallo! This is Dixie Lupinsky. Who’s speaking? ... Hallo! It’s Dean! How are you today? ... Hallo, my love! Are you alone? ... Yes ... I love you so much ... I know ... How is everything going? Are you making any progress? ..." Der Telefonmitschnitt dauert nur wenige Sekunden, aber es ist der definitive Beweis für die Echtheit des angebotenen Materials. Und jetzt weiß Benedict auch etwas mehr über diese Amerikanerin namens Dixie, die sich von allen möglichen Geheimdiensten verfolgt fühlt, von Dean Sangers Ermordung überzeugt ist und offensichtlich in Dean Sanger verliebt war ...
Fast hätte er die kleine Nachricht übersehen, die noch in den Resten des zerfetzten Briefumschlages liegt: Der Wert der Lieferung beträgt 50 000 DM. Kein Handel. Wir setzen uns mit Ihnen in Verbindung!
Verdammt, die Zeit! Gut, dass er wenigstens einen seiner dunkleren Armani-Anzüge und die passenden Schuhe dabei hat. Die Krawatte? Vielleicht etwas zu bunt für die Oper, aber was soll’s. Muss gehen. Rasieren? An sich noch nicht nötig, aber ... sicher ist sicher. Und auch wegen des After Shaves. Sie riecht es doch so gerne.
Als er um zehn nach sechs ganz schön verschwitzt und mit einem satten Rasierschnitt über der Oberlippe in seiner Telefonzelle steht, klopft ihm das Herz bis zum Hals, und er hört den Puls in seinen Ohren wummern.
„Mensch, wird aber auch Zeit! Ich will auch mal pünktlich aus dem Laden rauskommen! Also schieß los!“
Benedict rattert mit fast atemloser Stimme die Namen und Geburtsdaten so schnell herunter, dass ihn Kommissar Ganser im Düsseldorfer Präsidium mehrmals unterbrechen muss. Dann ist er endlich durch.
„Dieser irre Typ vom WDR nervt mich hier langsam. Kannst du den nicht endlich mal zurückrufen?“
Auch der noch. Hätte er fast vergessen.
„Hallo, Hallo! Sie haben die heißeste Musiknummer...“
„Hören Sie auf mit dem Schwachsinn! Ich bin’s. Benedict!“
„Ach Sie gibt’s noch? Sie glauben wohl, wir hätten hier sonst nichts Anderes zu tun! Die Schnepfe, die Sie suchen, heißt Dixie Lupinski!“
„Weiß ich auch schon.“
„Na is ja gut. Brauch ich ja nicht weiter ...“
„Reden Sie schon. Was haben Sie über sie rausbekommen?“
„Wo ist eigentlich das Nest mit den komischen Vögeln, die Sie immer ausgraben? Erst dieser abgefuckte Ami-Sänger mit dem Lenin-Orden, und jetzt noch eine hysterische Zimtzicke, die halb Amerika mit ihren irren Geschichten auf den Geist geht! Also, die Schnecke ist völlig verstrahlt, hat den Schuss nicht gehört, capito!“
„Hören Sie, ich hab nicht viel Zeit, mir Ihr Gesülze anzuhören. Haben Sie was über sie oder nicht?“
„Ja, ja. Is’ schon gut. Die is’n Amateur. Keine Professionelle im Business. Hat vor Jahren jeden nur anwählbaren Anrufbeantworter rund um L.A. mit ihrem Sanger-Spezi vollgelabert und den Produzenten absolut unprofessionell gemachte Tapes mit dem Sanger-Gedudel zugeschickt. Der volle Joke für den dust-bin! Dean ... who? Hat sogar versucht, so was wie’n Dean Sanger Fanclub in den USA auf die Rolle zu bringen, aber da war sie wohl das einzige Mitglied. Zur Zeit geht die News, dass die Männer in den weißen Anzügen mit der Zwangsjacke hinter ihr eine Polonaise durch die Staaten veranstalten ...“ Wie es Vitus H. Benedict anschließend gelingt, noch rechtzeitig vor Vera Uschakowa die breite Freitreppe der Staatsoper Unter den Linden zu erreichen, das weiß er selbst nicht, aber als sie aus der Taxe steigt, geht sein Atem wieder normal und sein „Guten Abend!“ klingt formvollendet und höflich.