image
image
image

13

image

Als er den Wagen vor dem kleinen Seitentor des Babelsberger Filmgeländes hält, platschen die ersten Regentropfen auf die Windschutzscheibe.

Sie hatten verlangt, dass er eine halbe Stunde vor dem abgesprochenen Termin an dem kleinen Seitentor des Filmgeländes warten sollte. Und mit dem Jaguar hatte er kommen sollen, denn „wir wollen Sie während der Fahrt beobachten können“. Auf dem Weg nach Babelsberg, einige Male war er nahe daran gewesen umzukehren und die ganze Sache abzublasen, hatte sich der Himmel mit blauschwarzen Wolkentürmen zugezogen. Innerhalb weniger Minuten ist aus den vereinzelten Tropfen jetzt ein veritabler Wolkenbruch geworden, und ein schwaches Flackern am Himmel kündet von einem herannahenden Gewitter. Das hat er nicht berücksichtigt. Sind zwar nur ein paar Meter bis zu dem kleinen Hügel, wo die Übergabe stattfinden soll, aber er würde trotzdem patschnass werden.

„Ich und ein paar von unseren Leuten werden auch da sein!“, hatte Meißner im Präsidium gesagt, als Benedict erstaunt auf die Waffe auf dem Schreibtisch des MUK-Leiters gestarrt hatte. „Die werden wir wahrscheinlich nicht brauchen“, setzte er hinzu. Sollte wohl zu Benedicts Beruhigung dienen. Zeigte aber, wenn überhaupt, nur kurzzeitig Wirkung. Oberleutnant Engel, gefährlich mit einer polnischen MPi in der Hand rumfuchtelnd, war fluchend ins Zimmer gestürmt. „Mensch Meise, der Verschluss an diesem Scheißding klemmt schon wieder. Nachher funktioniert die Streue überhaupt nicht!“ Benedicts direktem Blick ausweichend, hatte der MUK-Leiter sich dann ausdauernd mit dem Mechanismus der P64 beschäftigt, und der Hauptkommissar hatte für

den dicken Umschlag mit Geld quittiert und dann mit gemischten Gefühlen die MUK- Räumlichkeiten verlassen.

Noch zehn Minuten. Immer greller zucken die Blitze vom nun nachtschwarzen Himmel, und immer kürzer werden die Intervalle zu den folgenden Donnerschlägen. Mit der Gewitterfront muss auch ein Schwall Kaltluft herangetrieben worden sein, denn Benedict beginnt plötzlich vor Kälte zu zittern. Oder ist es nur die Anspannung, das qualvolle Warten bis zur Entscheidung? Während seine Zähne aufeinander schlagen, versucht er die verkrampften Gesichtsmuskel durch Kaubewegungen zu lockern. Dort, irgendwo im nässetriefenden Dunkel der Büsche und Bäume, am Fuße des Hügels, mit den Kriegsrequisiten eines längst gedrehten Films, zwischen den Kulissen des mittelalterlichen Prag, irgendwo dort würde auch Vera mit ihren Leuten sein. Und Meißner ... und Engel mit einer verklemmten MPi...

Gespenstisch. Wäre er jünger, würde er sich wahrscheinlich vor Angst in die Hose machen. Fluchend und über Stellungsgräben mehr stolpernd als springend, hatte er sich Punkt acht zu dem Wrack des Flugzeugs vorgearbeitet. Dabei auch noch behindert durch den mitgeschleppten Abspielmonitor. Fröstelnd und bis auf die Haut durchnässt kauert er sich jetzt Schutz suchend unter der wirkungsvoll abgeknickten Tragfläche des Kampffliegers zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde taucht ein Lichtblitz die Szenerie in bläuliche Helle. Dann der hart peitschende Knall. Ganz plötzlich hat Benedict beißenden Schwefelgeruch in der Nase und muss niesen. Diesmal eine grell flackernde Folge von Blitzen. Wüsste er nicht, an welchem Ort er sich hier befindet, dass Ruinen, Stacheldraht und Geschützlafetten nur Kulissen aus Pappmasche sind, er würde jeden Moment den Einschlag von Granaten oder den Sturmangriff feindlicher Truppen erwarten.

Nur mit großer Mühe hört er über den verklingenden Donner hinweg das Geräusch eines Fahrzeugmotors. Bis auf den nun gleichmäßig herab rauschenden Regen ist es auf einmal ganz still. Aus Richtung des Seitentores sieht er die Umrisse einer Gestalt herankommen. Fast hat sie, laut fluchend, Benedicts Standort erreicht, als er aus seiner Deckung aufspringt und sich zeigt.

„Was...?“

Der Mann mit dem Hut macht einen Satz zurück und Benedict blickt in die Mündung einer Pistole. „Keine Panik, Mensch! Ich bin’s, Benedict!“

„Ist Ihr Glück ... so ein ... verrückter Platz! Haben Sie das Geld?“

Bestimmt kein Deutscher. Irgendein harter Akzent. Aus dem Baltikum vielleicht?

„Klar“, sagt Benedict und hält den Umschlag fest, während der Überbringer der Ware mit einer Taschenlampe auf die Geldscheine leuchtet. Als der Schein der Lampe kurz über dessen Gesicht huscht, zuckt Benedict zusammen. Er kennt diesen Mann. Woher kennt er diesen Mann? Irgendwo in der Vergangenheit ist er ihm begegnet. Immer nur ganz kurz. Aber wo? Und nicht nur einmal, aber immer nur ganz kurz...

„Was ist los? Sind Sie taub? Sie haben doch kein Ding vor, oder?“

Hastig greift er nach der Videokassette in der ausgestreckten Hand des ihm so merkwürdig bekannt vorkommenden Mannes, dessen Äußerung er wohl überhört hatte. Unter dem kaum Schutz gewährenden Dach der Tragfläche legt er die Kassette in das Gerät und schaltet den Schnelldurchlauf ein. Ja, das ist eindeutig Dean Sanger, dessen Gesicht über die gesamte Laufzeit der Kassette zu sehen ist. Er spult nochmals kurz zurück. Versucht Zeit zu schinden, damit Veras Leute vereinbarungsgemäß draußen das Fahrzeug der Händler blockieren können. Dann taucht er wieder hervor.

„Das ist in Ordnung“, sagt er zu dem Mann mit dem sehr weißen Gesicht unter der Hutkrempe. „Stellen Sie den Koffer mit den Bändern da hin. Ich übergebe Ihnen jetzt das Geld!“

Über den Koffer hinweg streckt er dem Mann seine Hand mit dem Umschlag rüber, und gerade als dieser ihn fassen will... das Geräusch der ratternden Geschossgarbe wirkt wie ein Schock, der beide Akteure für einen winzigen Moment zur Salzsäule erstarren lässt. Aber dann hat sich der Koffermann zuerst wieder gefangen. Im Lichtschein ringsum aufflammender Scheinwerfer erkennt Benedict die wieder auf ihn gerichtete Waffe. Ein, zwei Motoren heulen auf, russische und deutsche Befehle, Schatten und ein sich wie in Zeitlupe krümmender Abzugsfinger. Giftig wie eine Kobra züngelt es bläulich aus dem schwarzen Loch. Ein heftiger Stoß gegen die Brust, ein dumpfer Knall und scharfes Brennen irgendwo. Als Benedict auf den Boden aufschlägt, fühlt er zuerst kalte, schlammige Nässe, aber dann umfängt ihn plötzlich das wohlige Gefühl, in ihren Armen zu liegen, den Duft ihres weichen Leibes zu spüren, das Salz ihrer Liebe zu schmecken ...

*

image

... DIE SOLJANKA IST FÜR seinen Geschmack etwas zu stark gewürzt, aber er will seine Gastgeber nicht vor den Kopf stoßen. Schließlich ist er hierhergekommen, um aus den DDR-Genossen irgendeine Art von Unterstützung raus zu leiern. Für den antiimperialistischen Kulturkampf in West-Deutschland. Schwer genug bei diesen DKP-fixierten SED-Bürokraten.

Der Genosse aus dem Kulturministerium ziert sich denn auch wie eine Jungfrau vor dem ersten Mal.

„Wir werden das im Rahmen unserer Gesamteinschätzung der Lage demnächst in der Parteiorganisation diskutieren. Dann setzen wir uns wieder mit Ihnen in Verbindung. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik, Genosse Benedict!“

„Muss eben alles seinen Gang gehen!“, sagt sein Spezi aus vergangenen Zeiten, der ihn mit dem Kulturmenschen in Verbindung gebracht hat, entschuldigend.

„Und was machen wa nu?“

„Hättest du nicht mal Lust, vor Parteiveteranen im Prenzlauer Berg über euren revolutionären Kampf zu sprechen? Nichts Besonderes, keine Angst, alles alte Leute. Gibt Kaffee und Kuchen, und die freuen sich, wenn sie mal was anderes hören!“

Klar hat Benedict Lust. Wenn’s dann am Ende die finanzielle Basis verbessern hilft.

Was sind das denn für Veteranen? Ist er in ein Kostümfest geraten? Uralte Frauen und Männer. Manche tragen das Steingrau des Rotfront-Kämpferbundes, andere in geflickten Uniformen der Bri-gada Internacional und wieder andere verwaschene Blauhemden mit einem gelben Wappen auf dem Ärmel. Ein alter Zwerg mit rotem Halstuch umklammert mit kräftigen Händchen eine goldene Trompete.

Die Luft ist stickig in dem zu kleinen Raum, und schon nach wenigen Minuten giert Benedict nach einem Schluck Wasser. Und alle rauchen diese merkwürdigen Zigaretten mit den langen Pappmundstücken. Heiser hört er sich Wortfetzen heraus husten. „Proletarischer Internationalismus ... Solidarität mit den unterdrückten Völkern der dritten Welt ... Revolutionärer Straßenkampf... Anti-Notstandskampagne ... Für den Sieg des Vietcong ... Ich bin ein Berufsrevolutionär ... Berufsrevolutionär ... Berufsrevolutionär ..."

„Du bist ein Lügner! Ein bürgerlicher Linksabweichler! Ein Verräter an der Sache der Arbeiterklasse!“

Er hat den viel jüngeren Mann in saloppen Jeans nicht gesehen. Jetzt schreitet der zwischen den Greisen hindurch, richtet den Hals seiner Gitarre wie einen Gewehrlauf auf Benedict und ruft in gebrochenem Deutsch: „Du bist keine Revolutionär! Du bist nur eine westdeutsche Showman! Eine Lügner!“ Und fordert die Greise mit wilden Handbewegungen auf, es ihm gleich zu tun. „Lügner! Lügner! Lügner!“ Ihre dürren Fäuste recken sich ihm drohend entgegen, und immer enger schließen sie den Kreis um ihn. Ein sehniger Greis in kurzen Hosen zwinkert mit seinen Augen nervös hinter dicken Brillengläsern. „Er hat sich im Pionierlager damals das Freundschaftsbanner klauen lassen!“  „Als Thälmann-Pionier bewarb er sich um Aufnahme in den westlich-dekadenten Micky Maus-Club!“, ruft die schüttere Alte in der Postuniform, und in die geifernde Unruhe hinein ertönt die befehlsgewohnte Stimme des Genossen Direx aus dem Internat: „Du wolltest die Jugendorganisation der Partei lächerlich machen. Beim 1. Mai-Aufmarsch trugst du demonstrativ amerikanische Nietenhosen zum Blauhemd!“ In die sprachlose Stille hinein dann Annkatrins fast geflüstertes „Du hast meine Liebe verraten ...“ Und bevor er eine Chance zur Erwiderung hat, setzt der Zwerg die Trompete an die Lippen und bläst zum letzten Angriff. Schon fühlt er den Atem ihrer verfaulten Zähne, als plötzlich die Tür aufgeht und Vera in Uniform und mit Kampfauszeichnungen an der Brust „Stoitje, Genossen!“, ruft. „Er ist doch mein Kampfgenosse! Mein geliebter Benedict!“

„Herr Benedict! Herr Benedict! Mein Jott, Herr Benedict, wat is denn los mit Ihnen? Is doch allet in Butta, Sie sind doch bei mir!“

Verwirrt betrachtet er das Gesicht der älteren Frau, die sich im Licht einer Stehlampe zu ihm runter beugt. Er scheint in einem Bett zu liegen. Am nackten Arm eine Art Stoffverband, und als er danach fasst, zuckt er schmerzhaft zusammen.

„Au! Wer sind Sie? Wo bin ich hier? Was ist eigentlich los?“

„Also, wer ick bin und wo Sie sind, is einfach. Ick bin die Elsie Huber, und mein Kleena hat sie gestern Abend hier in meine Pension in Charlottenburg verfrachtet! Und des Andere, des soll Ihnen ma der Siggi selba sagen, wenn er von der Apotheke zurück ist!“

Natürlich. Die Ähnlichkeit hätte ihm sofort auffallen müssen. Aber was zum Teufel... Richtig. Babelsberg. Die Übergabe. Blitze in der Nacht und dann dieser Schuss. Irgendwas musste da falsch gelaufen sein.

Er muss wieder eingeschlafen sein, denn als er aufwacht, hantiert der massige Sohn der Pensionswirtin an seinem Arm rum, reißt die angeklebten Stofffetzen mit einem heftigen Ruck herunter.

„Äh ... sollten sich besser Dr. Eisenbart schimpfen! Ich bin privat versichert, Sie Grobian!“

„Na bitte, die Toten erwachen wieder! Haben Sie ein Glück gehabt. Nur ’ne lumpige Fleischwunde, und da machen Sie so’n Theater. Das langt ja nicht mal, um Sie krankzuschreiben!“

„Was war los? Wie komme ich hierher?“

„Der Teufel war los! Wie Sie mich gebrieft haben, hatte ich mich also in einem dieser Schützengräben da versteckt, und die nasse Brühe lief mir bis in die Socken. Dann kommt da so ein Bruder mit ’nem Gesicht wie Dracula persönlich, und sie palavern mit dem rum, wollen ihm gerade den Umschlag geben, fängt auf einmal einer von Ihren Genossen an wie wild in der Gegend rum zu ballern. Dann geht die Festbeleuchtung an, alle möglichen Leute schreien und laufen durcheinander, Ihr Freund mit dem Schlapphut legt auf Sie an und feuert Ihnen eine. Ich denke mir, das war’s Dr. Huber, das Begräbnis wirst du selber organisieren. Macht sich schließlich ziemlich schlecht so ’ne Schlagzeile, ,Kripomann aus Düsseldorf bei Mafiafehde in Ost-Berlin erschossen!', richtig? Also, ich will Sie da irgendwie raus schleifen, da merke ich kraft meines überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten, der is’ ja gar nicht hin, der tut nur so. Trotzdem wollte ich Ihnen einen öffentlichen Auftritt ersparen, bringe Sie sogar auf Ihren eigenen Füßen zu Ihrem Wagen und mache mich damit aus dem Staub. Nicht auszudenken, wenn die an der Grenze noch richtig kontrollieren würden. So aber liegen Sie jetzt sicher und warm im West-Berliner Bezirk Charlottenburg. Und jetzt werde ich meine chirurgischen Kenntnisse anwenden und Ihren kleinen Kratzer da versorgen!“

Während Dr. Huber die Schusswunde desinfiziert, irgendeine Heilsalbe drauf schmiert und dann einen sauberen Verband anlegt, grübelt Hauptkommissar Benedict darüber nach, was da wohl schiefgelaufen war.

„Es ist besser, wenn Sie sich jetzt erst mal ausschlafen, und am Nachmittag können Sie sich ja wieder auf die eigenen Socken machen. Wollen sicher hören, was da noch abgegangen ist, oder?“

Ganz sicherlich. Doch Huber hat recht, er ist hundemüde. Aber morgen muss er unbedingt mit Meißner...

„Hab ich fast vergessen. Sie haben während der ganzen Zeit die Kassette festgehalten. Die Sie da unterm Flugzeug überprüft haben. Wollen Sie sich die ansehen, wenn Sie wieder fit sind? Wir haben einen Video-Recorder hier!“

Das ist gut. Das ist sogar sehr gut. Es ist ihm schon ein wenig peinlich, als er den Helfer in der Not, dann auch noch bittet, ihm die beiden anderen Videos aus seinem Zimmer im VP-Heim zu besorgen.

„Irgendwie!“

Wirklich belanglos.

*

image

ALS HUBERS MUTTER IHN mit dem Frühstück weckte, hatten auf dem Tablett auch die beiden Videos aus Köln gelegen. Und eine Notiz auf einem kleinen Zettel. „Meißner weiß Bescheid. Ich hoffe, das ist in Ihrem Sinne!“

Klug gedacht von Dr. Huber. Sonst hätte der sich vielleicht ernsthafte Sorgen gemacht und möglicherweise sogar mit dem LKA oder mit Düsseldorf gesprochen. So ist das wenigstens geregelt.

Wirklich belanglos.

Ein Westernschinken der schlechten Machart. Italienische Dutzendware. Das Sujet bekannt und abgenudelt. Arme mexikanische Bauern von Regierungssoldaten malträtiert, auf der einen Seite und dann der Profi-Gringo mit den schnellen Colts, der ihnen für mehr Geld als gute Worte helfen soll, auf der anderen Seite. Und dazwischen Dean Sanger, der Hübsche, der den Idealisten mimt. Steif und hölzern macht er neben Yul Brunner eine schlechte Figur. Ganz schnell vergessen. Fast ein ähnliches Motiv, auch mit Yul Brunner, hatte es einmal zu einem Welterfolg gebracht: Die glorreichen Sieben. Da hatte auch ein junger Schauspieler, ein Deutscher, ähnlich schlecht und hölzern mitgespielt. Aber der war im richtigen Film gewesen und hatte von dem Ruhm der oft kopierten Produktion bis in die heutigen Tage hinein profitiert. Dean Sanger ist sicherlich nicht schlechter. Aber er war eben im falschen Film gewesen.

Während Benedict die „60 Minutes“-Kassette einlegt, denkt er doch noch einmal kurz darüber nach, ob Dean Sangers Lebensweg vielleicht anders verlaufen wäre, wenn „Adios Sapata“ ein Welterfolg geworden wäre. Äußerst zweifelhaft, dass man ihm auch vor diesem Hintergrund seine kommunistischen Kapriolen hätte durchgehen lassen. Einem Franzosen vielleicht. Aber einem Amerikaner?

Wenn Dean Sanger wirklich je vorgehabt hatte, in die USA zurückzukehren, ja sogar dort eine zweite Karriere angestrebt hatte, dann war er entweder völlig naiv oder verrückt gewesen! Wer in der meistgesehenen Fernsehsendung Amerikas stalinistischen Terror gutheißt, die Mauer in Berlin als Bollwerk gegen den westlichen Imperialismus preist und die Vereinigten Staaten der Kriegstreiberei beschuldigt, der ist sogar wahrscheinlich beides. Oder kannte er seine Landsleute so wenig? Hatte er durch die jahrelange Abwesenheit das amerikatypische Feeling verloren? Wusste er nicht mehr, wie der Boden aussah, auf dem McCarthy einst sein hemmungsloses Unwesen treiben konnte? Mein Gott, was für ein Narr, der da glaubte, Ronald Reagans Amerika würde ihn jetzt noch mit offenen Armen empfangen. Nach diesen sechzig Minuten mit Mike Wallace am 20. April 1986!

Dean Sanger. Am Ende doch nur ein armer Irrer?

Wenn der in bösartiger Verwirrtheit geschriebene Abschiedsbrief es nicht schon gezeigt hatte, das heimlich in KGB-Auftrag aufgenommene Video ist für Benedict der letzte Beweis. Ein Mensch, seit frühester Kindheit auf krankhafter Jagd nach Anerkennung durch den Vater. Vom Ehrgeiz der Mutter getrieben. Ständige Schlaflosigkeit mit Medikamenten bekämpfend und unter epileptischen Anfällen leidend, kompensiert er vermeintliche Mängel durch extrem sportliche Leistungen. Die Bewunderung und der Applaus werden zur Droge für ihn. Dann, als deren Wirkung nachlässt, findet er den Weg, die Dosis zu erhöhen. Seine beginnende Gesangskarriere führt zu immer mehr Bewunderung bei einer immer größeren Gemeinde. Schließlich geht er dorthin, wo er aus unerfindlichen Gründen die meisten und größten Fans hat, nach Latein-Amerika. Dort lieben sie den Gringo mit dem strahlenden Lächeln. Hier kann er sich seine Droge direkt injizieren. Es ist sicher wahr, dass er hier auch erstmals direkt mit den unmittelbaren Auswirkungen amerikanischer Hinterhofpolitik konfrontiert wird und auf der Basis eines diffusen Gerechtigkeitsfimmels für sie Partei ergreift. Aber sicher ist es auch genauso wahr, dass er dadurch hoffen konnte, seine Bewunderergemeinde noch enger an sich zu binden. Und von der Droge Applaus und Anerkennung war er mittlerweile so abhängig, dass ihm dieser Weg der erfolgreichste schien, um seine Sucht befriedigen zu können. Dann, als er endgültig die Seiten wechselt, wird er zum viel umjubelten Exoten in der Sowjetunion, der DDR. Auf dem Gipfel seines Ruhmes ist er der meist-bekannte Amerikaner im Ostblock. Jeder erkennt ihn, wenn er auf der Straße geht, Schwärme von Mädchen und Frauen himmeln ihn an. Er kann alles haben. Alles? Nein, nicht alles. Die Achtung und

Anerkennung seines Vaters wird er nie erreichen, denn der ist inzwischen tot. Und Amerika, das Land seines Vaters, es straft ihn mit Nichtachtung ...

Leise verraucht der Glanz des Ruhms. Die alten Kampfgefährten ziehen sich desillusioniert auf ihre Datschen zurück. Und die jungen Leute orientieren sich am Sound der Originale, und sie haben ein feines Ohr für falsche Töne. Immer weniger werden die öffentlichen Auftritte, die er so braucht. Wie ein Abhängiger seine Dosis Heroin. Immer schwieriger wird es für ihn, Devisen zu bekommen, die er braucht, um den Unterhalt für seine Tochter in Amerika zu bezahlen. Es wird einsam um den Mann aus Colorado.

Und dann, fünf Wochen vor seinem Tod, liegt er bei Prof. Schallreuter in der Praxis. Vor Augen und Ohren unsichtbarer Geheimagenten schreit er warnend und enttäuscht seine Wut und Verzweiflung aus sich heraus. Fleht winselnd nach der Droge, die ihm niemand mehr geben will, geben kann. Dean Sanger ist am Ende.

*

image

AUF DEM ALEX FINDET irgendeine Kundgebung statt. Massen Leute aus dem Medienbereich demonstrieren gegen ihre Entlassung. Benedict drängelt sich am Rand vorbei. Das geht ihn nichts an.

Für einen Augenblick hat der Hauptkommissar dann die wärmende Empfindung, als freute sich Herbert Meißner von Herzen, ihn unbehelligt wiederzusehen.

„Mensch, was machen Sie bloß für Sachen!“

„Kann ich an Sie zurückgeben. Wie konnte das passieren? Wo ist das Material? Das Geld? Und ...“

„Also der Reihe nach: Engel hat die ganze Zeit mit dem Verschluss seiner Maschinenpistole rumgekaspert, und dann hat sich plötzlich eine Runde selbständig gemacht. dass das gerade im ungünstigsten Augenblick passierte ... einer dieser blöden Zufälle. Machen kann ich sowieso nichts mehr. Hat morgen seinen letzten Tag. Der Mann, der auf Sie geschossen hat, er hat es nicht überlebt. Wir versuchen noch immer, ihn zu identifizieren, aber er hatte nichts bei sich. Ist schwierig. Seine Komplizen haben sich in dem ganzen Durcheinander absetzen können. Der Wagen, mit dem sie angekommen sind, war geklaut. Haben irgendwo einen zweiten Fluchtwagen gehabt. Die waren ganz schön vorsichtig. Trotzdem ist mir die Sache nicht ganz geheuer. Entweder haben unsere sowjetischen Freunde, die sie abfangen sollten, gepennt, oder die haben mit denen unter einer Decke gesteckt. Aber das sagen wir besser nicht laut. Ware und Geld sind jetzt beim KGB. Ob Sie da nochmal ran kommen werden ...“

Komisch. Er kennt sie wohl doch ziemlich gut. Über Major Uschakowa hat Meißner überhaupt nichts zu sagen.

Am Freitag morgen findet sein Arbeitstag in der Normannenstraße ein ungewöhnlich schnelles Ende. Zwischen den Raschke-Akten der Jahre 1987 bis 1989 liegt auch eine Akte ganz anderen Inhaltes. Es sind die Berichte eines IM „Neuberin“ über einen gewissen Benedict, Vitus H., und sie enthalten Details aus Zweisamkeiten und Gesprächen, über die nur Annkatrin Bescheid wissen konnte. Nachdem der erste Schock vorbei ist, fühlt er fast so etwas wie Erleichterung. Ja, er kann es im Grunde als eine Form ausgleichender Gerechtigkeit empfinden. Hatte er nicht einen ebensolchen Verrat begangen? Waren seine Berichte über sie beim MAD nicht von gleicher oder sogar größerer Verwerflichkeit gewesen? Hatte er damals denn eine andere Wahl gehabt? Jetzt sind sie eben pari. Eins zu eins. Satzausgleich. Remis. Oder?

„Alter? Gute Nachricht, du kannst nach Hause kommen! Wir haben Bingo mit einem von deinen Namen aus der letzten Woche! Also mach dich auf die Socken, wir brauchen dich hier!“

„Das freut mich für Sie, ehrlich!“, sagt Meißner, als er sich dann im VP-Präsidium von ihm verabschieden will. Sein Gesicht aber, dass den Ausdruck eines an der Autobahn ausgesetzten Labradors trägt, straft diese Worte lügen. „Es ist nur so, meine Frau hat sich schon so auf Ihre Blumen gefreut...“

„Auf meine Blumen? Was für Blumen?“

„Na, wenn Sie doch die Einladung zum Wochenende angenommen hätten, dann wären Sie doch sicher wieder mit Blumen gekommen. Und da hätte sie sich eben sehr drüber gefreut, weil... von mir bekommt sie ziemlich selten welche ..."

Na ja. Was soll’s! Ob er nun einen Tag später oder früher in Düsseldorf ist. Am Wochenende hätte er sich sowieso nicht am Jürgensplatz sehen lassen. Und traurige Labradorhunde hatten schon immer alles von ihm haben können.