Dann sitzen sie nach dem Abendessen im Schatten der Hauswand, und es ist warm, und vom See fächelt eine leichte Brise herüber, und das Pilsener im Glas schmeckt kühl und frisch. Drinnen im Haus klappern die Frauen mit dem Geschirr. Benedicts Angebot, beim Abwasch zu helfen, hatte Ingeborg Meißner mit dem lachenden Hinweis abgelehnt, dass ihre Tochter sich auch mal im Haushalt betätigen könne.
Das Windlicht auf dem Gartentisch flackert und lockt allerlei fliegendes Getier an, aber sonst ist die Stimmung der beiden Männer satt und friedlich. „Tja, Engel ist ja nun endgültig weg!“
„Ach ja, der hatte ja gestern seinen letzten Tag. Wie war’s denn?“
„Ziemlich formlos. Ich glaube auch nicht, dass er selbst allzu großen Wert auf Verabschiedung mit Zapfenstreich gelegt hat. Erst recht nicht, nachdem er die Sache in Babelsberg vergeigt hat!“
Benedict nimmt das schweigend zur Kenntnis und lauscht auf das Knarren des Bootssteges am Seeufer. Nachdem er einen guten Schluck genommen hat, muss er die Frage aber doch stellen. Sie hat ihm schon lange auf der Zunge gelegen.
„Erinnern Sie sich noch? Das war irgendwann an einem der ersten Tage meines Aufenthaltes hier, da haben Sie mir so eine nebulöse Antwort gegeben, als ich danach fragte, warum Oberleutnant Engel aus der VP ausscheidet... vielleicht können Sie mir die Antwort heute Abend geben?“
Die Frage des Hauptkommissars scheint Herbert Meißner auch vier Wochen später noch unangenehm zu sein, und er zögert sehr lange, bevor er dann endlich den Mund öffnet.
„Schwierig, so einem wie Ihnen das verständlich zu machen. Der Engel wäre in keinem Fall zu halten gewesen. Ist Ihnen ja wohl klar, dass wir eine Dienststelle der Sicherheit auch bei uns im Präsidium hatten, ganz offiziell. Die Kontakte zu denen liefen in der Regel ab Dezernatsleiter aufwärts. Deshalb müssen die auch alle gehen ... Und dann gab es aber noch auf allen Ebenen Leute, die von der Sicherheit eingeschleust waren, um ... über uns Informationen zu liefern. Wer Stunk mit seiner Frau hatte, wer fremdging, heimlich im Intershop einkaufte, verbotene Kontakte zu Ausländern hatte, oder ab und zu das Maul zu weit aufriss. Na ja, und bei der MUK, wurde dann festgestellt, dass Oberleutnant Engel diese Funktion wahrgenommen hatte. Da hat er dann eben freiwillig um seine Dienstentlassung gebeten!“
„Und wissen Sie, was der jetzt machen wird?“
„Der bleibt in der Branche. Macht ’ne private Sicherheitsfirma auf. Soll auch schon reichlich Aufträge haben und ein großes Büro. Manche bei uns wundern sich ja, woher er das Geld dafür hat...“ Nachdenklich kippt Benedict auf seinem Stuhl vor und zurück.
„Können Sie sich denn vorstellen, dass sich die Schüsse aus seiner MPi nicht aus Versehen gelöst haben und dass er immer noch in Kontakt zu diesen ... Leuten steht?“
„Vorstellbar, lieber Kollege, ist in dieser Zeit so ziemlich alles. Und wenn es nicht diese Leute sind, dann könnten es jetzt ja auch andere Leute sein, oder?“
Am Samstagnachmittag, die Meißners sind zu einem Besuch bei Verwandten in der Nähe, macht Benedict noch einen kleinen Spaziergang durch den idyllischen Ort und landet schließlich doch noch einmal auf diesem Friedhof, auf dem Dean Sanger begraben ist. Wieder empfängt ihn die sandig-friedliche Ruhe, und alles ist genau wie beim ersten Mal. Dann, als er vor diesem Stein steht, hat sich doch alles verändert. Der Stein und die Kiefernbäume sind zwar noch da, aber jemand hat die Inschrift auf dem Stein mit einem Keil heraus gehauen. Dean Sanger ist verschwunden, scheint nie existiert zu haben. Vitus H. Benedict glaubt sich in einem dieser „Zurück in die Zukunft“- Filme, wo auf einem Grabstein die Inschrift dadurch verlischt, dass jemand in der Vergangenheit rumpfuschend, die Gegenwart verändert hat. Dean Sangers Leben war erloschen, jetzt versucht man offensichtlich zu bestreiten, dass er jemals existiert hatte. Kein Grab, kein Leben davor. Irgendwie hat Benedict das Gefühl, würde er jetzt die Leute hier nach ihm befragen, könnte sich niemand an die Existenz des Mannes Dean Sanger erinnern. Sicher gäbe es auch keine polytechnische Oberschule in Potsdam, die seinen Namen trägt, und auch die Brigade des VEB Backwaren-Kombinats hätte sich nie mit seinem Namen geschmückt.
Als er schließlich dem geschändeten Stein den Rücken zuwendet und den Friedhof verlässt, hat er einen säuerlichen Geschmack im Mund. Man mochte Dean Sanger beurteilen wie man wollte, aber es war eine spannende Biographie. Nur denkbar vor dem Hintergrund einer solchen Zeit. Und die sollte so einfach verschwinden, als sei sie nie dagewesen?
Kaum ein Lufthauch mildert an diesem letzten Abend die schwüle Hitze. Leise vor sich hin schwitzend brüten die beiden so verschiedenen Männer über ihrem Bier. Sogar das Windlicht scheint nicht genügend Sauerstoff zu finden und sackt verlöschend in sich zusammen. Kein Stern erhellt heute die dunkle Schweigsamkeit der zwei. Irgendwann ist aber der Zeitpunkt gekommen, da Benedict die Frage nicht mehr weiter aufschieben kann. Sie lastet seit Tagen ahnungsvoll bedrückend auf seiner Brust und muss endlich heraus.
„Sie haben mir gar nichts mehr von Vera gesagt ...“, presst er heraus und umklammert dabei mit seinen feuchten Fingern das Feuerzeug in der Hosentasche.
„Nein....“, sagt Meißner. Und dann lange Zeit nichts mehr, das Gesicht im Dunkel der Nacht verbergend. „Wissen Sie, ich kenne die Genossin Vera schon ziemlich lange. Sie war immer ein guter... Kamerad für mich. Seitdem wir uns in Moskau auf einem Lehrgang begegnet sind. Na ja, sie war damals schon beim KGB ... na und jetzt... nitschewo! Immerhin verdanken Sie ihr das Leben. Hat Sie reaktionsschnell aus der Schusslinie gestoßen, als dieser Pistolenmann auf Sie feuerte. Ein Streifschuss, kleiner Betriebsunfall in unserem Geschäft, oder?“
„Aber“, versucht Benedict auf eine Antwort zu drängen, „wo ist sie? Was ist mit ihr passiert?“
Aus der warmen Finsternis weht ein Hauch kalter Traurigkeit zu ihm herüber. „Ich weiß nicht, nach der Aktion in Babelsberg war sie ganz plötzlich verschwunden. Unsere Freunde in Karlshorst haben nur mit den Achseln gezuckt und freundlich gelächelt. Na dorn! Wo immer das auch sein mag. Leningrad, Wladiwostok, Odessa ... na sdarowje, towarischtsch, na sdarowje!“
An den weiteren Verlauf der Nacht kann sich Benedict nur noch verschwommen erinnern, als er am frühen Sonntagmorgen mit hämmerndem Schädel und tobenden Eingeweiden erwacht. Sie hatten beide ihre Trauer mit Wodka und Nordhäuser Doppelkorn zu gesoffen. Meißner war nach dem soundsovielten „Herrengedeck“ in tiefer Depression verjammert. Ob denn nun alles für die Katz war, hatte er schwerzüngig immer wieder gefragt. „Vier Jahre im Wachregiment Feliks Dzierzynski, die Straßentour in der Inspektion Mitte, die Fachschule in Aschersleben, das Fernstudium mit Abschluss Dipl. Kriminalist... alles umsonst?“
Benedict versucht durch den bohrenden Schwindel hindurch zu ergründen, ob er dem Meißner etwa redselig von der Geschichte mit Annkatrin erzählt hat. Und selbst wenn? War das noch wichtig?
Irgendwann im Vollrausch hatten sie dann Lieder gegrölt, deren Texte auch er von früher noch kannte. Als sie wahrscheinlich zum zehnten Mal „Darum vorwärts, vorwärts Bolschewik!“ anstimmten, war es Ingeborg Meißner endgültig zu bunt geworden, und sie hatte die beiden Volltrunkenen mit Hilfe der Tochter in die Betten verfrachtet. Aber selbst in diesem Zustand hatte Benedict sich voll Misstrauen gewundert, dass Meißner das Verschwinden von Vera Uschakowa so nahe ging ...
*
„NA DENN ...“, MURMELT Meißner, als er den Wagen zur Abfahrt startet, „wir haben übrigens heute Nacht Brüderschaft getrunken, aber wenn es dir unangenehm ist, können wir auch wieder ...“
„Au ja ... Herbert... klar also dann ... vielleicht sieht man sich ja mal irgendwo, irgendwann ...“
„Ja, vielleicht“, sagt Herbert Meißner, reicht ihm die Hand durch das geöffnete Wagenfenster, und dann verschwindet er in der Staubwolke, die der anfahrende Jaguar hinter sich aufwirbelt.
Auf dem Weg zur Avus muss er noch einmal durch Ost-Berlin und passiert endlos lange Menschenschlangen, die nach etwas anzustehen scheinen. Am Sonntag? Was soll das denn? Stimmt ja, heute ist doch der Tag! 1. Juli. Geldumtausch! l.Juli. Was hatte Meißner heute Nacht gesagt? Beförderungen und Auszeichnungen immer am Tag der Volkspolizei, dem 1. Juli. Als Benedict über die wohl bald der Vergangenheit zuzurechnende Staatsgrenze der DDR in den Westen fährt, ist er sich sicher, dass der 1. Juli nicht als Tag der Volkspolizei im Gedächtnis der Menschen haftenbleiben wird.
Der rheinische Alltag hat ihn wieder. Berlin ist weit, und auch Düsseldorf hat interessante Leichen.
Hauptkommissar Benedict liebt diese ruhigen Nachmittage im Präsidium. Freitags, wenn bis auf die Beamten von der Wache fast jeder schon ins Wochenende ist und er die Stille seines Dienstzimmers im dritten Stock genießen kann.
Formal hatte er nach seiner Rückkehr aus Berlin die Ermittlungsführung in der Mordsache Raschke, alias Fuchs, als Leiter K 1 natürlich wieder an sich genommen. dass er die eigentlichen Ermittlungen dann allerdings in den Händen des Teams Ganser, Läppert, Leiden-Oster beließ, war nicht seiner Faulheit zuzuschreiben. Irgendwie hatte er sich voreingenommen, ja belastet gefühlt. Zuviel hatte er über das Unwesen Raschkes in den fensterlosen Mauern der Zentral-Kartei des MfS gelesen, und zu nahe war er den Menschen dort gewesen. Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen sind beendet, aber Staatsanwalt Sprotte würde große Mühe haben, daraus eine Anklageschrift zu konstruieren, die auch zwangsläufig zur Verurteilung führen wird. Vom Motiv her, soviel war den Ermittlern ja klar gewesen, kam einzig und allein Richard Blume in Betracht. Nach Aktenlage war nur er in der DDR mit Raschke in Berührung gekommen. Erst als Kollege in der gleichen Brigade, später als enger Freund der Familie, die mit zwei anderen Familien die Flucht in den Westen geplant hatten. Er hatte wichtige Ups gegeben, die sichersten Möglichkeiten ausgekundschaftet und am Ende die fünfzehnköpfige Gruppe in die Falle des MfS gelockt. Anklage und Verurteilung wegen Republikflucht, in Bautzen zum Invaliden geworden und von den früheren Freunden gemieden. Die Frau erhängte sich am Gefängnisfenster, nachdem sie den Bescheid erhalten hatte, dass ihre Kinder in staatliche Obhut gekommen waren und jeder weitere Kontakt zu ihnen ihr bei Strafe verboten war. Und eben diesen Mann, der sein Leben zerstört hat, den trifft Blume als Joachim Fuchs auf der ENGLISH LADY wieder. Benedict ist sich fast sicher, dass der OibE Fuchs sein einstiges Opfer nicht einmal erkannt haben dürfte. Zu viele solcher operativer Vorgänge lagen auf dem Weg dieser Karriere. Aber Richard Blume hatte ihn erkannt und das auch den Ermittlungsbeamten bestätigt. Hatte sogar eingestanden, dem Raschke einen Faustschlag versetzt zu haben. In dieser lauen Nacht auf dem Rhein. An der Reeling der ENGLISH LADY.
Bis auf die Kinder wussten alle an Bord des Schiffes von Raschkes Vorleben, denn Blume hatte sie darüber in Kenntnis gesetzt. So jedenfalls die einvernehmlichen Aussagen der als Zeugen Vernommenen. Und so hatten sie an diesem Abend beschlossen, dem „Stasi-Schwein“ eine Lehre zu verpassen. Eine, die er nie vergessen würde. Was dann wirklich auf dem Schiff abgelaufen war, wussten wohl einzig und allein die Beteiligten. Und die schwiegen sich standhaft darüber aus. Natürlich, sie waren alle geständig gewesen. Aber nur insoweit, dass jeder von ihnen dem Raschke einen Faustschlag, einen Tritt oder einen Schubs versetzt hatte. Dort an der Reeling der ENGLISH LADY. An diesem warmen Aprilabend.
Welcher davon nun tödlich gewesen war und wer ihn letztendlich über die Reeling gestoßen hatte, das war für die Beamten des K 1 nicht zweifelsfrei festzustellen. An diesen Geständnissen würden die Richter bei allen Zweifeln nicht vorbei können, und so wäre mit einer Verurteilung des Blume als Einzeltäter kaum zu rechnen. Sicher, er hatte als Einziger ein echtes Motiv gehabt, aber jeder einigermaßen clevere Rechtsanwalt würde mit der Einlassung kommen, dass das Wissen um Raschkes „Verbrechen“ in der DDR bei den anderen Übersiedlern ein solches Motiv glaubhaft erscheinen ließe. Nein, Sprotte würde froh sein müssen, wenn es zu einer Verurteilung wegen gemeinschaftlichen Totschlages im Affekt reichen würde.
Für das 1. Kommissariat war der Fall damit abgeschlossen. Und für Benedict sein Berlin-Abenteuer auch. Nur ein paar „Souvenirs“ erinnern ihn noch an die vier Wochen mit Meißner & Genossen. Eine kaum sichtbare Narbe am Oberarm und ein Feuerzeug mit verlöschender Flamme. Manchmal Alpträume, in denen der Mann mit dem Schlapphut die Pistole auf ihn richtet. In diesen Träumen weiß er immer, wo er ihm schon mal begegnet ist. Wenn er dann erwacht, ist alles wieder weg.
Dann ist da noch die Frage, die ihn nicht loslässt und nicht nur in seinen nächtlichen Träumen auftaucht: hätte er nicht doch noch vor seiner Abreise aus Berlin mit Annkatrin sprechen sollen? Ihrer beider Situation damals offen voreinander aussprechen? Waren sie beide aneinander irgendwie schuldig geworden? Das Gefühl, dieses Gespräch nachholen zu müssen, bedrängt ihn täglich mehr.
Diana Meißner hatte ihm das Dean Sanger-Buch großmütig überlassen, und manchmal blättert er darin rum. Dann fragt er sich, was wohl Dixie Lupinsky gerade macht, und ob der Vizekonsul Mike jetzt endlich zufrieden ist. Und wenn seine Kollegen ihm allzu viel von der nächsten Karnevalssaison schwätzen, ja, dann sehnt er sich sogar ein bisschen nach einem Radeberger mit dem knochentrockenen MUK-Kommissar aus der Hans-Beimler-Straße. Aber daraus würde wohl nichts mehr werden. Auch den ehemaligen VP-Major hatte es noch erwischt. Wahrscheinlich hatte Feliks Dzierzyinski dem Diplom-Kriminalisten das Genick gebrochen.
Der „Leitende“ wird im nächsten Jahr in den Ruhestand gehen. Aber nicht so richtig, denn er soll als Dozent den Aufbau der neuen Polizei in Ost-Deutschland unterstützen. Er würde ihm hier fehlen. Nach seinem Weggang, so gehen die Gerüchte, soll die ganze Polizeistruktur in Düsseldorf umgekrempelt, den neuen Verhältnissen angepasst werden. Im Innenministerium soll schon eine eigene Arbeitsgruppe eingerichtet worden sein. Gerade die jungen Kollegen versprechen sich von dieser Neu-Organisation viel. Aber Benedict ist schon zu lange bei diesem Laden, als dass er diese Hoffnung teilen kann.
Am Ende würde doch alles so bleiben, wie es immer war.
ENDE