Unterdessen kamen die Frauen von unten zu mir herauf. Der davoneilenden Schönen warfen sie einen kurzen, kritischen Blick hinterher.
Dann waren sie bei mir angelangt.
Ich kannte sie flüchtig und wusste, dass sie in der Wohnung unter mir wohnten. Sie hießen beide Meyer und waren Mutter und Tochter. Meyer mit Ypsilon, so stand es an ihrer Wohnungstür, an der ich zwangsläufig vorbeikam, wenn ich hinunter zur Straße wollte.
Die Mutter war klein, gedrungen und ziemlich dick. Deshalb schnaufte sie jetzt auch gut hörbar. Sie pfiff wie eine Dampflok. Aber das war kein Wunder.
Ich hätte auch so gepfiffen, hätte ich ihr Gewicht die vielen Stufen hinaufschleppen müssen.
Die Tochter war schon fast dreißig und hatte immer noch Akne. Ihr selbst gemachter Kurzhaarschnitt stand ihr nicht besonders. Zudem waren ihre Haare eigentlich immer fettig und ungewaschen, wenn sie mir begegnete.
Ich weiß nicht, ob meine Begegnungen mit ihr repräsentativ für ihr äußeres Erscheinungsbild waren, aber ich denke schon.
Die beiden machten unzufriedene Gesichter. Bei der Tochter war das eigentlich immer so. Es war gewissermaßen ihr Markenzeichen.
Aber die Mutter war sonst immer ganz fröhlich, besonders wenn sie in der Pizzeria gewesen war und man ihr dann auf der Treppe mit einem Turm von Schachteln vor der Brust begegnete. Irgendwoher mussten die Pfunde ja auch schließlich kommen, die sie sich angefressen hatte.
"Es wird wieder der Kerl mit dem defekten Föhn sein!", meinte die Tochter, während sie auf ihrem Kaugummi kaute.
Fehlte nur noch, dass sie eine Blase machte, aber dazu war sie dann doch vielleicht schon etwas zu erwachsen.
Selbst sie.
Trotzdem, wenn ich sie sah, fragte ich mich immer, ob es so etwas wie lebenslange Pubertät geben konnte.
"Jedenfalls haben wir nichts gemacht, was den Kurzen verursacht haben könnte", fügte die Mutter hinzu. Sie setzte trotz ihres Ärgers jetzt ein überaus freundliches Gesicht auf und meinte dann: "Machen Sie das?"
"Was?"
"Dem Kerl Bescheid stoßen! Sie sind schließlich ein Mann!"
"Was hat das damit zu tun?"
"Naja, der da oben ist doch immer so unfreundlich. Und wenn man ihn mal trifft, dann grüßt er einen noch nicht einmal!"
Ich vollführte eine hilflose Geste. Das war nun wirklich nicht das Schlimmste an ihm! Und wenn man es genau nahm, dann grüßte sich in diesem Haus ohnehin fast niemand. In dem Punkt unterschied er sich kaum von den anderen Bewohnern.
"Wir hatten schon ein paar Begegnungen der unerfreulichen Art", meinte ich. "Ich fürchte, er reagiert auf mich allergisch ..."
"Nicht allergischer als auf den ganzen Rest der Menschheit", murmelte die pickelige Tochter und drückte dabei völlig ungeniert an einer ihrer unappetitlichen Eiterbeulen herum.
Wir gingen also die Treppe zu seiner Wohnung hinauf.
Ich wusste, dass es darauf hinauslaufen würde, dass ich dem guten Mann klarmachen musste, sich endlich einen neuen Föhn zu kaufen. Die beiden Frauen trauten sich nicht, den Kotzbrocken anzusprechen.
Bei der Mutter war mir das plausibel. Ihre ganze Art war eher zurückhaltend.
Aber bei der Tochter verstand ich das nicht. Ich wusste nämlich zufällig, dass sie ziemlich laut schreien konnte, um ihre Interessen durchzusetzen. Doch das galt anscheinend nur im Umgang mit ihrer Mutter, die wirklich keinen einfachen Stand ihr gegenüber hatte. Ansonsten spielte sie den verschüchterten Hasen.
Am liebsten hätte ich ihr in diesem Augenblick vorgeschlagen: ›Schrei den Kerl von oben doch nur einmal so an, wie du das bei deiner Mutter schaffst − wahrscheinlich hätten wir dann für ein Jahr Ruhe!‹
Aber ich verkniff es mir.
Dann waren wir oben, vor seiner Tür.
Ich warf erst einmal einen Blick auf das Namensschild an der Klingel. Er hieß Jürgen Lammers. Irgendwo in einem hinteren Winkel meines Gedächtnisses schien sich etwas zu regen. Ich kannte diesen Namen irgendwoher, aber er wäre mir jetzt nicht mehr eingefallen.
"Na, los!", sagte die Mutter und drückte auch schon auf die Klingel.
"Klopfen Sie lieber", riet ich ihr. Die gute Frau hatte wohl vergessen, dass wir gegenwärtig keinen Strom hatten und Jürgen Lammers schon aus diesem Grund nichts von der Klingelei hören konnte.
"Häh?", meinte sie, und so klopfte ich selber, anstatt darauf zu warten, dass sie es begriff.
Ich erwartete, dass er jetzt jeden Moment aufmachte, wahrscheinlich in seinem speckigen Jogging-Anzug, der den Bierbauch besonders gut zur Geltung brachte. Ich erwartete, in seine böse blitzenden Augen zu blicken, die in dem grobschlächtigen Gesicht mit der dicken Nase, den dunklen Augenbrauen und den knorrigen Wangen einen überaus passenden Platz hatten.
Aber nichts dergleichen geschah.
Jürgen Lammers machte nicht auf, und ich klopfte noch einmal, diesmal schon deutlich ungeduldiger.
Und dabei gab die Tür plötzlich nach. Offenbar war sie nur angelehnt gewesen.
"Wenn die Tür offen ist, wird er ja wohl zu Hause sein", meinte die Tochter.
Ich nickte, öffnete dabei die Tür vollends und trat zögernd ein.
Die beiden Frauen folgten mir, und dann staunten wir alle drei erst einmal über das außergewöhnliche Chaos, das sich uns bot.
Mein erster spontaner Gedanke war, hier hat jemand das Unterste zuoberst gekehrt! Aber dann schalt ich mich einen Narren. Dies ist kein Roman!, sagte ich mir. Dies ist die Wirklichkeit.
Und in Wirklichkeit war die Ursache für eine chaotische Wohnung meistens die, dass der Inhaber nicht aufgeräumt hatte. Ich kannte das aus eigener, leidvoller Erfahrung.
Hinter mir hörte ich die Mutter aufatmen, während wir alle den Blick zu Boden gerichtet hatten, verzweifelt auf der Suche nach freien Stellen, auf die man die Füße setzen konnte. Die Kleidung, die man an sich an der Garderobe vermutet hätte, bedeckte den Fußboden des kleinen Flures. Die Schubladen der Kommode waren herausgerissen und ausgeleert.
Als wir schließlich ins Wohnzimmer kamen, sah es dort ebenso schlimm aus.
"Das ist nicht normal!", meinte die Mutter. "Hier ist etwas passiert. Vielleicht ein Einbruch ..."
Die pickelige Tochter verzog das Gesicht zu einer Grimasse. "Einbruch? Mama!", meinte sie dann spöttisch. Sie zuckte mit den Schultern und machte eine ziemlich herablassende Geste. "Die Tür war unversehrt! Wie soll der Dieb gekommen sein? Durch das Fenster vielleicht? Warum nicht. Mit einer Bergsteigerausrüstung an der Fassade hoch bis in den fünften Stock! Dann durch das Fenster und alles durchwühlen und schließlich auf demselben Weg wieder hinaus − natürlich nicht, ohne das Fenster zuvor von innen wieder sorgfältig zu schließen! Und selbstverständlich hat der Einbrecher dann noch absichtlich einen Kurzschluss verursacht, um uns alle zu ärgern!"
Sie kam sich sehr scharfsinnig vor, aber ihrer Mutter war das Ganze eher peinlich. Das war nicht zu übersehen.
Ich achtete nicht weiter auf das Gerede der beiden, sondern sah mich stattdessen lieber ein bisschen um.
Zwei Minuten später hörte ich plötzlich einen markerschütternden Schrei − einen Schrei, der selbst für die darin ansonsten recht geübte pickelige Tochter erstaunlich war.
Sie war ins Bad gegangen und hatte dort offenbar etwas entdeckt − oder war vielleicht auch einfach nur ausgerutscht. Ich traute ihr das Letztere zu. Besonders geschickt war sie nämlich nicht.
Jedenfalls beeilte ich mich, nach ihr zu sehen.
Die Mutter schnaufte hinter mir her.
Die Tatsache, dass kein zweiter Schrei folgte, legte ich für mich so aus, dass sie sich nichts Ernstes angetan hatte.
Einen Augenblick später sah ich sie mit offenem Mund und starr vor Schreck auf die Badewanne blicken.
In der bis über den Rand gefüllten Wanne lag ein Mann, den wir alle immerhin gut genug kannten, um ihn identifizieren zu können. Es war Jürgen Lammers, und bezeichnenderweise trug er auch jetzt seinen geschmacklosen Jogging-Anzug, der den runden Bierbauch stramm umspannte.
Seine Augen waren so giftig, wie sie es immer schon gewesen waren, aber diesmal hatten sie wahrlich Grund dazu, so zu schauen.
Lammers war nämlich mausetot.
Und dann sah ich auch die Ursache für den Kurzschluss.
Es war tatsächlich der Föhn, wie wir alle vermutet hatten. Jürgen Lammers musste ziemlich schlecht beraten gewesen sein, als er den defekten Apparat mit in die Wanne genommen hatte ...
"Mein Gott!", stieß die dicke Mutter hervor und schlug dann die Hände vor ihren offenen Mund. Sie schüttelte anschließend stumm den Kopf.
"Wir werden die Polizei rufen müssen", murmelte ich.
In meinen Romanen gibt es alle paar Seiten eine Leiche, aber dies war die Wirklichkeit. Und die ist dann doch ein bisschen anders.
"Mein Gott, wie furchtbar!", seufzte die dicke Mutter noch einmal aus tiefster Seele.
"Rühren Sie nichts an!", meinte ich.
"Wieso?"
"Damit keine Spuren verloren gehen!"
"Es ist doch Selbstmord, oder?"
"Das weiß ich nicht. Aber ich denke, die Polizei wird das herausbekommen − vorausgesetzt, wir lassen ihr die Chance dazu und bringen nicht alles durcheinander."
Irgendwie klang das seltsam angesichts der zerwühlten Wohnung. Was sollte da noch durcheinander zu bringen sein? Eine Fehlleistung von mir, ganz klar. Und eine Sekunde, nachdem dieser Schwachsinn über meine Lippen gegangen war, wurde es mir auch bewusst.
Aber wer wägt in einer solchen Situation schon so genau seine Worte ab? Nicht einmal ein Autor. Und ein Autor von Western-Romanen tut es sowieso nie.
Ich verließ also das Bad und suchte im Wohnzimmer nach dem Telefon, das sich zunächst einfach nicht auftreiben lassen wollte.
Die beiden Frauen harrten indessen in andächtiger Stille bei Lammers Leiche aus.
Schließlich fand ich das Telefon unter dem Sofa, aber die Schnur war herausgerissen.
Ich fluchte innerlich. Hier hatte jemand wirklich ganze Arbeit geleistet!
Mein Blick glitt über das Durcheinander, das auf mich jetzt wie ein völlig überladenes Stillleben wirkte.
Nein, je länger ich die Sache betrachtete, desto unwahrscheinlicher schien es mir, dass Lammers für dieses Chaos selbst verantwortlich war.
Hier hatte entweder einer gezielt etwas gesucht − und war dann vom Besitzer dieser Räuberhöhle überrascht worden. Oder jemand hatte einen Einbruch vorzutäuschen versucht, um die Polizei bei der Suche nach dem Mörder auf die falsche Spur zu locken.
Und um Mord handelte es sich meiner Ansicht nach.
Lammers war zwar ein ziemlich begriffsstutziger Kerl gewesen, aber dass er freiwillig in voller Bekleidung in eine Badewanne stieg und dann auch noch so bescheuert war, den Föhn mit ins Wasser zu nehmen − das mochte ich einfach nicht so recht glauben. Es erschien mir zu unwahrscheinlich.
Kein Redakteur hätte mir so etwas durchgehen lassen, wenn ich auf die Idee gekommen wäre, es in einem der Kurz-Krimis zu bringen, die ich hin und wieder für Illustrierte fabriziere. Es war einfach zu absurd.
Blieb also nur Mord.
In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, während ich die Lammers-Wohnung verließ, die Treppe hinunter eilte, um dann zu meinem eigenen Telefon zu gelangen.
Ich nahm den Hörer ab und hatte ein paar Augenblicke später einen tranig klingenden Beamten an der Strippe, der alles andere als einen besonders aufgeweckten Eindruck machte.
Aber schließlich konnte ich ihm doch klarmachen, was los war. Die Trantüte auf der anderen Seite der Leitung brauchte dann eine halbe Ewigkeit, um meine Personalien aufzunehmen. Ich war froh, als der Hörer wieder in der Gabel hing.
Ich atmete tief durch.
Und dann fiel mir wieder die junge Frau im Treppenhaus ein, die an mir vorbei gerannt war, als ob der Teufel hinter ihr her gewesen sei.
Vielleicht war ja auch genau das der Fall gewesen, wer konnte das schon sagen? Vielleicht hatte sie Angst vor Lammers bösem Geist gehabt (wofür ich Verständnis gehabt hätte); vielleicht konnte sie auch einfach keine Leichen sehen (vorausgesetzt, sie war auch in der Wohnung gewesen).
Vielleicht war sie auch seine Mörderin ...
Nachdenklich ging ich wieder hinauf. Ich sah mir die Tür genauer an, die zu Lammers Wohnung führte.
Kein Kratzer. Nicht die geringsten Spuren irgendeiner Manipulation − von Gewalteinwirkung gar nicht zu reden.
In diesem Augenblick hätte es mich brennend interessiert, ob Lammers noch am Leben gewesen war, als ihm die Schöne mit den grüngrauen Augen einen Besuch abgestattet hatte. Lammers schien mir nicht der Typ Mann zu sein, auf den die Frauen nur so fliegen. Aber der äußere Schein mochte ja durchaus trügen.
Vielleicht hatte er unter seiner ätzenden Fassade noch irgendwelche besonderen Qualitäten verborgen, die diese Frau dazu gebracht hatten, sich mit ihm abzugeben.
Aber, halt!, sagte ich mir eindringlich, du gehst jetzt schon entschieden ein Stück zu weit! Ist wohl eine Berufskrankheit.
Eins, zwei, drei, und es ist gleich eine Story aus ein paar dürftigen Versatzstücken gezimmert. So arbeitet mein Gehirn eben.
Und das hat auch sein Gutes! Es muss so sein, sonst würde ich längst am Hungertuch nagen und selbst die Miete für diese schäbige Wohnung nicht mehr aufbringen können!
Andererseits − falls sich bestätigte, dass dies ein Mordfall war, war die Schöne natürlich eine Verdächtige ersten Ranges!
Als ich ins Wohnzimmer kam, traf ich dort auf die beiden Frauen, die inzwischen offenbar genug davon hatten, den toten Lammers anzustarren. So schön war er ja auch wirklich nicht anzusehen. Weder im Leben, noch im Tode.
"Kommt die Polizei?", fragte die Mutter.
Ich nickte. "Ja. Sie schicken jemanden."
"So etwas hat es hier noch nie gegeben", meinte die Mutter. "Vor zwei Jahren wurde in der Disco im Erdgeschoss mal eingebrochen. Und die Bombendrohung vor zwei Monaten, die haben Sie ja auch mitgekriegt. Ich weiß noch, wie wir alle mitten in der Nacht auf die Straße mussten. Ich habe auch den Rest der Nacht kaum ein Auge zumachen können, obwohl ich doch am nächsten Morgen wieder früh raus musste ..."
Ich hatte von dieser Sache gehört, war aber keineswegs dabei gewesen. Vor zwei Monaten hatte ich mich unter spanischer Sonne im Urlaub befunden. Aber das sagte ich ihr nicht.
Es spielte keine Rolle, und ich hatte auch wenig Lust dazu, diese Sache länger als unbedingt notwendig zu diskutieren.
Ich murmelte irgendetwas Zustimmendes. Aus Höflichkeit.
"Wir könnten wenigstens den Föhn aus der Steckdose ziehen, damit wir endlich wieder Strom bekommen!", nörgelte indessen die Tochter.
"Davon würde ich abraten. Wir sollten wirklich alles so lassen, wie es ist!", meinte ich dazu.
"Woher wissen Sie soviel über diese Dinge?", meldete sich die Mutter wieder zu Wort.
Ich verzog das Gesicht. "Ich sehe mir immer den 'Tatort' im Fernsehen an!"
"Im Ernst?"
"Ja."
Manche Menschen beruhigen sich dadurch, dass sie unablässig Worte produzieren. Bei anderen wirkt genau das Gegenteil. Die dicke Mutter gehörte leider zur ersten Gruppe.
"Das Ganze erinnert mich an diesen Politiker. Wie war doch noch mal der Name ...? Der, der sich auch in einer Badewanne umgebracht hat! Ich denke, das hier war auch Selbstmord."
Ich ließ den Blick umherschweifen. "Einen Abschiedsbrief habe ich nicht gesehen", erwiderte ich sachlich.
"Muss es denn einen geben?" Die Mutter machte eine unbestimmte Geste und holte dann tief Luft. Das gab immer ein besonderes, unnachahmliches Geräusch. Eines, an dem man sie mit hundertprozentiger Sicherheit akustisch identifizieren konnte.
Ich zuckte mit den Schultern. "Ich will nicht ausschließen, dass es auch Leute gibt, die sich ohne Abschiedsbrief umbringen!"
"Ja, so wie der Politiker! Der lag auch angezogen in einer Wanne. Allerdings hatte er vorher Tabletten geschluckt. Ein Föhn spielte dabei keine Rolle."
"Und warum sollte Lammers das gemacht haben?"
"Vielleicht war er einfach verzweifelt!", meinte die Tochter, und ich dachte, wenn ich so ein Gesicht hätte, wäre ich auch verzweifelt. Und wenn sie mit mir in einer Wohnung gewohnt hätte, noch viel mehr. Und wenn sich alle Verzweifelten dieser Welt wirklich umbringen würden, dann wären diese beiden Frauen kaum noch am Leben.
"Warum sollte er verzweifelt gewesen sein?", murmelte ich schulterzuckend.
"Vielleicht war er unheilbar krank!", meinte die Tochter. "Manche Leute drehen dann durch. Ich habe neulich noch einen Fernsehfilm darüber gesehen."
"Sie haben doch auch diese Frau gesehen ..." ließ ich dann einen Versuchsballon aufsteigen.
Die beiden sahen mich an. "Welche Frau?", fragte die Tochter vorlaut.
Oh, Mann!, dachte ich. Blind ist sie auch noch! Welch ein Schicksal! "Ich meine die Frau, die von oben gekommen ist und so fluchtartig davonrannte."
"Ja, richtig ..." sagte die Mutter gedehnt. "Und Sie meinen, dass sie hier bei Lammers war?"
"Woher sollte sie sonst gekommen sein? Hier oben ist doch nur diese eine Wohnung. Und die Tür stand offen."
"Ja, das stimmt."
"Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?"
"Nein!", sagte die Mutter.
"Nein!", grunzte die Tochter.
Sie schüttelten beide den Kopf, die pickelige Tochter etwas heftiger als ihre Mutter − vielleicht deswegen, weil die Mutter ihre Wasserwelle nicht durcheinanderbringen wollte. Die Tochter konnte ihren Kurzhaarschnitt so doll schütteln, wie sie wollte. Er sah immer gleich schlecht aus.
"Und Sie?", fragte die Mutter an mich gewandt.
"Was ist mit mir?"
"Kennen Sie vielleicht diese Frau?"
"Nein. Und es wundert mich ehrlich gesagt, dass es diesem Ekel gelungen ist, so eine Lady für sich zu interessieren!" Ich seufzte. "Mannomann, da komme ich einfach nicht drüber hinweg!"
"Er ist tot!", meinte die Tochter tadelnd.
Das durfte ja nicht wahr sein! Jetzt machte sie auch noch einen auf Pietät! Das passte nun wirklich nicht zu ihr! Absolut nicht!
MEGAunpassend sozusagen.
Aber was passte denn überhaupt schon zu ihr? Mir fiel da spontan nichts ein.
Vielleicht irrte ich da aber auch, und es war genau umgekehrt: Sie selbst war es, die ihrerseits zu nichts und niemandem passte!
Eine andere Möglichkeit war, dass ich sie einfach nicht leiden konnte. Schlechte Schwingungen, neudeutsch: bad vibrations. Ein übelriechendes Karma. Man kann das nennen, wie man will, es läuft immer auf dasselbe hinaus.
"Er ist tot", bestätigte ich mit einem dünnen Lächeln. "Aber das ändert doch nichts daran, dass er ein Kotzbrocken war!"
"Trotzdem", meinte die Tochter.
"... und bei einem solchen Ekelpaket gibt es vermutlich jede Menge Leute, die ihn lieber heute als morgen aus dem Weg haben würden", fuhr ich fort.
Die Tochter kratzte sich wieder an einem ihrer zahllosen Pickel. Und jetzt war mir auch klar, warum es immer mehr wurden und die Vorhandenen nicht abheilen konnten, sondern sich nicht selten zu üblen Geschwüren auswuchsen.
Sie kratzte und drückte halt gerne dran. Was ließ sich auch sonst schon mit Pickeln anfangen? Und sie − als geborene Kratzbürste ...
"Es ist doch schon erstaunlich", meinte die Mutter.
Ich hob die Augenbrauen. "Was ist erstaunlich?", fragte ich.
"Dass wir hier zusammenleben, ohne etwas voneinander zu wissen!" Sie hob die Hände zu einer hilflosen Geste. "Das ist doch furchtbar, finden Sie nicht?"
Ich nickte leicht, obwohl ich ihre Meinung nicht unbedingt teilte. Ich empfand die Anonymität, die hier herrschte, nicht als unangenehm.
Vielleicht hatte ich sie sogar gesucht.
Niemand, der sich dauernd in irgendwelche Privatangelegenheiten einmischte. Niemand, der sich dafür interessierte, was man tat oder ließ, ob man Besuch über Nacht hatte und welcher politischen Partei man zuzurechnen war, oder ob man gar nicht wählte.
Aber wenn man dann starb, so wie Jürgen Lammers, wusste natürlich auch niemand, weshalb das geschehen war. Ich glaubte nicht an Selbstmord, von Anfang an nicht, aber angenommen, es wäre Selbstmord gewesen ...
Angenommen, Jürgen Lammers litt tatsächlich an einer unheilbaren Krankheit, oder seine Freundin hatte ihn verlassen (wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass er eine hatte), oder ihm war gekündigt worden, und er hatte sich anschließend nach allen Regeln der Kunst umgebracht ...
Wäre da nicht dieser verfluchte Föhn gewesen, der uns alle zu seinen Geiseln machte, selbst jetzt noch, da er tot war − er hätte wochenlang in seiner Räuberhöhle vor sich hinfaulen können, ohne dass irgendjemand das zur Kenntnis genommen hätte. Die Miete wäre automatisch von seinem Konto abgebucht worden ... Vielleicht hätte sich sein Arbeitgeber eines Tages um sein Verbleiben gekümmert.
Vorausgesetzt, es gab überhaupt einen Arbeitgeber.
Auch das wusste ich nicht. Ich hatte keine Ahnung, woher er sein Geld bekam. Ich wusste noch nicht einmal, ob er regelmäßig aus dem Haus ging, um irgendeiner Tätigkeit nachzugehen − und mochte sie auch nur darin bestehen, im Stehcafe zu frühstücken.
Das Einzige, was sicher zu sein schien, war, dass er sich regelmäßig sein schütteres Haar geföhnt hatte!
Verdammt noch mal, das war wirklich eine feste Größe in seinem und unser aller Leben gewesen! Aus den Seiten, die er mir zerstört hatte, konnte man sicher einen ganzen Roman zusammenstellen!