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Ich schaffte schließlich auch noch die Überquerung des reißenden Verkehrsstroms, wenn auch nicht so schnell wie der filzlockige junge Mann, der so fluchtartig verschwunden war.

Aber im Gegensatz zu ihm hatte ich nicht den geringsten Hang zum Selbstmord.

Ich fragte mich, weswegen er so plötzlich getürmt war. Es war eine Flucht gewesen, das stand für mich fest. Er hatte aus irgendeinem Grund eine Höllenangst bekommen, ein furchtbares Panikgefühl, das ihn dazu veranlasst hatte, blindlings davonzulaufen.

Ein Spinner. Das war aber nur eine Möglichkeit.

Ich betrat die Bäckerei gerade in dem Augenblick, als die Verkäuferin hinter dem Tresen hervorgekommen war, um die Ladentür abzuschließen.

"Ich wollte gerade ..."

"Drei belegte Brötchen!", brachte ich heraus und schenkte ihr das charmanteste Lächeln, das ich nach diesem Tag noch zustande bringen konnte.

Ich wusste, dass es bei ihr in der Regel ganz gut wirkte.

Als sie anhielt und die Arme in die Hüften stützte und dabei das Grübchen auf ihrer linken Wange erschien, wusste ich, dass ich heute doch noch satt werden würde.

"Hören Sie mal, wenn jetzt jeder ..."

"Bin ich denn jeder?"

"Na, jedenfalls ..."

"... wollen Sie sicher nicht eine Hungerkatastrophe auf Ihr Gewissen nehmen, oder? Morgen sind Ihre Sachen doch sowieso schlecht, und Sie werden sie wegwerfen!"

Letzteres war ihr vermutlich völlig egal, weil sie nicht die Besitzerin des Ladens war, aber ich hatte das Gefühl, dass ich irgendetwas sagen musste, um sie restlos zu überzeugen. Und solange ich irgendetwas sagte, hatte sie wenigstens keine Gelegenheit, nein zu sagen.

Sie seufzte. "Also gut."

Sie ging an mir vorbei und schloss die Ladentür. Einen Augenblick schaute sie hinüber zu dem Theater, das sich auf der anderen Seite abspielte. Inzwischen war noch ein Wagen hinzugekommen und versuchte verzweifelt, sich in eine Parklücke zu quetschen. Vielleicht die Spurensicherung, dachte ich.

"Was ist denn da bei Ihnen los?", fragte sie mich.

Ich sagte es ihr. Sie würde es morgen sowieso in der Zeitung lesen.

"Haben Sie den Mann gut gekannt?"

"Nein. Und Sie?"

"Einmal die Woche hat er ein Weißbrot gekauft. Und Sahnetorte. Darauf stand er."

"Hm." Ich hörte nur halb hin, während sie munter weitererzählte und mir drei belegte Brötchen machte.

"Er stank oft morgens schon nach Bier."

"So, so ..."

"Wollen Sie Käse oder Wurst?"

"Käse."

Mein Blick ging über die Schlagzeilen einer ausliegenden Boulevardzeitung. RUDI, WAS NUN?, stand da in so großen Lettern, dass man erst einmal einen Schritt zurückgehen musste, um es richtig lesen zu können. Zwischen den Monsterbuchstaben war ein kleines Bild des Bundestrainers, das ihn mit einem schier verzweifelten Gesichtsausdruck zeigte.

Ich sah kurz zu der Verkäuferin hinüber. Sie hatte mit den Brötchen noch eine Weile zu tun, daher drehte ich die Zeitung um. Mein Blick fiel auf die ausgezogene Schöne mit der Überschrift CINDY IST ES AUCH IM WINTER HEISS, wurde dann aber Cindys Schwindelerregender Kurven zum Trotz von etwas anderem abgelenkt.

Es war ein kleiner Artikel in der Ecke, der zu zwei Dritteln aus seiner Überschrift bestand.

Irgendein Splitter meines Bewusstseins hatte das Wort MÜNSTER wahrgenommen, was für mich Anlass genug war, mal nachzusehen.

Wenn Münster in diesem nationwide vertriebenen Revolverblatt erwähnt wurde, bedeutete das nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass hier mal wieder etwas geschehen war, was die Nation bewegte.

Dass Boris Becker hier noch ein uneheliches Kind hatte, wagte ich nicht zu hoffen, aber vielleicht war der Geisterfahrer von vorgestern drin.

Seit dem Westfälischen Frieden von 1648, der den dreißigjährigen Krieg beendet hatte, war die Stadt ziemlich aus den Schlagzeilen raus. Wurde also Zeit, dass hier mal wieder Geschichte geschrieben wurde.

EMPÖREND: DEUTSCHLANDS GEIZIGSTER POLITIKER!, stand da mit schreiendem Ausrufezeichen zu lesen. Und dann, etwas kleiner: ›Miese Tricks! Münsters OB zahlt keinen Cent an verarmte Ex-Frau!

Zwei kleine Fotos daneben. Eines zeigte die arme Ex-Frau mit einem hinlänglich verzweifelten Gesicht. Auf dem anderen war unser aller Oberbürgermeister zu sehen. Ich erkannte ihn jedoch erst auf den dritten Blick. Das Bild war schon ziemlich alt und stammte vermutlich aus dem Archiv der Ex-Frau. Ein Ausschnitt aus dem Hochzeitsfoto vielleicht.

Ich begann, den Artikel zu lesen: "Dr. Jürgen Werneck (52) hat es faustdick hinter den Ohren. Er ist Oberbürgermeister im westfälischen Münster und Inhaber einer Immobilienfirma. In der Großgarage seines schmucken Bungalows stehen ein silberfarbener Mercedes und ein blauer Jaguar. Doch seine Ex-Frau Brigitte (50) lebt in bitterer Armut. Seit ihr die Ein-Zimmer-Wohnung gekündigt wurde, muss sie in einem Obdachlosenasyl übernachten. Brigitte Werneck sagt: >Er hat kein Herz mehr für die Mutter seiner Kinder!<“

Danach war die Zeile unleserlich.

Irgendjemand hatte mit Schokoladenfingern auf die Zeitung gefasst. Aber morgen war das Blatt sowieso Altpapier.

"Hier sind die Brötchen!", drang die Stimme der Verkäuferin wie ein Messer durch meine butterweichen Gedanken.

Ich fuhr hoch. "Was?"

"Ja, dann bezahlen Sie jetzt wenigstens, damit ich endlich nach Hause komme!"

"Konfuzius sagt: Eile mit Weile", erwiderte ich, während ich die Euromünzen aus dem Portemonnaie kratzte.

Sie verzog das Gesicht. "Eile mit Weile − Langeweile!", versetzte sie schlagfertig.

Ich nahm die Brötchen. "Wiedersehen."

"Tschüss. Erzählen Sie mir morgen, was da drüben bei Ihnen genau passiert ist, ja? Das sind Sie mir schuldig!"