Fünf Minuten später klingelte es an meiner Tür. Ich ging hin und öffnete.
Vor mir stand der dicke Rehfeld mit seiner dicken Krawatte und seinem MEGAdicken Doppelkinn.
Sein Bauch drängte durch seinen offenen Mantel schon fast bis in meine Wohnung hinein. Beinahe so, als hätte er ihn direkt gegen die Tür gedrückt, bevor ich geöffnet hatte.
Wahrscheinlich war es sogar genau so gewesen! Schließlich hatte er kurze Arme und hätte sonst gar nicht die Klingel erreichen können!
"Kann ich kurz zu Ihnen hereinkommen, Herr, äh ..." Er schaute auf seinen schmierigen Zettel. Vielleicht sollte er es mal mit einem Diktiergerät versuchen!, dachte ich. Aber es würde wohl noch geraume Zeit verstreichen, ehe bei der Polizei das Zeitalter der modernen Technik anbrechen würde. "Herr Hellmer!", kam es schließlich über seine dünnen aufgesprungenen Lippen, die er wiederholt mit seiner Zunge benetzte.
"Kommen Sie herein!", sagte ich.
Unterdessen sah ich aus dem Augenwinkel, wie zwei Uniformierte einen Metallsarg die Treppe hinuntertrugen und sich an Rehfeld vorbeiquetschten.
"Warum benutzt ihr nicht den Fahrstuhl?", knurrte der Dicke.
"Ist kaputt!", knurrte es zurück.
Mein Blick blieb unwillkürlich an dem Metallsarg haften und folgte ihm weiter die Treppe hinab. Da liegt er nun also drin!, dachte ich. Ob man ihm wenigstens zur Beerdigung etwas anderes als einen Jogging-Anzug anziehen würde?
"Kommen Sie!", hörte ich Rehfeld sagen. "So interessant ist so ein Sarg doch auch nicht!"
Ich zuckte mit den Schultern. "Kommt drauf an."
"Wo drauf?"
"Darauf, wer drin liegt zum Beispiel. Oder ..."
"Oder?"
"Oder wie derjenige gestorben ist."
"Sie meinen, ob friedlich im Bett oder unfriedlich in der Badewanne?"
Ich nickte. "Ja, so oder so ähnlich."
Er sah mich an. Er hatte wässrig blaue Augen und fast genau den Blick, den ich in meinen Romanen immer den Saloonkeepern gebe. Ein bisschen misstrauisch, ein bisschen feige und ein bisschen voll vorgespielter Entschlossenheit. Aber wenn die Schießerei kam, dann pflegten sie sich blitzschnell hinter die Theke zu ducken und tauchten für gewöhnlich erst wieder auf, wenn alles vorbei war.
"Was wollen Sie wissen?", wandte ich mich an den dicken Kripo-Mann.
"Ich wollte Sie kennen lernen."
"Bin ich so interessant?"
"Kann man vorher nie sagen, Herr Hellmer."
"Das stimmt auch wieder."
"Für mich ist alles interessant, was irgendwie mit Jürgen Lammers zusammenhängt."
"Ich sagte Ihnen doch schon, dass ich nicht mit ihm zusammenhänge."
"Ja, das habe ich zur Kenntnis genommen. Es wäre übrigens nett, wenn Sie sich gleich noch Zeit nehmen könnten, um mit einem unserer Beamten ein Phantombild von der Frau zu erstellen, die Sie gesehen haben."
"Muss ich dazu aufs Präsidium?"
"Nein. Der Kollege kommt hier bei Ihnen vorbei. Vielleicht in einer halben Stunde. Haben Sie heute Abend noch was vor?"
"Nein."
"Das ist gut. Wie ist Ihre Telefonnummer?"
Ich nannte sie ihm, und er schrieb sie sich auf.
Bis jetzt hatten wir im Flur gestanden, jetzt machte ich mich ins Wohnzimmer auf, in dem ich auch arbeitete. Rehfeld folgte mir, ohne auf eine Einladung meinerseits zu warten.
Sein Blick ging sofort zum Computer. "Sind Sie ein Spiele-Freak oder ein Hacker?"
"Ich brauche das Ding beruflich."
Er ließ sich auf einem meiner Sessel nieder. Dann beugte er sich nach vorne, zu dem niedrigen Tisch, wo ein Packen Belegexemplare lag, der gestern mit der Post gekommen war und den ich noch immer nicht weggeräumt hatte.
›Logan, der Unerbittliche‹, so hieß dieser ›ungewöhnlich dramatische Western-Roman von MIKE HELL.‹
Ein breites Grinsen ging über sein Gesicht. Es zog sich an seinem Doppelkinn entlang von einem Ohr zum anderen.
Dann nahm er sich ein Exemplar des ›Unerbittlichen‹, blätterte ein wenig darin herum und legte den Roman schließlich wieder zurück auf den Packen.
"Sie sehen mir eigentlich ein bisschen zu erwachsen für so etwas aus", meinte er.
"Ich lese das Zeug ja auch nicht", meinte ich.
"Aber ..."
"Es ist viel schlimmer: Ich schreibe es!"
"Da steht aber ein gewisser Mike Hell als Autor angegeben."
"Das ist mein Pseudonym. Mike Hell - Michael Hellmer."
"Verstehe ..." murmelte er, und ich dachte, als Polizei-Detektiv hättest du eigentlich selber drauf kommen müssen, Dicker!
Aber vielleicht war das logische Kombinieren ja inzwischen aus der Mode gekommen und durch modernere Ermittlungsmethoden ersetzt worden.
Ich sah Rehfeld an. "Ich lebe davon, Leute umzubringen. Allerdings nur auf dem Papier. Alle paar Seiten eine Schießerei. Ich komme locker auf fünfzig Leichen im Monat, bin also ein Wiederholungstäter, oder?"
Rehfeld schlug sich auf seine sicher unwahrscheinlich wabbeligen Schenkel und lachte. "Ja", prustete er. "Kann man wohl so sehen ..."
"Ich schätze, wenn Lammers nicht in der Badewanne umgekommen wäre, sondern Sie ihn mit einer Kugel im Kopf gefunden hätten − dann wäre ich wohl auf Ihrer Verdächtigenliste ganz oben!"
Er verzog sein Gesicht. "Wer sagt, dass Sie es nicht auch jetzt sind?"
Ich nickte. "Sicher", bestätigte ich. "Ich traue Ihnen alles zu."
"Verdienen Sie eigentlich gut?"
"Nein. Nicht besonders. Leider bin ich nicht Konsalik oder Stephen King."
"... und ich bin nicht so ein netter Kerl wie Derrick oder Columbo!"
"Habe ich mir fast gedacht!"
Schließlich kam er doch noch zur Sache. Ich hatte schon befürchtet, dass er tatsächlich nur gekommen sei, um mir erstens den Besuch seines Kollegen anzukündigen und mir zweitens meine kostbare Zeit zu stehlen.
Aber ganz so schlimm war es dann doch nicht.
"Haben Sie etwas gehört? Irgendetwas, ganz gleich was?"
Ich überlegte. "Ich war bei der Arbeit, als das oben mit Lammers passiert sein muss. Und dann war plötzlich die Sicherung raus. Genau in dem Moment muss der Föhn in die Wanne gelangt sein. Ungefähr 17.30 Uhr, würde ich sagen. Ich wollte gerade eine Pause machen und habe deswegen geschaut, wie spät es war."
"Sie haben nichts gehört?"
"Nein."
"Keine Schritte, niemanden, der nach oben gegangen ist?"
"Die Frau ..." begann ich, aber das war im Moment nicht das, was der Dicke von mir hören wollte, und so unterbrach er mich ziemlich abrupt.
"Ja, von der haben Sie uns bereits erzählt", knurrte er unwirsch.
"Sonst niemand ... aber ..."
"Ja?"
"Warten Sie mal eine Sekunde."
"Na?"
"Da war etwas, aber das war zwei Stunden früher!"
"Erzählen Sie!", forderte er.
"Ich war im Flur, da habe ich gehört, wie mindestens zwei Personen die Treppe zu Lammers hinaufgegangen sind! Aber ich glaube nicht, dass das etwas mit der Sache zu tun hat! Schließlich war der Stromausfall erst viel später."
Rehfeld atmete tief durch und lehnte sich zurück. "Wahrscheinlich hat es mehr damit zu tun, als Sie für möglich halten!"
"Was meinen Sie damit?"
"Als der Strom ausfiel, war Lammers schon mindestens eine Stunde tot."
"Ist das sicher?"
"Ziemlich sicher. Und er starb auch nicht an dem elektrischen Schlag!"
"Was?" Ich war erstaunt.
"Jemand hat ihm mit einem stumpfen Gegenstand von hinten auf den Schädel geschlagen."
"Das heißt, Lammers wurde erst in die Wanne befördert, nachdem er schon tot war!"
"Ja."
Das ließ natürlich alles in einem neuen Licht erscheinen. Selbstmord, so schien es, war damit wohl endgültig ausgeschlossen.
"Naja", meinte ich. "Sie werden sicher alles herausbekommen."
"Allerdings, das werde ich!", kündigte er an. Und bei ihm klang das fast wie eine Drohung.
Im nächsten Moment klingelte es an der Tür. Zweimal kurz hintereinander. Da schien jemand ziemlich ungeduldig zu sein.
Ich meinte: "Das wird wohl Ihr Kollege sein."
Rehfeld nickte langsam. "Ja, vermutlich." Er erhob sich. "Es wäre nett, wenn Sie in den nächsten Tagen im Präsidium vorbeischauen würden, damit wir Ihre Aussage zu Protokoll nehmen können."
"Meinetwegen", sagte ich.
Ich öffnete die Tür, und davor stand ein junger Mann mit dicker Brille und fettigen langen Haaren, die ihm am Kopf klebten. Er sah wie ein Seehund aus, der gerade aus dem Wasser getaucht war. Der dünne, blonde Schnurrbart trug zu diesem Eindruck ein Übriges bei.
Rehfeld schien den Seehund zu kennen. Jedenfalls musste sich dieser von dem Dicken einen Schlag auf die Schulter gefallen lassen. "Dann sehen Sie mal zu, dass Sie ein schönes Bild zurechtkriegen!"