Ich hatte meinen Kaffee gerade ausgetrunken, und der rot angelaufene Jäger an meinem Tisch war indessen in andere Reviere entfleucht.
Schließlich kam sie doch noch.
Sie trug einen hellen, dünnen Mantel, den Kragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen. Um ihren Mund machte sich ein verkrampfter, angespannter Zug bemerkbar. Ihre Augen wurden durch eine ultraschwarze Sonnenbrille bedeckt, deren Machart einfach nicht zu ihrem sonstigen Outfit passte.
Wahrscheinlich war es eines der Billigangebote gewesen, die ab und zu verramscht wurden. Sie wirkte wie jemand, der nicht erkannt werden wollte − und wirkte damit um so auffälliger.
Sie trat zu mir an den Tisch, und ich nickte ihr zu. "Ich wollte gerade schon gehen!", sagte ich.
"Warum bist du so spät?"
"Was dazwischen gekommen."
Sie atmete tief durch und fuhr sich mit der Zunge über ihre vollen Lippen. Dann fragte sie: "Wo ist sie?"
"Was meinst du?"
"Die Handtasche natürlich!"
"Hm ..."
"Gib sie mir!"
Ich ließ die Katze aus dem Sack. "Ich habe sie nicht!"
"Was?"
Ebensogut hätte ich ihr einen Schlag vor den Kopf geben können. Vermutlich wäre sie ähnlich konsterniert gewesen wie in diesem Augenblick.
Ich sah es ihr an, obwohl die schwarzen Gläser ihrer Sonnenbrille den Großteil des Gesichtes verbargen und das meiste an Gefühlsregungen abfilterten.
Sie war schockiert, vielleicht sogar mehr als das. Bei so mancher Beerdigung hatte ich schon wesentlich fröhlichere Gesichter gesehen.
Sie nahm ihre Brille ab und sah mich dann fest an. Ihre grün-grauen Augen funkelten dabei gefährlich, fast wie bei einer in die Enge getriebenen Raubkatze.
Ich war es, der sie in die Enge getrieben hatte, ohne es zu wollen, aber auch ohne es verhindern zu können.
Sie sagte: "Du willst also eine Art ... Finderlohn! Verstehe."
Ich schüttelte den Kopf. "Du verstehst gar nichts!"
Um ihren Mund zuckte es. Das, was ich im Moment von ihrem hübschen Gesicht zu sehen bekam, trug jetzt den Ausdruck von Bitterkeit und Verzweiflung.
"Du bist also auch so ein schmieriger Absahner!", meinte sie tonlos.
"Du kennst also noch mehr von der Sorte?"
"Ach, hör doch auf!"
"Hieß einer dieser schmierigen Absahner vielleicht Jürgen Lammers?"
Ich hatte keine Ahnung, wovon ich da redete. Aber das spielte im Moment auch gar keine Rolle. Es war einfach ein Schuss aus der Hüfte, blind, ohne zu zielen ...
Und ich hatte mitten ins Schwarze getroffen!
Annette Friedrichs schluckte, hatte sich aber ansonsten ziemlich gut in der Gewalt.
"Absahnen kann gefährlich werden, nicht wahr?", meinte ich.
"Nur, wenn man zu unverschämt wird!"
Ich nickte leicht. "Ja, genau das meine ich!"
"Hör zu, sag mir einfach, wie viel du willst, und ich sage dir dann, ob das in meinem Rahmen liegt und dann ..."
"Und dann?"
"Dann gibst du mir die Tasche!"
"Hast du den Schnee so nötig?"
"Verdammt!"
"Sag jetzt nicht, du brauchst die Tasche wegen der Tampons so dringend, als hänge dein Leben davon ab!"
Ihr Gesicht wurde jetzt sehr ernst. So hatte ich es noch nie gesehen.
Ich hatte überhaupt noch kein Gesicht mit einem so verzweifelten Blick gesehen. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Und gleichzeitig wurde mir bewusst, wie wenig ich von dem begriff, was hier eigentlich vor sich ging. Hinter den Kulissen.
Sie sagte es mir nicht, weil sie glaubte, handeln zu können.
Aber ihr Blick sprach eine eindeutige Sprache. Was, wenn mein Leben tatsächlich davon abhängt, diese Tasche wiederzubekommen?, schien sie mich stumm zu fragen.
Ich entschied, dass es jetzt Zeit für die Wahrheit sei. Jedenfalls für die von meiner Seite. "Ich habe die Tasche nicht mehr", erklärte ich zum zweiten Mal, während sie mich ansah, als sei ich ein Alien, das gerade mit seinem Ufo in Omas Vorgarten gelandet ist und dabei die Stiefmütterchen plattgemacht hat.
Sie schluckte und begann dann wie unter Schock: "Ich sagte doch, dass ..."
"Es ist die Wahrheit", unterbrach ich sie.
"Wo ist die Tasche?"
"Die Polizei hat sie. Sie haben meine Wohnung durchsucht, und dabei ist sie aufgetaucht. Wahrscheinlich werde ich noch Schwierigkeiten wegen dem Koks bekommen, denn bisher glaubt mir niemand, dass es nicht mir gehört!"
Sie hob den Kopf.
"Und weshalb hast du dich dann hier mit mir verabredet?"
"Weil ich ein paar Dinge wissen möchte!"
"Dinge, die dich nichts angehen!"
"Wenn jemand mich durch einen Privatdetektiv beschatten lässt, der sich darüber hinaus mit mir noch eine wahre Verfolgungsjagd liefert ..."
"Ein Privatdetektiv?"
"Ja."
"Für wen sollte der arbeiten?" Sie schien diese Frage mehr an sich selbst, als an mich zu richten.
"Gute Frage. Ich wüsste die Antwort am liebsten von dir!"
"Ich habe keine Ahnung."
"Du kennst den Mann."
"So?"
"Du musst ihn kennen. Als wir uns zum ersten Mal trafen, oben in Lammers Wohnung ..."
"Was soll da gewesen sein?"
"Da waren doch zwei Typen hinter dir her!"
"Ja, stimmt."
"Und einer der beiden war hinter mir her, weil er dachte, dass ich ihn zu dir führe!"
"Wann war das?"
"Noch nicht lange her, als ich auf dem Weg zu dieser Verabredung war!"
"Es scheint, als hättest du ihn abgeschüttelt. Ich habe lange genug im Geschäft gegenüber gewartet, um zu sehen, ob dir jemand gefolgt ist!"
"Ich habe ihn keineswegs abgeschüttelt. Wir hatten ein nettes Gespräch miteinander. Sagt dir der Name Oswald etwas?"
"Nein, was sollte er mir sagen?"
"Und Raimund Schmidt GmbH − Ermittlungen aller Art? Sagt dir das etwas?"
"Nein."
"Das ist seine Firma."
"Was hat er dir gesagt?"
"Dass du mir einen Bären aufgebunden hast!"
"Er dir allerdings wohl auch!"
"Kümmern wir uns erst einmal um deinen Bären. Wie wäre das?"
Sie war nicht sonderlich begeistert. "Hör zu", sagte sie. "Ich kenne keinen Oswald und keinen Schmidt. Und falls die Schwierigkeiten, die du hast, wirklich etwas mit mir zu tun haben sollten, dann tut es mir Leid, aber ich kann dir da im Moment nicht helfen." Sie seufzte. "Im Augenblick kann ich mir nicht einmal selbst helfen", murmelte sie dann noch, und ich dachte, genau so siehst du auch aus!
"Von jedem Misthaufen gibt es auch einen Weg hinunter", meinte ich.
Sie verzog den Mund. "Ach ja?"
"Ja!"
"Na, du hast sicher die große Ahnung auf diesem Gebiet, was?"
Ich nahm ihre Hand. Sie war eiskalt, und ich wurde unwillkürlich an die Hand einer Toten erinnert.
Ich weiß, wie sich Tote anfühlen. Ich habe sechzehn Monate Zivildienst auf der Pflegestation eines Altenheims abgeleistet.
Sie zog die Hand erst nach einigen Sekunden weg und schien gehen zu wollen. Aber ich hatte das Gefühl, sie so nicht gehen lassen zu dürfen.
Ein Gefühl, mehr nicht.
"Wie wär's mit ein bisschen Vertrauen?", meinte ich, aber auf dem Ohr schien sie nicht besonders hellhörig zu sein. Aus ihrer Sicht war das vielleicht sogar ein wenig verständlich.
"Vertrauen?", fragte sie mit einem Unterton, der von einer Art verzweifeltem Zynismus sprach. "Ich bin unter der Voraussetzung hierher gekommen, dass du mir helfen kannst. Aber du hast mich angelogen! Du hast die Tasche nicht mehr und wusstest nichts Besseres zu tun, als sie der Polizei zu ..." Sie brach ab. "Naja, dafür konntest du ja wohl nichts."
"Dafür und für das schlechte Wetter auch nichts."
Sie blickte auf. "Mach's gut", sagte sie.
Einen Augenblicke später hatte sie das Stehcafé verlassen.
Sie hatte einen unsagbar traurigen Blick, als sie ging. Ich habe diesen Blick in jenem Moment nur ansatzweise zu deuten gewusst.
Später verstand ich ihn besser. Es war exakt jener Blick, den eine junge Frau haben mochte, der gerade das Todesurteil verkündet worden war.