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Später folgte noch die Gegenüberstellung mit dem Hauswirt. Der erkannte mich natürlich sofort.

Die Sache ging ihren Gang.

Eine Nacht im Knast, und am Morgen kam der Anwalt, den ich angerufen hatte, um mich bei dem Haftprüfungstermin zu vertreten.

Der Kerl hieß Knilch. Erwin Knilch.

Er war klein, fett und hatte dicke Tränensäcke. Auf mich wirkte er wie einer, der mehrere Nächte lang nicht richtig durchgeschlafen hatte. Vielleicht hatte der Knilch ja so viel zu tun, dass er für so triviale und wenig einträgliche Dinge wie Schlafen keine Zeit mehr hatte.

Seine Aufgabe, mich hinter schwedischen Gardinen wegzuholen, löste er jedenfalls mit Bravour. Und für seinen Namen kann schließlich niemand etwas. Ich konnte mir ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen, als der Knilch Rehfeld und den Staatsanwalt mit dem kleinen Finger auseinandernahm.

Hinter Rehfelds Schädeldecke kochte es sicher. Aber damit musste er fertig werden.

"Wird da noch was auf mich zukommen?", fragte ich Knilch, als ich mit ihm zusammen ins Freie ging.

Seine müden Augen sahen mich an, dann zuckte er mit den Schultern. "Eine Rechnung von mir!"

"Und sonst?"

"Das hängt davon ab, was noch auf den Tisch des Hauses kommt", meinte er gedehnt. "Dieser Polizist mag Sie nicht, was?"

"Na, wenn Sie das auch schon gemerkt haben, dann weiß ich zumindest, dass ich nicht unter Halluzinationen leide und meine Sinne noch einigermaßen klar beisammen habe!"

Der Knilch hatte keinen Sinn für Humor. Er war eine staubtrockene Advokatenseele.

Nicht einmal ein Zucken konnte ich im Bereich seiner Mundwinkel erkennen.

Naja, so schlimm war es auch nicht. Wenigstens ich hatte mich amüsiert. Und angesichts der Tatsache, dass ich jetzt keine kahlen Zellenwände, sondern die Straße vor mir sah, konnte mir nichts und niemand die Laune verderben. Nein, heute nicht.

Bevor ich nach Hause ging, frühstückte ich noch in einem Café der Mittelklasse.

Die Brötchen waren nur halb so groß wie normal, dafür gab es so viel Aufschnitt, dass man jede Hälfte dreifach belegen konnte. Nur machte das niemand, und so konnten sie dieselbe Wurstscheibe mehrmals auslegen.

Der, der den Kaffee gekocht hatte, meinte es gut mit der Geschäftskasse und schlecht mit meinem müden Kopf. Das Gebräu war nämlich so dünn, dass man den Tassengrund sehen konnte.

Ich dachte über Jake McCord nach und wie er mit den Finsterlingen fertig werden würde, die ihm im Wege standen. Und über die schöne Annette, die jetzt tot war, und die ich umgebracht haben sollte, wenn man nach Rehfelds abstruser Phantasie ging.

"Kann ich bitte bezahlen?", fragte ich die mürrische Bedienung, weil ich wusste, dass sie die nächste halbe Stunde nicht mehr in die Nähe meines Tisches kommen würde.

"Ein bisschen Geduld bitte, ja? Wo sind wir denn hier? Auf Arbeit oder auf der Flucht?"

"Whiskey!", knirschte McCord zwischen den Zähnen hindurch, während ihm der Barkeeper das Glas vollschüttete. Und dabei hatte er das Bild der grünäugigen Schönen vor Augen, die Morton auf dem Gewissen hatte. Aber dafür würde er bezahlen, der Hund! Das hatte sich Jake McCord geschworen!

Ich musste der Sache schon aus eigenem Interesse auf den Grund gehen. Und leider hatte ich niemanden, der dabei auf meiner Seite war.

Zumindest konnte ich davon ausgehen, niemals wirklich allein zu sein, denn wenn ich richtig rechnete, dann ließ mich Rehfeld beschatten. Jedenfalls hätte ich das an seiner Stelle getan, wenn ich derart felsenfest davon überzeugt gewesen wäre, einen Mörder vor mir zu haben.

Als ich nach Hause kam, klingelte das Telefon.

Es war mein Redakteur, der die Western redigierte und zumindest ein paar von den Fehlern ausmerzte, die ich machte.

"Ja, hallo, Herr Hellmer, wie geht es Ihnen denn?", fragte er gedehnt und mit rheinischem Akzent.

So fing er immer an. Bis er auf den Punkt kam, dauerte es meistens ein bisschen.

"Es geht so", murmelte ich, während mein Blick immer noch über das Chaos ging, das nach wie vor in meiner Wohnung herrschte. Bei meinem Ordnungstalent würde es Wochen dauern, bis es hier wieder wie in einer menschlichen Behausung aussah.

Auf der anderen Seite der Leitung hörte ich ein Räuspern. "Also, die Sache ist die", kam es umständlich zu mir herüber. "Ich habe hier Ihren Roman Die Höllenhunde vom Sacramento-River vorliegen. Der Titel ist schon mal sehr gut, und der Roman wird ja sicher auch prima sein. Ich bin noch nicht dazu gekommen, ihn zu lesen."

"Hm", machte ich, um die entstehende Pause zu überbrücken.

"Es geht darum, Herr Hellmer: Ich muss heute schon die Titelbilder einplanen."

"Ach so."

"Können Sie mir mal kurz sagen, was in dem Roman so vorkommt?"

Da brachte er mich in Verlegenheit.

Ich musste mich sehr konzentrieren, damit es mir wieder einfiel, denn bei mir gibt es so eine Art Vergess-Automatik, sobald ich eine Geschichte abgeschickt habe. ›Delete Memory‹ sozusagen.

Nach einigen Schrecksekunden begann ich dann ziemlich schleppend: "Also, es geht um einen Marshal, der eine Bande von Desperados verfolgt ..."

Während ich redete, merkte ich, dass er mir nicht zuhörte. Schließlich fragte er: "Kommt eine Eisenbahn in dem Roman vor? Ich habe hier nämlich ein schönes Titelbild mit einer Eisenbahn."

"Nein."

"Keine Eisenbahn?"

"Keine Eisenbahn."

"Schade." Er seufzte. Ich hörte, wie er mit ein paar Blättern hantierte. "Und wie steht's mit Indianern?"

"Auch keine Indianer", musste ich ihn abermals enttäuschen.

"Tja", machte er. "Und wie steht's mit einem Mexikaner?"

"Meinetwegen", meinte ich. "Ein Mexikaner kommt vor."

"Na, prima. Dann hätten wir das ja auch noch geschafft! Das wär's. Alles Gute noch!"

"Wiederhören." Ich legte auf und überlegte einen Moment. Dann griff ich erneut zum Hörer. Mit der Linken fingerte ich die Visitenkarte aus der Hosentasche, die Oswald alias Flash Gordon mir gegeben hatte, und wählte die Nummer, die darauf angegeben war.

"Hier ist die Raimund Schmidt GmbH, Private Ermittlungen, Objekt- und Personenschutz, guten Tag", säuselte eine helle Frauenstimme mit einer solchen Schnelligkeit, dass es schon einigermaßen erstaunlich war, wie sie ihren Text so fehlerfrei herunterleierte und nicht irgendwo auf halber Strecke hängenblieb.

"Ist bei Ihnen jemand namens Oswald beschäftigt?", fragte ich.

"Herr Oswald ist im Moment nicht im Hause. Kann ich etwas ausrichten?", säuselte die Stimme.

"Nein, können Sie nicht."

"Wie war noch mal Ihr Name? Dann könnte ich eine Notiz hinterlassen?"

Ich hatte meinen Namen gar nicht genannt, aber meine Gesprächspartnerin schien ihn unbedingt wissen zu wollen. Auf dieselbe Tour versuchen es die Sachbearbeiter der Sozialversicherungen immer, wenn man anruft, um einfach mal unverbindlich eine Auskunft zu bekommen.

"Kann ich Herrn Schmidt sprechen?", fragte ich.

Die Antwort war so reserviert, wie ich befürchtet hatte. "Was wollen Sie denn von Herrn Schmidt?"

"Das muss ich ihm schon selbst sagen."

"Hören Sie, guter Mann: Herr Schmidt ist sehr beschäftigt und ..."

"Ist ja schon gut!", meinte ich und legte einfach auf. Die Geschichte von dem stiernackigen Blondschopf schien zu stimmen. Er war wohl wirklich Angestellter einer Privatdetektei. Nur hätte ich zu gern gewusst, in wessen Auftrag er hinter mir her gewesen war.

Ich nahm mir vor, dem Laden mal einen Besuch abzustatten. Vielleicht gelang es mir ja sogar, Mister Raimund Schmidt himself zu erwischen, wobei ich nur hoffen konnte, dass er umgänglicher war als seine Handlanger.

Und noch ein anderer Besuch stand auf meiner Liste. Ich wollte mich mit der Freundin unterhalten, bei der Annette zuletzt gewohnt hatte. Vielleicht hatte die das Telefonat zwischen Annette und mir mitgekriegt, doch daran glaubte ich schon deswegen nicht, weil Annette mich nie Mike genannt hatte.

Aber es gab ja schließlich Leute, die wirklich Mike hießen und sich nicht nur so nannten, wie ich.

Die Story, die Rehfeld mir unter die Nase gerieben hatte, war gar nicht so dumm, wurde mir bei weiterem Nachdenken klar. Er machte nur den schwerwiegenden Fehler, mir darin die falsche Rolle zuzuweisen. Aber zumindest etwas konnte dran sein.

Einen kurzen Gedanken verschwendete ich noch an Jake McCord und die Probleme, die er mit ein paar gnadenlosen Wölfen hatte, die natürlich allesamt Zweibeiner waren. Aber der Gedanke war wirklich nur ganz kurz und auch nicht besonders ergiebig.

Ich musste mit dem Roman fertig werden, sagte die eine Hälfte von mir. Aber die andere wusste, dass ich im Moment keine vernünftige Zeile zustande bringen würde. Ich brauchte es gar nicht erst zu versuchen.

Ich musste diese Sache wohl schon deswegen möglichst schnell aufklären, damit ich mich bald wieder auf meinen Job konzentrieren und Geld verdienen konnte!

Wenn es sich um eine Erpressergeschichte handelte, dann war es bislang eine ohne Opfer, und so etwas gibt es nicht einmal in MEGAschlechten Romanen ...

Wenn das Opfer gefunden war, löste sich der ganze Knäuel vielleicht von selbst auf.

Ich rieb mir die Schläfen. Logisch vorgehen, Cowboy!, hämmerte ich mir ein. Was muss ein Erpressungsopfer an Eigenschaften mitbringen? Erstens: eine Sünde, von der niemand etwas wissen darf.

Und zweitens?

Geld ...

Arme Leute werden nicht erpresst, je ärmer, desto seltener. Lohnt sich einfach nicht.

Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Ich dachte an den filzlockigen Hartmut Werneck, den Sohn unseres OB, der nach dem Mord in der Nähe des Tatorts herumgelungert und sich so merkwürdig benommen hatte ...

Hartmut brachte alle Eigenschaften mit. Er hatte zwar selbst kein Geld, dafür aber unbegrenzten Zugang zur Geldbörse seines Vaters, und das war genauso gut.

Außerdem steckte Hartmut offenbar in Schwierigkeiten, wenn man danach ging, was ich aus dem Gespräch mit Dr. Werneck aufgeschnappt hatte.

Vielleicht nahm er Drogen oder daddelte zuviel an den Automaten in den Spielhallen herum und hatte sich dafür bei Leuten Geld geliehen, die beim Eintreiben ihrer Schulden nicht sehr zimperlich waren.

Und wie passten Annette Friedrichs und Lammers da hinein?

Hartmuts merkwürdigem Auftritt am Tatort nach musste es da irgendeine Verbindung geben, zumindest was Jürgen Lammers anbetraf, nur hatte ich noch keine Ahnung, welche.

Für die Schritte, die ich zwei Stunden vor dem Stromausfall im Treppenhaus gehört hatte, konnte auch Hartmut verantwortlich gewesen sein − eventuell zusammen mit einem Komplizen. Er wäre nicht der erste Mörder gewesen, den es kurz nach der Tat zum Tatort zurückgetrieben hatte. Zumindest hatte ihn das Ganze sichtlich aufgewühlt. Er war in einer Ausnahmesituation gewesen. Einen Versuch war diese Spur in meiner verzwickten Lage jedenfalls wert, fand ich. Ich musste jetzt allem nachgehen. Nur so ein bisschen in der Sache herumzustochern genügte nicht, um zu verhindern, dass Rehfeld mir seelenruhig nach und nach eine Indizienschlinge um den Hals legte.

Ich schaute ins Telefonbuch, aber Hartmut Werneck stand nicht drin.

Irgendwie hatte ich kaum etwas anderes erwartet.

Nur die Nummer seines Vaters stand dort, und so wählte ich nach kurzem Zögern erst einmal die.

"Hier bei Dr. Werneck", meldete sich eine ziemlich junge Frauenstimme. Eine Haushaltshilfe wahrscheinlich. Der Chef des Hauses war wohl noch nicht zu Hause. Und wenn er nicht auf irgendeiner wichtigen Sitzung seinen Stuhl wärmte, gab es mit Sicherheit irgendwo in Münster einen 75. oder 90. oder 102. Geburtstag, auf dem er pflichtgemäß sein Schnapsglas zu heben hatte.

"Herr Dr. Werneck ist leider nicht da, kann ich etwas ausrichten?", fragte die Frauenstimme.

"Ich hätte gerne den jungen Herrn Werneck gesprochen", sagte ich. "Hartmut."

"Der? Der wohnt aber nicht hier."

Ich holte tief Luft und steigerte mich in eine Rolle als Lügenbaron hinein.

"Tja, ich dachte, er wohnt vielleicht noch zu Hause oder dass man mir dort wenigstens weiterhelfen könnte. Sie müssen wissen, ich bin nämlich ein alter Freund von ihm. Aber ich bin drei Jahre in den USA gewesen, und da haben wir uns ein bisschen aus den Augen verloren."

"Nee, der Hartmut ist hier ausgezogen, kurz nachdem ich die Stelle als Haushaltshilfe hier angenommen habe. Da ist schon ein paar Jahre her."

"Sie wissen nicht, wo er wohnt?"

"Ich? Nein. Tut mir Leid."

"Vielleicht könnten Sie mal nachschauen, ob Sie nicht Hartmuts Adresse finden können. Es wäre sehr wichtig."

"Hören Sie, vielleicht rufen Sie später noch mal an, Herr ..."

"Später? Ich bin nur kurz hier und fliege dann wieder weiter. Und da würde ich Hartmut halt gerne Guten Tag sagen. Naja, schön wär's gewesen!" Und in die letzten paar Worte legte ich soviel Mitleid erregendes Bedauern, wie ich nur konnte. "Wissen Sie, Hartmut und ich, wir haben uns immer sehr nahe gestanden."

"Ich verstehe schon", murmelte die Frauenstimme auf der anderen Seite der Leitung, und ich konnte förmlich spüren, wie die gute Frau mit sich rang. Sollte sie nun im Telefonregister ihres Herrn und Meisters nachsehen oder nicht?

Ich hörte sie blättern. Innerlich jubelte ich. Tor! Eins zu null für mich!

"Eine Adresse habe ich hier nicht", erklärte sie mir. "Aber eine Telefonnummer."

"Na, das ist doch schon etwas!"

Sie gab sie mir durch, und ich bedankte mich.

Es war eine Münsteraner Nummer.

Ich wählte sie.

Auf der anderen Seite meldete sich eine verschlafene Frauenstimme. "Häh, wer is'n da?"

"Kann ich mal den Hartmut sprechen?"

"Der is nich da!"

"Wann kommt er denn wieder?"

"Weiß nich. Kann ich echt nich sagen! Ich weiß nich, opper überhaupt zurückkommt."

"Schade, ich ..."

"Ich kann dir nich helfen. Echt nich!"

Damit legte sie auf, und ich stand da wie ein begossener Pudel. Echt.

Ich hatte noch nicht einmal eine Adresse.

Also wählte ich die Nummer gleich noch einmal und hatte wieder die Dame mit der nachlässigen Sprechweise dran.

"Häh?"

"Ich bin's noch mal."

"Mann, kapierste nich, was ich gesagt habe?"

"Ich würde gern mal vorbeischauen."

"Spinnst wohl!"

"Nicht auflegen! Es geht um Geld, das ..."

Sie unterbrach mich und wechselte plötzlich zum distanzierteren Sie. "Hartmut hat kein Geld, und wenn Sie hier alles auf den Kopf stellen und ihn windelweich prügeln! Und ich habe auch nix!"

"Nein, Moment mal!"

"Tschüss!"

"Ich schulde ihm etwas, nicht umgekehrt!"

Einen Augenblick lang hörte ich gar nichts und hegte schon die Befürchtung, dass sie wieder den Hörer auf die Gabel geknallt habe.

Aber sie war noch dran. Und ziemlich perplex. "Häh?"

"Ja, ich schulde ihm noch ein paar Kröten und möchte sie ihm gerne vorbeibringen. Also sag mir, wie ich zu euch hinkomme, ich habe nämlich nur diese Nummer."

"Aber Hartmut ist nicht da."

"Ich gebe das Geld dir, und du gibst es Hartmut. Ich habe keine Lust, darauf zu warten, bis er wieder auftaucht."

Ich hörte sie atmen. "Gut", sagte sie dann, und ich bekam die Adresse. "Wann kommst du?"

"So schnell, wie mein Fiat mich hinbringt!"