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Die Adresse gehörte zu einem sechsgeschossigen Altbau in der Maximilianstraße. Mein Blick ging die Klingelknöpfe entlang, aber ich fand Hartmut Wernecks Namen nicht.

Ich versuchte es auf gut Glück mit dem untersten Knopf. Es surrte, die Tür ging auf, und ich war drinnen. Ein Mann im Unterhemd und mit einer Zigarette im Mundwinkel kam mir im Treppenhaus entgegen. Er roch nach Schweiß und Bier.

"Wollen Sie zu mir?"

"Entschuldigung, da habe ich wohl auf den falschen Knopf gedrückt."

"Scheint mir auch so."

Er drehte sich schon wieder herum.

"Ich suche Hartmut Werneck. Der soll hier wohnen."

"Bei mir nicht", grunzte der Kerl im Unterhemd.

"Nein, aber hier im Haus."

"Haben Sie mal bei den Klingeln geguckt?"

"Sein Name ist nicht dabei. Er wohnt mit einer Frau zusammen."

Er rülpste. "Keine Ahnung", murmelte er dann. "Wissen Sie, mit den anderen hier habe ich nicht so viel zu tun, verstehen Sie?"

Ich nickte. "Verstehe..." log ich.

Ich gab ihm eine Kurzbeschreibung von Hartmut, und mein Gegenüber runzelte die Stirn. Fast konnte man meinen, er würde wirklich nachdenken.

"Vielleicht ist es einer von den jungen Leuten, die oben im Fünften wohnen. Eine Wohngemeinschaft oder so etwas. Da weiß man nie so genau, wer da nun gerade wohnt. Das scheint öfter zu wechseln."

"Ja, dann werde ich's mal dort probieren."

"Sind wohl Studenten oder so etwas."

"Danke für Ihre Hilfe."

"Ich frage mich, wann die je etwas fürs Studium tun oder etwas anderes arbeiten. Aber wahrscheinlich sind das die Kinder von so reichen Pinkeln, und deshalb können sie wie die Grafen in den Tag hineinleben."

Ich ließ ihn stehen und war schon einen Treppenabsatz höher, da hörte ich ihn immer noch vor sich hin grummeln.

Die Treppen nahm ich in Zweierschritten und befand mich schließlich vor jener Wohnung, deren Mieter dem Mann im Unterhemd offenbar aus irgendeinem Grund suspekt schienen.

Die Klingel war kaputt, also klopfte ich.

Ein kleines, blasses und ziemlich zerbrechliches Wesen machte mir auf. "Ja?"

Ich erkannte die tranige Stimme sofort wieder. "Wir haben eben miteinander telefoniert."

"Ey du, du bist ja echt schnell", meinte sie und schlürfte dann etwas von dem penetrant riechenden Kräutertee, von dem sie eine Tasse voll in der Linken balancierte.

Das ›Ey du‹ zur Begrüßung wies auf ein Studium im Bereich Sozialwesen hin, was bedeutete, dass sie Abitur haben musste und vermutlich nur so tat, als könne sie nicht richtig sprechen.

Sie war barfuß und trug einen dicken Pullover, der ihr fast bis zu den Knien reichte. Hinter ihr drückte sich ein kuscheliger Alf-artiger Hund herum, bei dem man schon genau hinschauen musste, um zu wissen, wo vorne und wo hinten war. Sein Zottelfell harmonierte gut mit dem Pullover seines Frauchens, und ich fragte mich, ob sie das Tier vielleicht regelmäßig schor, um Wolle zu gewinnen.

Das Tier knurrte.

"Der macht nichts!", behauptete sie. "Der ist echt total lieb!"

"Na, hoffentlich", murmelte ich. Es war irgendwie nicht der richtige Zeitpunkt, um hier und jetzt mein wahres Ich als Tierhasser zu outen.

Sie streckte mir eine ihrer zarten Hände entgegen und meinte: "Du wolltest Geld vorbeibringen ..."

Ich verzog das Gesicht. "Weiß ich, ob Hartmut es überhaupt bekommt, wenn ich es dir gebe?"

"Gerade war das noch kein Problem für dich!"

"As time goes by ..."

"Hör mal, du ..."

"Es war ein Vorwand."

Sie runzelte die Stirn. Schnell im Denken war sie nicht, nicht so schnell jedenfalls wie ihr Zottelhund. Der hatte sofort gemerkt, dass jetzt Gefahr bestand und die Stimmung schlechter wurde. Er trottete davon. Mutig, mutig!, dachte ich. So verteidigt man sein Frauchen!

"Hättest mir sonst bestimmt nicht deine Adresse verraten."

"Richtig!"

Sie wollte die Tür zuschlagen, aber ich hatte den Fuß drin. Sie schrie auf, aber das hatte nichts mit mir zu tun, sondern mit dem heißen Tee, der ihr auf die nackten Füße geplempert war.

Ich nutzte ihre Schrecksekunde. "Ich muss Hartmut unbedingt finden. Er ist in großen Schwierigkeiten, und vielleicht kann ich ihm helfen, aus der Scheiße herauszukommen, in der er bis zum Hals steckt."

Sie sah mich mit großen Augen an.

Die Tür stand auf einmal wieder offen. Und ich wusste, dass ich die Signalwörter getroffen hatte, die auf ihre Ohren wie ein ›Sesam öffne dich!‹ wirkten: Helfen und Scheiße.

"Echt?", fragte sie.

"Na, klar!"

"Klingt ja ziemlich dringend!"

"Ist es auch. Aber müssen wir das hier draußen auf dem Flur besprechen?"

Sie seufzte. "Komm rein."

Ich folgte ihr in eine ziemlich unaufgeräumte Küche. Sie bot mir einen Stuhl an. Auf einem Teller lag ein angegessener Tofu von gestern.

"Eigentlich sind wir ja alle im Moment echt sauer auf ihn", meinte sie, während sie sich streckte, so als sei sie gerade aus dem Bett gestiegen.

"Wieso?"

"Weil er seit zwei Monaten nicht mehr seinen Anteil zur Miete gezahlt hat. Und dann hat er sich einfach verdrückt und vorher unsere Haushaltskasse geplündert. Es hat uns echt betroffen gemacht, wie jemand so fies sein kann ... Wir haben ihm ja schließlich vertraut."

"Seit wann ist er weg?"

"Drei Tage."

"Du hast keine Ahnung, wohin?"

"Nein. Meinst du, ihm ist was passiert? Ich meine, ab und zu bleibt er schon mal 'ne Nacht weg, und ich bin ja keine Anstandsoma, die hinter ihm her spioniert."

"Könnte sein, dass ihm was passiert ist."

"Echt?"

"Ich sagte doch, dass er Schwierigkeiten hat."

Sie runzelte ein wenig ihre bleiche Stirn. "Wer bist du?", fragte sie.

"Ich heiße Michael."

"Ich bin die Nele. Kennst du Hartmut vom Studium?"

"Ja", log ich.

Ich hatte einige Semester Germanistik hinter mir, und das reichte immerhin, um meinem Gegenüber die Mensa von innen beschreiben zu können.

"Dann weißt du ja sicher, dass es schon eine Ewigkeit her ist, seit Hartmut in einer Vorlesung war", erklärte sie. "Aber Diplompädagogik ist ja auch ein Studiengang für Bescheuerte."

"Ach, ja?"

"Echt. Ein Studium ohne Job. Entweder man studiert Lehramtsstudiengänge, dann wird man logischerweise Lehrer; oder Sozialpädagogik, dann wird man Sozialarbeiter. Aber wenn man ein Diplom in Pädagogik macht, wird man buchstäblich gar nichts." Sie zuckte die schmalen Schultern und stellte endlich ihre Tasse ab. "Als man den Studiengang erfunden hat, hat man einfach vergessen, einen Job dazu zu erfinden."

"Hartmut hat das nicht gestört."

"Ich glaube, er will das gar nicht."

"Was will er nicht?"

"Einen Abschluss machen, einen Job bekommen." Sie zögerte ein wenig, bevor sie weiter sprach. Ihr Blick war in sich gekehrt, als sie den Kopf drehte und hinzufügte: "... und erwachsen werden. Das hängt wohl auch mit seinem Alten zusammen."

"Unserem OB."

"Ja." Sie nickte, aber leider sprach sie nicht weiter und verriet mir nicht, wie sie das meinte. Immerhin schien sie die Tatsache, dass ich wusste, wer Hartmuts Vater war, als eine Art Bestätigung dafür zu akzeptieren, dass ich ihn wirklich kannte, sein Freund war und ihm helfen wollte.

Für den Roman, den ich da erfand, wurde ich noch nicht einmal bezahlt.

"Vor ein paar Tagen habe ich die beiden noch zusammen gesehen", sagte ich, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen.

"Echt?"

"Ja."

"Er hasst seinen Alten wie die Pest. Er konnte noch nicht einmal ertragen, ein Bild von ihm in der Zeitung zu sehen."

"Ich weiß. Aber sie haben sich getroffen, ich habe sie zufällig gesehen."

"Hat wahrscheinlich einen ziemlichen Zank gegeben, was?"

"Und fünftausend Euro."

"Was?"

Das hatte sie wohl betroffen gemacht. Echt betroffen, um genau zu sein. Jedenfalls stierte sie mich ziemlich ungläubig an. "Du meinst, sein Alter hat ihm einfach so fünftausend Eier gegeben, und hier zahlt er nich mal seinen Anteil?"

"Hast du eine Ahnung, wozu er das Geld gebraucht hat?"

"Was weiß ich! Um zu kiffen, vielleicht."

"Hat er denn?"

"Sicher hat er."

"Hat er an der Nadel gehangen?"

"Nicht, dass ich wüsste. Aber wenn du mich so fragst: So genau weiß ich das nicht. Das würde natürlich einiges erklären."

"Was, zum Beispiel?"

"Dass er nie Geld hatte. Dass er manchmal so komisch war. Er hat tagelang im Bett gelegen und niemanden in sein Zimmer gelassen."

"Kann es sein, dass er von jemandem erpresst wurde?"

"Wie kommst du darauf?"

"Ist doch egal, oder? Nur eine Vermutung!"

Nele atmete tief durch. "Wenn du sagst, dass er bei seinem Vater war, um ihn um Geld anzuhauen ... Das muss ihn eine ziemlich große Überwindung gekostet haben. Sein Alter hat hier oft angerufen. Hartmut ließ sich aber immer verleugnen. Er wollte einfach nichts mit ihm zu tun haben."

Jake McCord warf einen kühlen Blick auf die junge Frau.

Das Gespräch drehte sich im Kreis, und McCords untrüglicher Instinkt sagte ihm, dass er jetzt endlich zur Sache kommen musste.

"Kann ich mal sein Zimmer sehen?", fragte ich. "Vielleicht kommen wir so weiter."

Sie überlegte kurz und nickte. "Klar."

Sie ging voran und fragte dabei: "Warum sollte jemand Hartmut erpressen?"

"Weil er Geld hat!"

"Er hatte nie welches."

"Er kann aber jederzeit welches bekommen. Von seinem Daddy. Und das ist genauso gut."

Das schien sie zu kapieren.

Wir gingen an einer offen Tür vorbei. Ich warf einen Blick hinein und sah einen Mann ausgestreckt auf einer Couch liegen und vor sich hin schnarchen.

"Weiß der was über Hartmut?"

"Ich glaube, für die nächsten vierundzwanzig Stunden weiß der nich mal mehr seinen Namen. Echt!"

Was den Kerl so fertiggemacht hatte, verriet sie mir allerdings nicht.

Hartmuts Zimmer glich einer Räuberhöhle. Hätte es hier ein Klo gegeben, dann wäre der Eindruck einer Knastzelle, wie man sie aus schlechten Filmen kennt, komplett gewesen.

Es stand fast nichts im Raum. Nur eine Matratze und eine Stereoanlage. Und an der Stereoanlage fehlten die Boxen. Im ganzen Raum lagen Kleidungsstücke verstreut, die man ziemlich lange nicht gewaschen hatte.

In einer Ecke stand ein gutes Dutzend leerer Flaschen. Alles harte Sachen.

Kein Wunder, dass Hartmuts Teint zu wünschen übrig ließ.

"Ich mach mir doch jetzt echt Sorgen ..." hörte ich das bleiche Geschöpf namens Nele sagen.

Reichlich spät, dachte ich. Drei Tage waren eine lange Zeit.

Ich schaute ein bisschen herum. Hinter der Stereoanlage stand ein kleiner Stapel Bücher, alle mit der Signatur der Uni-Bibliothek. In eins schaute ich hinein. Vor einem halben Jahr hätte er sie abgeben müssen.

"Er war immer so depressiv", fuhr Nele indessen fort.

"Ja, war er", murmelte ich. "Richtig verzweifelt."

"Glaubst du, er könnte ..."

"Was?"

"Na, sich umgebracht haben!"

"Was weiß ich!"

"Er hat einen Selbstmordversuch hinter sich. Hat er jedenfalls erzählt. Aber das liegt schon länger zurück, und er war deswegen auch in Behandlung."

"Umso wichtiger, ihn zu finden", knurrte ich.

Es konnte nicht schaden, ihr Echt-betroffen-Sein noch ein bisschen anzuheizen. Umso bereitwilliger würde sie mir helfen.

Ich stöberte noch etwas in den Büchern herum. Es war Instinkt, keine Logik, die mich dazu veranlasste. Und dann fiel plötzlich ein Foto aus einem der Schinken heraus, das Hartmut offenbar als Lesezeichen verwandt hatte.

Auf dem Bild war eine junge Frau mit braunen Locken, die ihr wirr im Gesicht herumhingen. Sie hatte ein Nasenpiercing und große dunkle Augen.

"Wer ist das?", fragte ich und zeigte ihr dabei das Foto.

Sie zuckte die Achseln.

"Keine Ahnung."

"Nie gesehen?"

"Könnte sein, dass es seine Ex-Freundin ist. Jedenfalls hatte die auch so'n Ding in der Nase. Aber andere Haare. Blond, glaube ich."

"Haare kann man färben."

"Klar. Aber die beiden sind schon lange nicht mehr zusammen."

"Wie heißt sie?"

"Franziska, glaube ich. Oder Doris?"

Auf der Rückseite hatte sich Hartmut eine Adresse notiert. Ohne Namen. Ich hoffte, dass sie zu der jungen Frau gehörte. Jedenfalls war es noch nicht allzu lange her, dass er sie sich notiert hatte. Er hatte mit Bleistift geschrieben, und das Grafit stand noch sehr schwarz da und war überhaupt nicht abgegriffen. Jedenfalls nicht so abgegriffen wie das Bild.

Die barfüßige Nele ließ ich einfach stehen.

"Heh, was is' nun?"

"Ich sage dir Bescheid, wenn ich mehr weiß!"

"Echt?"

"Unecht."

"Häh?"

"Nicht so wichtig."