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Die Adresse, die ich auf der Rückseite des Fotos gefunden hatte, gehörte zu einer Erdgeschosswohnung in einem Haus, dessen graue Fassade einen Anstrich dringend nötig gehabt hätte, das aber von innen ganz gepflegt aussah.

Die junge Frau auf dem Foto erkannte ich kaum wieder, als sie mir die Tür öffnete. Sie war auf die blödsinnige Idee gekommen, sich die Haare rot färben zu lassen, was weder zu ihrem Typ noch zu ihrer Kleidung so richtig passte. "Ja?" Sie strich sich die Mähne zurück und sah mich stirnrunzelnd an.

Ich kam gleich zur Sache. "Ich muss mit Hartmut sprechen."

"Hartmut ist nicht in der Verfassung, um mit jemandem zu sprechen."

"Hat er sich vollgedröhnt?"

"Hau ab!"

"Er wird schon wach werden, wenn ich ihm sage, worum es geht!"

"Verpiss dich!"

"Es geht um Mord."

"Was?"

Um ein Haar hätte die Rote mir die Tür vor den Kopf geknallt, aber jetzt hatte ich ihr Interesse geweckt.

Für ein paar Sekundenbruchteile schien sie sich nicht entscheiden zu können, ob sie mir glauben oder zumindest zuhören solle oder nicht.

"Du spinnst!", sagte sie mir dann. Aber da war ich schon in der Wohnung. Sie wich etwas zurück. In ihrem Gesicht stand eine Mischung aus Angst und Interesse.

"Hartmut!", rief sie, und aus einem der anderen Räume kam ein dumpfes Grunzen, das nicht gerade von kraftstrotzender Fitness sprach. "Ich werde die Polizei rufen!", sagte sie dann.

Ich zuckte die Achseln. "Nur zu! Die wird vielleicht sowieso bald hier auftauchen."

"Wieso?"

"Um Hartmut festzunehmen."

"Aber ..."

"Zwei Menschen sind umgekommen, und jedes Mal war er kurz nach der Tat am Tatort. Ist doch merkwürdig, oder?"

Sie stand mit offenem Mund da und starrte mich an, als habe man ihr gerade eröffnet, dass ihr Lieblingspopstar ein Vampir sei und sich von dem Blut junger Mädchen ernähre.

"Wer sind Sie?"

"Sagen wir's mal so: Ich kannte die beiden Opfer und habe an der Sache ein persönliches Interesse."

Vermutlich war ich der erste Mensch seit Jahren, zu dem sie Sie sagte.

Ich hörte ein Geräusch. Ein Poltern. Dann schwerfällige Schritte und einen Moment später stand eine dürre, filzlockige Gestalt in der Zimmertür. Hartmut.

Er trug außer seiner Jeans nur ein T-Shirt und wirkte ohne seinen dicken Pullover wie ein Gerippe. Sein Gesicht war bleich, und er stank, als hätte er in Schnaps gebadet.

"Was willst du?", fragte Hartmut, während er sich den Kopf kratzte. Langsam schien er die Überreste seines Bewusstseins wieder zu etwas zusammengekratzt zu haben, womit man denken konnte. Notdürftig, aber immerhin.

"Ich will dir eine Geschichte erzählen", sagte ich.

"Eine Geschichte?"

"In dieser Geschichte gibt es zwei Leichen. Die eine heißt Jürgen Lammers."

Die Nennung dieses Namens schien ihn wie eine Ohrfeige zu treffen. Er war gleich drei Grad wacher und nahm Haltung an. Und das, was sich für die Dauer einer Millisekunde auf seinem Gesicht zeigte, war wohl das klassische Beispiel für einen Recognition-Reflex.

Ich lächelte dünn. "Habe ich es mir doch gedacht!"

"Was?"

"Dass dir der Name was sagt!"

Jetzt mischte sich die Rote ein. Aber sie wandte sich nicht an mich, sondern an ihren Ex. Oder Ex-Ex. "Erklär mir das bitte", forderte sie. "Wer ist dieser Lammers?"

"Niemand", knurrte er.

"Er lügt dich an!", sagte ich zu der Roten. "Lammers ist die Leiche in der Badewanne, von der die Lokalpresse voll ist! Und dein Freund oder Ex-Freund oder was auch immer war am Tatort und hat sich ziemlich merkwürdig benommen!"

Sie funkelte mich giftig an und hatte auf einmal etwas Hexenhaftes an sich.

"Und das ist alles?", keifte sie.

"Nein. Da ist auch noch eine junge Frau namens Annette Friedrichs. Ich traf Hartmut zufällig auf der Straße. Später stellt sich heraus, dass ungefähr zu dieser Zeit Annette Friedrichs ganz in der Nähe umgebracht worden ist ..." Ich wandte mich an die sprachlose Filzlocke. "Klingt nicht gerade nach Zufall, was?"

Hartmut schluckte.

"Die beiden haben dich erpresst, nicht wahr?"

Er blickte auf. "Das ist doch Unfug!"

"Nein, das glaube ich nicht! Ich habe keine Ahnung, womit sie dich in der Hand hatten, aber es muss mehr als zwei Menschenleben wert gewesen sein. An das nötige Geld zu kommen, ist für dich ja kein Problem, wenn man einen Vater hat, der mal so zwischendurch einen Fünftausender-Scheck unterschreibt!"

"Woher weißt du ...?" Er war völlig fassungslos.

Ich zuckte mit den Achseln. "Ich bin Hobby-Hellseher."

Die Rote stemmte ihre schlanken Arme in die Hüften. "Hast du dir dafür etwa auch die 1500 von mir geliehen?"

"Quatsch!"

"Wie oft haben Lammers und die Friedrichs bei dir abkassiert?", fuhr ich dazwischen.

"Ich will jetzt wissen, was hier gespielt wird!", sagte die Rote ziemlich empört.

"Lass mich mit dem Typ bitte mal allein sprechen", sagte Hartmut Werneck plötzlich.

Die Rote stand da wie ein begossener Pudel und schien ihren Ohren nicht trauen zu wollen.

"Was soll das denn?"

"Bitte!"

Sie atmete tief durch, und ich registrierte mit Genugtuung, dass nicht ich es war, der jetzt von ihrem giftigen Hexenblick getroffen wurde. "Also schön", zischte sie. "Ich weiß nicht, in welcher Scheiße du im Augenblick wieder steckst, aber eines steht für mich auf jeden Fall fest: Ich will nichts damit zu tun haben! Und ein Loch zum Unterkriechen kannst du dir woanders suchen!"

Damit stampfte sie davon. Die Tür flog krachend ins Schloss. Ich schätzte, dass sie auf der anderen Seite das Ohr an das Holz presste, um doch möglichst viel mitzubekommen.

Hartmut atmete tief durch. "Ich wusste doch, dass ich dich schon irgendwann einmal gesehen habe", knurrte er dann.

"Ja, man sollte sich eben jedes Gesicht gut merken." Ich sah ihn fest an und bluffte: "Was ist, gehen wir zur Polizei?"

Natürlich hatte ich nicht das geringste Interesse daran. Schließlich konnte ich nichts beweisen. Nicht, dass Hartmut jedesmal am Tatort gewesen war, noch irgendetwas anderes. Rehfeld würde mir nicht einmal zuhören.

Ich fragte mich, was ich mit Hartmut überhaupt machen würde, falls er jetzt ein Geständnis ablegte. Nichts. Es gab nichts, was ich tun konnte.

Irgendwie hatte mich die Schnapsidee vorangetrieben, dass die Wahrheit mir nutzen konnte. Inzwischen war ich mir da nicht mehr völlig sicher.

"Ich habe die beiden nicht umgebracht."

"Ich zähle einfach zwei und zwei zusammen, und es kommt immer dasselbe raus!"

"Ich glaube nicht, dass es dir um deine toten Freunde geht!", behauptete er dann und trat einen Schritt seitwärts.

"Ach, nein?"

"Nein. Ich wette, dass du auch nur so ein mieser Abzocker bist."

"Wie Lammers!"

"... und diese Schlampe, die versucht hat, große Dame zu spielen!"

Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich hatte ins Schwarze getroffen, so schien es.

Ich überlegte fieberhaft, wie ich jetzt weiter vorgehen musste. Nur zu gerne hätte ich gewusst, womit Lammers und die Friedrichs Hartmut erpresst hatten. Aber wenn ich ihn jetzt fragte, dann wusste er, dass ich in Wahrheit wie jener bestimmte Kaiser mit seinen neuen Kleidern vor ihm stand − nämlich nackt. Ich wusste nichts.

Er machte noch einen Schritt zur Seite, war nun nur noch eine Handbreit von der Garderobe entfernt, an der ein schmuddeliger Parka, eine Damenjacke aus hochwertigem Kunststoff und eine Hundeleine hingen.

Er wirkte nervös. Auf seiner Stirn glänzte ein wenig Schweiß, obwohl die Besitzerin dieser Wohnung meinem Temperaturempfinden nach allzu sehr zum Energiesparen neigte.

"Du willst Geld, schätze ich richtig?", flüsterte er.

Ein schneller Blick ging dabei zu jener Tür, hinter der die Rothaarige verschwunden war.

Ich machte ein unbestimmtes Gesicht. "Nun ..."

"Die ganzen fünftausend?"

"Ist denn davon noch etwas da?"

"Sicher."

Ich zuckte mit den Schultern. "Ein bisschen wenig für zwei Menschenleben!"

"Ich habe die beiden nicht umgebracht!"

"Und was hattest du dann bei Lammers Wohnung zu suchen?"

"Ich war zufällig dort!"

"Und das soll dir jemand glauben?"

"Es ist die Wahrheit."

"Kommt drauf an, ob die Polizei es auch dafür hält!"

"Das wird sie schon, denn für die Zeit davor habe ich ein einwandfreies Alibi. Als ich in der Nähe von Lammers Wohnung auftauchte, kam ich gerade von meinem Therapeuten. Und der wird das jederzeit bestätigen, wenn es sein muss! Der Mann heißt Dr. Dörkheim."

Das Schild dieses Dr. Dörkheim hatte ich schon mal gesehen. Die Praxis lag ganz in der Nähe meiner Wohnung, vielleicht fünf Minuten entfernt.

Vielleicht war es doch die Wahrheit. Oder geschickt gelogen.

Wenn es der Wahrheit entsprach, dann handelte es sich wirklich um ein wasserdichtes Alibi. Aber es war eins, dass ich nicht überprüfen konnte, weil Hartmut Wernecks Therapeut den Teufel tun würde, mir zu sagen, ob und wann einer seiner Patienten bei ihm gewesen war. Der einzige, der das überprüfen konnte, war Rehfeld, aber der wiederum würde mir diesen Gefallen kaum tun.

"Und Annette Friedrichs?"

"Hör zu, du bekommst dein Geld und damit basta, klar?"

"Nein, so einfach ist das nicht!" Ich kam einen Schritt näher. "Sie hat die Erpressung fortgesetzt, nehme ich an. Sie wollte weiter kassieren, und deshalb hast du sie aufgespürt. Die Sache sollte ein Ende haben!"

"Nein!", schrie er. "Nein!"

Und dann hielt er mir auf einmal einen Revolver entgegen, den er blitzschnell aus dem Parka herausgerissen hatte. Nach und nach hatte er sich an die Garderobe herangepirscht, und ich war einfach zu blöd gewesen, um zu bemerken, was gespielt wurde.

Aber wer rechnete auch mit so etwas?

Nicht einmal ein Westernautor, dessen Romane nur so nach Pulverdampf riechen!

Er spannte den Hahn, und es machte wirklich klick!, so wie ich das in meinen Stories immer behauptete. Und das flaue Gefühl in der Magengegend, das man bekommt, wenn man in eine blanke Revolvermündung blickt, war auch echt.

Hartmut packte die Waffe mit beiden Händen und hielt sie in Höhe meines Kopfes. Unglücklicherweise zitterten seine Hände auch noch.

"Schön ruhig!", zischte Hartmut und nahm den Parka vom Haken.

Jake McCord griff zur Hüfte und riss blitzartig den Peacemaker heraus.

Sein Gegenüber hatte noch nicht einmal den Finger krumm gemacht, da hatte McCord schon geschossen.

Sein Gegner schrie auf, als ihm die Kugel in den Arm fuhr. Die Wucht des Geschosses riss ihn herum. Er wollte den Revolver noch einmal hochreißen, aber der Arm gehorchte ihm nicht mehr. Und als er in McCords ruhige, dunkle Augen sah, da wusste er, dass keinen Sinn mehr hatte.

"Du kannst froh sein, an einen guten Schützen geraten zu sein und nicht an einen Stümper!", knurrte McCord düster. "Sonst wärst du jetzt nicht mehr am Leben!"

Ich stand wie angewurzelt da und tat gar nichts, während sich Hartmut an mir vorbeischlich. Er hatte zwar die Waffe, aber ich hatte fast den Eindruck, dass er trotzdem nicht weniger Angst hatte als ich.

"Bleib, wo du bist, oder ich blas‘ dich um, hörst du!"

Es war wieder dieselbe Panik in seinen Augen wie bei unserer ersten, flüchtigen Begegnung.

Ich nickte leicht. Aber ich hütete mich, irgendetwas zu sagen. Irgendwie erschien mir mein Gegenüber im Moment einer guten Portion Nitroglycerin zu gleichen, die schon explodieren konnte, wenn man sie streng ansah.

Er machte die Tür auf und stürzte hinaus, als ob der Teufel hinter ihm her sei.

Ich hörte mich selbst ausatmen, als er weg war. Auf meiner Stirn stand inzwischen auch Schweiß.

Draußen hörte ich jemanden einen Wagen starten und mit aufbrausendem Motor davonfahren.